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  • 04.05.2023 · IWW-Abrufnummer 235057

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 22.11.2022 – 15 K 1593/21 U, AO

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Münster

     
    Tenor:

    Die Klage wird abgewiesen.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

    Tatbestand:

    1
    Die Beteiligten streiten in formaler Hinsicht über die rechtzeitige Erhebung der Klage gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen 2014 und 2015 sowie die Zinsfestsetzungen zur Umsatzsteuer 2014 und 2015 und materiell über das Vorliegen der Voraussetzungen von innergemeinschaftlichen Lieferungen und Dreiecksgeschäften, die Steuerbarkeit einzelner Lieferungen und den Umfang des Vorsteuerabzuges.

    2
    Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die einen Vertrieb und Handel mit mobiler Technik in I betreibt.

    3
    Für das Jahr 2014 meldete die Klägerin mit Umsatzsteuererklärung vom 20.4.2016 eine festzusetzende Umsatzsteuer i.H. von 351,65 € an und ermittelte auf Grund geleisteter Vorauszahlungen i.H. von 2.161,14 € einen Erstattungsanspruch zu ihren Gunsten i.H. von 1.809,49 €. Der Beklagte stimmte der Steueranmeldung mit Abrechnung vom 10.8.2016 zu und setzte zugleich mit Bescheid vom 10.8.2016 Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 i.H. von -36,00 € fest. Mit Umsatzsteuererklärung vom 1.3.2017 meldete die Klägerin eine Umsatzsteuer für 2015 i.H. von 11.658,76 € an und ermittelte auf Grund der geleisteten Vorauszahlungen eine verbleibende Steuerschuld i.H. von 470,25 €.

    4
    Beginnend im März 2019 führte das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung I eine Außenprüfung bei der Klägerin durch. In ihrem Bericht vom 16.8.2019, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, stellte die Prüferin unter anderem fest, dass zahlreiche angeforderte Rechnungsbelege und Unterlagen nicht vorgelegt worden seien. Es könne daher nicht festgestellt werden, ob die Voraussetzungen eines steuerfreien innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts (Prüferanfragen 01 und 03) und steuerfreier innergemeinschaftlicher Lieferungen (Prüferanfrage 02) vorlägen. Ebenso wenig könne der Lieferort für diejenigen Lieferungen überprüft werden, für die die Klägerin einen Lieferort im Ausland erklärt habe (Prüferanfragen 11 und 12). Für einen Betrag i.H. von 304,00 € habe die Klägerin die für einen Vorsteuerabzug erforderlichen Belege nicht beigebracht (Prüferanfrage 17).

    5
    Mit Bescheiden vom 1.12.2020 setzte der Beklagte entsprechend den Feststellungen der Außenprüfung die Umsatzsteuer für das Jahr 2014 auf 760.837,10 € und für das Jahr 2015 auf 22.631,45 € fest und hob den Vorbehalt der Nachprüfung jeweils auf. Zugleich setzte der Beklagte mit Bescheiden vom selben Tag Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 i.H. von 197.681,00 € und zur Umsatzsteuer 2015 i.H. von 2.190,00 € fest. Die Berechnung der Zinsen erfolgte auf der Grundlage einer ursprünglich geplanten Bekanntgabe der Bescheide zum 13.8.2020. Die Festsetzung erfolgte hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes vorläufig.

    6
    Die Klägerin legte am 21.12.2020 Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2014 und 2015 ein. Am 5.1.2021 änderte der Beklagte die Zinsfestsetzungen und setzte nunmehr entsprechend der zum 4.12.2020 erfolgten Bekanntgabe der Umsatzsteuerfestsetzungen Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 i.H. von 212.890,00 € und zur Umsatzsteuer 2015 i.H. von 2.409,00 € fest. Hiergegen legte die Klägerin am 25.1.2021 jeweils Einspruch ein.

    7
    Nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 18.1.2021 um Übersendung der Prüfungsanfragen gebeten hatte, um die Einsprüche begründen zu können, kam der Beklagte dieser Bitte nach und forderte die Klägerin zur Begründung der Einsprüche nach antragsgemäß gewährter Fristverlängerung bis zum 30.4.2021 auf.

    8
    Mit Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 wies der Beklagte die Einsprüche gegen die Umsatzsteuer 2014 und 2015 und gegen die Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 und 2015 jeweils unter Aufrechterhaltung der in den zugrundeliegenden Bescheiden enthaltenen Vorläufigkeitsvermerke als unbegründet zurück. Die Klägerin habe die Einsprüche nicht begründet, Rechtsfehler seien bei der von Amts wegen vorzunehmenden Überprüfung nicht zutage getreten. Die Einspruchsentscheidungen wurden der damaligen steuerlich Bevollmächtigten der Klägerin, der G Steuerberatungsgesellschaft mbH, A-Str. 83, 00000 F, mit Postzustellungsurkunde zugestellt. Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 wurden die beiden Schriftstücke zusammen in einem Umschlag, nachdem eine Übergabe nicht möglich war, an diesem Tage in den zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. Die steuerlich Bevollmächtigte der Klägerin hat die Einspruchsentscheidung vom 11.5.2021 betreffend die Umsatzsteuer 2014 und 2015 mit einem auf den 17.5.2021 datierenden Eingangsstempel versehen.

    9
    Am 17.6.2021 hat die Klägerin, zu diesem Zeitpunkt noch vertreten durch die G Steuerberatungsgesellschaft mbH, Klage erhoben. Die Klägerin ist der Ansicht, die angegriffenen Bescheide seien im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht bereits bestandskräftig gewesen. Die Einspruchsentscheidung sei ausweislich des Posteingangsstempels am 17.5.2021 zugegangen. Die Postzustellungsurkunde sei sachlich unrichtig. Ihr sei auch Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren. Das Büro der G Steuerberatungsgesellschaft mbH sei am 14.5.2021 ausweislich der kanzleiinternen Zeiterfassung in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr durchgehend besetzt gewesen. Als erster Mitarbeiter sei Herr L um 07:00 Uhr vor Ort eingetroffen, als letzte Mitarbeiterin habe Frau H ‒ die ab 09:30 Uhr ununterbrochen im Büro gewesen sei ‒ gegen 19:00 Uhr die Kanzleiräume verlassen. Im Tagesverlauf seien daneben Herr A (ab 07:50 Uhr), Herr R (ab 08:15 Uhr), Herr T (ab 08:25 Uhr), Herr C (ab 08:40 Uhr) und Frau N (ab 09:30 Uhr) anwesend gewesen. Die Klingelanlage mit der bereits an der zur Straße gelegenen Hauswand vorhandenen Klingel sowie den weiteren Klingeln sei so laut, dass sie in jedem Büro der G Steuerberatungsgesellschaft mbH zu hören sei. Die Klingelglocke befinde sich an der Eingangstür. Während der gesamten Zeit am 14.5.2021 habe es kein Klingeln gegeben, das unbeantwortet oder ignoriert geblieben wäre. Auch habe es kein Klingeln gegeben, bei dem keine Person erschienen sei. Insbesondere das Büro von Frau H befinde sich circa zwei bis fünf Meter von der Glocke entfernt. Insoweit sei zu betonen, dass am 14.5.2021 mit Ausnahme der Eingangstüre und der Türen der Toiletten noch keine Bürotüren eingebaut gewesen seien. Diese seien erst am 26.5.2021 geliefert worden. Eine persönliche Zustellung am 14.5.2021 sei damit zwischen 7:00 Uhr und 19:00 Uhr möglich gewesen, jedoch nicht unternommen worden. Die Briefkästen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH seien am 14.5.2021 zudem gegen 11:30 Uhr und zwischen 13:30 Uhr und 14:00 Uhr geleert worden, ohne dass die Einspruchsentscheidungen von Herrn C vorgefunden worden wären. Eine Zustellung vor 7:00 Uhr sei unzulässig, eine Zustellung nach 19:00 Uhr wäre außerhalb der gewöhnlichen Geschäftszeiten erfolgt und damit nicht vor dem 17.5.2021 als erfolgt anzusehen. Mangels Angabe einer Uhrzeit in der Postzustellungsurkunde sei der Vorgang nicht weitergehend nachvollziehbar.

    10
    Nach der Kanzleiorganisation erfolge die Postbearbeitung dergestalt, dass die Briefpost nach der Leerung des Briefkastens geöffnet und mit dem Datumsstempel versehen werde. Die Post werde sodann der Kanzleileitung zur Sichtung vorgelegt und im Anschluss in DATEV DMS gescannt und an die Sachbearbeiter verfügt. Die Original-Schriftstücke würden in die persönlichen Postfächer gelegt. Bei Zustellungen würden die Briefumschläge stets zu dem Original-Schriftstück geheftet. Bei einfachen Briefen werde auf das Datum des Poststempels geachtet. Bei einer verlängerten Postlaufzeit werde dies vermerkt und der Briefumschlag ebenfalls vorgelegt. Die Bedeutung der ordnungsgemäßen Post- und Fristenerfassung sei allen Kanzleimitarbeitern bekannt und funktioniere sehr zuverlässig. Im Zeitraum vom 14.5.2021 bis 18.5.2021 sei der langjährige Mitarbeiter und berufserfahrene Steuerfachangestellte Herr L mit der Post- und Fristenerfassung betraut gewesen. Die Einspruchsentscheidung sei mit einem Posteingangsstempel vom 17.5.2021 versehen worden. Das Schreiben sei ohne den dazugehörigen Umschlag am Vormittag des 18.5.2021 in DATEV DMS durch die Mitarbeiterin Frau O eingepflegt worden. Die Frist sei ausgehend vom Eingangsstempel auf den 17.6.2021 notiert worden. Der Einspruchsentscheidung sei kein Vermerk über die Art der Zustellung zu entnehmen gewesen. Es habe damit kein Anlass bestanden, das Eingangsdatum zu hinterfragen.

    11
    In der Sache seien die im Rahmen der Außenprüfung erforderlichen Unterlagen spätestens im Klageverfahren eingereicht worden. Mit diesen Unterlagen seien die Voraussetzungen steuerfreier innergemeinschaftlicher Dreiecksgeschäfte und innergemeinschaftlicher Lieferungen nachgewiesen. Ebenso ergebe sich aus den Unterlagen, in welchen Fällen der Lieferort nicht im Inland belegen sei. Die für einen Vorsteuerabzug erforderlichen Nachweise seien vorgelegt worden.

    12
    Die Klägerin beantragt,

    13
    die Umsatzsteuerbescheide 2014 und 2015 vom 1.12.2020 und die Bescheide über Zinsen zur Umsatzsteuer 2014 und 2015 vom 5.1.2021, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021, aufzuheben

    14
    hilfsweise für den Unterliegensfall,

    15
    die Revision zuzulassen.

    16
    Der Beklagte beantragt,

    17
    die Klage abzuweisen,

    18
    hilfsweise für den Unterliegensfall,

    19
    die Revision zuzulassen.

    20
    Die seitens der Klägerin im Verwaltungsverfahren vorgelegten Rechnungen ließen nicht sämtliche erforderlichen Angaben erkennen, beispielsweise fehle es an erforderlichen Unterschriften und Firmenstempeln. Soweit Belege für die Gewährung eines Vorsteuerabzugs eingereicht worden seien, genügten diese nicht den Grundsätzen einer ordnungsmäßigen DV-gestützten Buchführung und den Grundsätzen zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen.

    21
    Der Berichterstatter hat die Klägerin mit Verfügung vom 17.5.2022, dem Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 20.5.2022, nach § 79b Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung aufgefordert, innerhalb von vier Wochen diejenigen Tatsachen anzugeben, aus denen sich die behauptete sachliche Unrichtigkeit der Angaben in der Postzustellungsurkunde ergebe und Beweismittel für diese Tatsachen zu bezeichnen. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass und unter welchen Voraussetzungen das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der Frist eingingen, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne. Die Frist ist vom Berichterstatter mit Verfügung vom 17.6.2022 bis zum 24.6.2022 verlängert worden. Die Klägerin hat mit Schriftsätzen vom 17.6.2022, 20.6.2022, 22.6.2022, 23.6.2022 und 24.6.2022 Stellung genommen, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird.

    22
    Der Senat hat in der Sache am 22.11.2022 mündlich verhandelt und als Zeugen die derzeitigen und ehemaligen Mitarbeiter der G Steuerberatungsgesellschaft mbH   N, Rechtsanwältin H, Steuerberaterin S, A, C, L und R vernommen. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

    23
    Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe:

    24
    A. Die Klage ist unzulässig. Nach § 47 Abs. 1 FGO ist die Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu erheben. Die am 17.6.2021 erhobene Klage vermochte diese Klagefrist jedoch nicht zu wahren, da die Klagefrist am 15.5.2021 (Samstag) zu laufen begann und mit Ablauf des 14.6.2021 (Montag) endete, §§ 47 Abs. 1 Satz 1 , 54 Abs. 1 FGO, § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) (dazu nachfolgend unter I.). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zu gewähren (II.).

    25
    I. Die Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 sind gemäß § 122 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) in Verbindung mit § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes (VwZG) mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Nach dieser Urkunde sind die Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 am 14.5.2021 im Wege der Ersatzzustellung nach § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG in Verbindung mit § 180 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) durch Einlegen der Schriftstücke in einen zu dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten zugestellt worden, nachdem eine Übergabe in den Geschäftsräumen an eine dort beschäftigte Person nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO nicht erfolgen konnte.

    26
    1. Die Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 erbringt den vollen Beweis über den vorgenannten Zustellvorgang. Nach §§ 182 Abs. 1, 418 ZPO wird der Zustellvorgang durch eine ordnungsgemäß errichtete Postzustellungsurkunde bewiesen. Gemäß § 182 Abs. 2 ZPO muss die Postzustellungsurkunde zu ihrer wirksamen Errichtung bestimmte, dort abschließend genannte Angaben enthalten. Die Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 ist ordnungsgemäß errichtet worden. Sie lässt keine Errichtungsmängel erkennen und enthält sämtliche nach § 182 Abs. 2 ZPO erforderlichen Angaben. Soweit der Bevollmächtigte der Klägerin hervorhebt, die Uhrzeit der Zustellung werde in der Postzustellungsurkunde nicht genannt, war diese Angabe nach § 182 Abs. 2 Nr. 7 a. E. ZPO entbehrlich. Die Angabe der Uhrzeit der Zustellung ist hiernach nur auf Anordnung der Behörde notwendig, § 3 Abs. 1 VwZG. Eine solche Anordnung traf der Beklagte ausweislich der Ziff. 1.11 der Postzustellungsurkunde vom 14.5.2021 nicht.

    27
    2. Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässige Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache ist im Streitfall nicht zur Überzeugungsgewissheit des erkennenden Senats geführt worden.

    28
    Hiernach muss derjenige, der sich auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung beruft, den Nachweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs erbringen, sodass ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt sind. Dieser Gegenbeweis kann gemäß § 418 Abs. 2 ZPO mit Beweismitteln jeder Art und auch durch die Aussage von Zeugen geführt werden. Dabei sind an den Gegenbeweis i.S. des § 418 Abs. 2 ZPO strenge, jedoch keine überspannten Anforderungen zu stellen. Die Beweiswirkung der Postzustellungsurkunde muss vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass die Angabe in der Urkunde richtig sein können. Soweit die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde aus Hilfstatsachen folgen soll, ist der Gegenbeweis jedoch nicht erst erbracht, wenn die zur Überzeugungsgewissheit festgestellten Hilfstatsachen den zwingenden Schluss zulassen und erfordern, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet wurde. Vielmehr ist in einer umfassenden Würdigung die Beweiskraft der Zustellungsurkunde der Beweiskraft der Gegenbeweismittel gegenüberzustellen und beide sind unter inhaltlicher Auseinandersetzung mit den zum Gegenbeweis angebotenen Beweismitteln und der von ihnen ausgehenden Überzeugungskraft gegeneinander abzuwägen. Der Gegenbeweis ist in diesem Sinne erbracht, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme über die Tatsachenbehauptungen des Zustellungsempfängers, wonach der Zustellungsvorgang falsch beurkundet worden sei, diesen Behauptungen bei der Beweiswürdigung mehr Glauben zu schenken ist als der Zustellungsurkunde und insoweit zur Überzeugungsgewissheit des erkennenden Senats feststeht, dass die Postzustellungsurkunde im Hinblick auf die festgestellten Umstände unrichtig errichtet wurde (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 23.11.2016 IV B 39/16, BFH/NV 2017, 333; BFH-Urteil vom 28.7.2015 VIII R 50/13, juris; BFH-Beschlüsse vom 4.7.2008 IV R 78/05, BFH/NV 2008, 1860; vom 31.8.2000 VII B 181/00, BFH/NV 2001, 318, vom 11.6.1997 XI B 177/96, BFH/NV 1997, 819; vom 24.5.1993 V B 33/93, BFH/NV 1994, 133; vom 15.1986 VIII B 30/86, BFH/NV 1987, 44, m.w.N.).

    29
    Im Streitfall ist aus Sicht des erkennenden Senats nicht zur Überzeugungsgewissheit festzustellen, dass die Postzustellungsurkunde in Bezug auf den dokumentierten Versuch einer persönlichen Zustellung und einer Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO unrichtig errichtet wurde. Dass der Postzusteller bei der Vornahme der Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in einen der zu den Kanzleiräumen gehörenden Briefkasten beobachtet worden wäre, ohne zuvor eine persönliche Zustellung oder eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO zu versuchen, und infolge dessen ‒ oder auf Grund vergleichbarer Umstände ‒ die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde unmittelbar festzustellen wäre, wird weder von der Klägerin noch von einem der in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 vernommenen Zeugen behauptet. Vielmehr möchte die Klägerin die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde daraus ableiten, dass ein am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr vom Postzusteller unternommener Zustellversuch bei der G Steuerberatungsgesellschaft mbH ausnahmslos erfolgreich gewesen wäre, weil bei Betätigung der Klingelanlage dem Postzusteller geöffnet worden wäre und er in den Räumen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH die Einspruchsentscheidung einer zum Empfang berechtigten Person hätte übergeben können. Dem vermag sich der erkennende Senat jedoch nicht anzuschließen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme ist nämlich bereits nicht ‒ wie es insoweit erforderlich wäre ‒ festzustellen, dass in dem von der Klägerin genannten Zeitraum sichergestellt war, dass dem Postzusteller auf eine einmalige Betätigung der Klingel hin tatsächlich hinreichend schnell die Tür geöffnet worden und infolgedessen ein unternommener persönlicher Zustellversuch erfolgreich gewesen wäre (dazu unter a)). Auch aus dem Vorbringen des Zeugen C, dass sich die Einspruchsentscheidungen des Beklagten nicht am 14.5.2021 in den Briefkästen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH befunden haben sollen, folgt nicht, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet wurde (dazu unter b)).

    30
    a) aa) Entscheidend für ein die Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in den Briefkasten eröffnendes Fehlschlagen der gemäß §§ 180 Satz 1, 178 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 ZPO vorrangig durchzuführenden persönlichen Zustellung und der Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO ist, dass der Postzusteller aus seiner Sicht bei pflichtgemäßer Durchführung der vom Gesetz vorgeschriebenen Förmlichkeiten der Zustellung die vorrangigen Formen der Zustellung tatsächlich nicht durchführen kann (vgl. Schultzky in Zöller, § 178 ZPO Rn. 2). Diese verlangen vom Postzusteller keine mehrfache Betätigung der Klingelanlage. Ebenso wenig ist der Postzusteller verpflichtet, einen die gewöhnlich zu erwartende Zeitspanne überdauernden, längeren Zeitraum auf ein Öffnen der Tür zu warten. Wird dem Postzusteller auf eine einmalige Betätigung der Klingelanlage hin nicht hinreichend schnell und für ihn ersichtlich die Tür geöffnet, so trifft er zwangsläufig weder den Zustellungsadressaten noch eine zum Empfang berechtigte Person im Sinne des § 178 ZPO tatsächlich an und die Voraussetzungen einer Ersatzzustellung nach § 180 ZPO sind eröffnet. Ob zu diesem Zeitpunkt der Zustellungsadressat oder eine zum Empfang berechtigte Person in den jeweiligen Räumlichkeiten tatsächlich anwesend gewesen ist, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können, ist unerheblich.

    31
    bb) Dem Vorbringen der Zeugen zu den Vorgängen am 14.5.2021 kann der erkennende Senat nicht entnehmen, dass dem Postzusteller am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr auf ein einmaliges Klingeln hin hinreichend schnell geöffnet worden wäre.

    32
    Zwar erklärte die Zeugin H, sie könne sich nicht erinnern, dass auf ein Klingen, das die Zeugin als sehr penetrant beschreibt, hin nicht reagiert worden sei, führte der Zeuge A aus, er könne nicht sagen, dass jemand geklingelt und niemand aufgemacht habe, und erklärte der Zeuge R, er könne sich nicht konkret erinnern, dass jemand bei der G Steuerberatungsgesellschaft mbH versehentlich geklingelt und nicht zu ihr gewollt habe, wobei man das Klingeln durchaus auch im Souterrain mitbekommen habe. Diesem Vorbringen vermag der erkennende Senat aber nach dem von den Zeugen in der mündlichen Verhandlung jeweils gewonnenen persönlichen Eindruck unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen der Zeugen nicht zu entnehmen, dass dem Postzusteller, wenn er denn die Klingelanlage betätigt hätte, auch tatsächlich schnell geöffnet worden wäre. Die Zeugen bleiben nämlich ‒ auch unter Berücksichtigung der Bedeutung der hier fraglichen Ereignisse ‒ eine hinreichend detaillierte und insgesamt lebensnahe Schilderung der tatsächlichen Abläufe am 14.5.2021 schuldig. So erklärte der Zeuge A, für ihn seien alle Tage gleich gewesen, an den 14.5.2021 könne er sich nicht erinnern. Der Zeuge R erklärte auf Befragen nach den konkreten Vorkommnissen am 14.5.2021 nur, er wisse weder, wie häufig am 14.5.2021 geklingelt worden sei, noch wer, wie, was an diesem Tage geschickt oder bearbeitet habe, um sodann ausweichend und losgelöst vom 14.5.2021 nur allgemein zu seiner Arbeit und den Abläufen in der Kanzlei vorzutragen. Auch die Zeugin H betonte zunächst, dass der 14.5.2021 ein normaler Arbeitstag gewesen sei, und vermochte sich im weiteren Verlauf nur punktuell an Einzelheiten des 14.5.2021 zu erinnern, nämlich dass sie für die im Urlaub befindliche Zeugin S einen dort von der Zeugin S gewonnenen Mandaten in der Kanzleisoftware erfassen und für diesen eine Vollmacht vorbereiten sollte und sie an diesem Tag einen Mandantentermin wahrgenommen habe. Zudem musste die Zeugin auf Nachfrage eingestehen, dass sie sich entgegen anfänglicher Behauptungen nicht sicher daran erinnern könne, ob sie das Büro zwischenzeitlich verlassen habe, sondern dergleichen nur aus der Zeiterfassung geschlossen habe. Dies streitet auch im Übrigen gegen die Glaubhaftigkeit der vermeintlichen Erinnerungen der Zeugin zu etwaigen konkreten Ereignissen am 14.5.2021.

    33
    Die weiteren Zeugen, soweit sie nicht ‒ wie die Zeugin S ‒ an diesem Tag ohnehin ortsabwesend waren, blieben ebenfalls eine detaillierte, nachvollziehbare und insgesamt lebensnahe Schilderung der Ereignisse dieses Tages schuldig. Sie konnten auf Befragen letztlich nur ausführen, dass sie keine konkrete Erinnerung an die Ereignisse dieses Tages hätten. Dagegen vermochten sie insbesondere nicht ‒ wie es erforderlich gewesen wäre ‒ darzulegen, wie häufig an diesem Tag geklingelt wurde und dass bei jedem Klingeln tatsächlich die Tür geöffnet wurde oder ein Öffnen der Tür auf Grund der konkreten Geschehnisse an diesem Tag jedenfalls sichergestellt war. In diesem Sinne führte der Zeuge L nur aus, er könne nicht sagen, wie oft am 14.5.2021 geklingelt worden sei oder ob an diesem Tag Personen mehrfach Klingeln mussten, um eingelassen zu werden. Er habe die Klingel zudem nur bedient und die Tür geöffnet, wenn er gewusst habe, dass sich im oberen Bereich des Büros niemand mehr befunden habe, er selbst gerade oben gewesen oder ein zweites oder drittes Mal geklingelt worden sei. Die Zeugin N erklärte, sie könne speziell zum 14.5.2021 keinerlei Angaben machen. Es war ihr lediglich möglich, zu den allgemeinen Abläufen in der Kanzlei (dazu unter cc)) vorzutragen. Auch der Zeuge C konnte konkret zum 14.5.2021 nur ausführen, dass es sich um einen ganz normalen Bürotag gehandelt habe und er sich nicht mehr daran erinnern könne, wie oft an diesem Vormittag geklingelt worden sei. Es sei nicht häufig gewesen. Das Klingeln sei wegen der seinerzeit fehlenden Bürotüren in allen Räumen jedoch gut zu hören bzw. recht laut gewesen.

    34
    cc) Ebenso wenig ist den weiteren Ausführungen der Zeugen insbesondere zu den allgemeinen Arbeitsabläufen zu entnehmen, dass nach den tatsächlichen Arbeitsabläufen sichergestellt war, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet worden wäre.

    35
    Der Zeuge C erklärte hierzu nur, dergleichen sei „normalerweise“ der Fall. Es habe seinerzeit auch Praktikanten gegeben, die in einem zum Flur hin offenen Raum gesessen hätten. Auch habe ein Praktikant oder Lehrling am Sekretariatsarbeitsplatz gesessen, wenn die Sekretärin nicht dort gewesen sei. Wenn es geklingelt habe, habe sich auch jeder angesprochen gefühlt. Die Klingel sei recht laut gewesen. Dies genügt aus Sicht des erkennenden Senats jedoch nicht, um darzulegen, dass eine Öffnung der Tür zeitnah zum Klingeln in jedem Fall tatsächlich sichergestellt war. Unabhängig hiervon blieb der Zeuge auch eine weitergehende Substantiierung seines Vorbringens und eine lebensnahe Schilderung derjenigen tatsächlichen Umstände schuldig, die gewährleisten sollten, dass die Tür normalerweise schnell geöffnet wurde.

    36
    Auch die Zeugen N und A blieben eine substantiierte, detailreiche und lebensnahe Schilderung derartiger tatsächliche Arbeitsabläufe schuldig. Das Vorbringen der Zeugin N erschöpfte sich darin, dass auch sie an Freitagen die Tür und den Buzzer bedient habe, wenn es geklingelt habe. Ebenso habe sie an anderen Tagen die Tür bedient, wenn sie die Türklingel gehört habe. Die Praktikanten seien jedoch nicht speziell hierfür zuständig gewesen. Jeder habe die Türklingel bedient, wenn er sie gehört habe. Der Zeuge A erklärte ebenso nur, es sei seine Aufgabe gewesen, die Klingel zu bedienen, wenn das Sekretariat nicht besetzt gewesen sei. Das habe er dann auch gemacht. Er habe selbst nie im Sekretariat gesessen, sondern in dem rechten unteren Zimmer, in der Nähe der Klingel. Er könne nicht sagen, dass geklingelt worden sei und niemand aufgemacht habe.

    37
    Die Zeugen H, R, L und S trugen schließlich in verschiedener Form selbst Sachverhalte vor, aus denen folgt, dass ein schnelles Öffnen der Tür auf ein erstmaliges Klingeln hin gerade nicht gewährleistet war. So führte die Zeugin H im Zuge ihrer Zeugenvernehmung aus, dass die Zeugin S durchaus verärgert gewesen sei, wenn nicht sofort auf ein Türklingeln hin ‒ das sehr penetrant gewesen sei ‒ reagiert worden sei, weshalb sie in solchen Fällen selbst zur Tür gegangen sei. Ebenso ‒ wie die Zeugin in diesem Zusammenhang betonte ‒ sei es durchaus vorgekommen, dass auch sie selbst die Tür aufgemacht, Pakete angenommen oder im Flur geschaut habe, wer dort geklingelt und vor der Tür gestanden habe. Auch der Zeuge R erklärte im Zuge seines Vorbringens, er könne Frau S noch „schreien“ hören, dass sich einer um die Klingel ‒ die man durchaus mitbekommen habe ‒ kümmern möge, wenn sie einmal da gewesen sei. Der Zeuge L wiederum führte aus, er habe zwar die Klingel bedient, wenn er noch alleine gewesen sei. Er sei dann jeweils aus dem Souterrain nach oben zur Klingelanlage gegangen. Im Laufe des Tages jedoch, habe er die Klingel nur bedient, wenn er oben gewesen sei oder er gehört habe, dass ein zweites oder drittes Mal geklingelt worden sei. Dann sei er hochgelaufen und habe die Klingel bedient. Das könne schon passieren. In diesem Sinne betonte die Zeugin S, dass sie recht verärgert gewesen und laut geworden sei, wenn ein Mandant das zweite Mal habe klingeln müssen, bevor die Klingelanlage bedient worden sei. Sie gehe ggf. selbst zur Tür, wenn ein Mandant das zweite Mal habe klingeln müssen, und habe die Mitarbeiter angehalten, auf das erste Türklingeln zu reagieren. Sie selbst und die Zeugin H hätten aber auch bei Bedarf die Tür geöffnet.

    38
    dd) Soweit die Klägerin darüber hinaus mit Schriftsatz vom 17.6.2022 Lichtbilder sowie einen Grundriss der Räumlichkeiten der G Steuerberatungsgesellschaft mbH vorgelegt hat, folgt hieraus nichts anderes. Den gefertigten Lichtbildern und dem Grundriss vermag der erkennende Senat nur die Lage der Räumlichkeiten zu entnehmen. Hieraus folgt jedoch auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Zeugen (dazu bereits unter bb) und cc)) nicht, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr sichergestellt gewesen ist, dass die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet wurde.

    39
    ee) Einer weiteren Beweiserhebung zu der Behauptung, dass am 14.5.2021 in der Zeit von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr sichergestellt gewesen ist, dass die Tür nach erstmaliger Betätigung der Klingel tatsächlich hinreichend schnell geöffnet worden wäre, bedurfte es im Streitfall nicht.

    40
    Eine Einvernahme des zur mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 als Zeugen geladenen jedoch nicht erschienenen T war entbehrlich. Die Klägerin hat auf die Einvernahme in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 ausdrücklich verzichtet.

    41
    Dem von der Klägerin mit Schriftsatz vom 17.6.2022, Seiten 9 und 10, angebotenen Beweis durch richterlichen Augenschein der Geschäftsräume der G Steuerberatungsgesellschaft mbH war nicht nachzugehen. Die Lage der Räumlichkeiten wird durch den Grundriss und die gefertigten Lichtbilder hinreichend belegt. Im Übrigen ist nicht zu erkennen, welcher weitergehende Beweiswert einer Inaugenscheinnahme der Geschäftsräume der G Steuerberatungsgesellschaft mbH zukommen soll. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang noch auf die Wahrnehmung der Lautstärke der Klingel verweist, kommt es einerseits nicht darauf an, „dass die Klingelanlage so laut ist, dass ein Klingeln in jedem Büro der G zu hören ist“ (Hervorhebungen durch den Senat). Andererseits handelt es sich bei der Inaugenscheinnahme um ein untaugliches Beweismittel für die Feststellung des Zustands der Klingelanlage am 14.5.2021. Entsprechendes gilt für die zum Beweis angebotene Audioaufnahme des Läutens der Klingelanlage, die nach dem 14.5.2021 gefertigt worden ist und für die nicht sicherzustellen ist, dass die Audioaufnahme exakt in derjenigen Lautstärke wiedergegeben wird, in der das Läuten am 14.5.2021 zu vernehmen war. Schließlich vermag der erkennende Senat nach Einvernahme der Zeugen in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2022 auch gerade nicht festzustellen, dass sichergestellt war, dass auf ein derartiges Klingeln hin tatsächlich hinreichend schnell die Tür geöffnet worden wäre, sodass es auf die Lautstärke des Läutens nicht maßgeblich ankommt.

    42
    b) Die Unrichtigkeit der Postzustellungsurkunde folgt schließlich nicht aus dem Vorbringen des Zeugen C, er habe die Einspruchsentscheidungen des Beklagten nicht am 14.5.2021 in den Briefkästen der G Steuerberatungsgesellschaft mbH vorgefunden. Den entsprechenden Vortrag, er sei sich „100%ig sicher“, dass die Einspruchsentscheidungen am 14.5.2021 nicht in den meist um 11.00 Uhr und gegen 14.00 Uhr geleerten Briefkästen gelegen hätten, erachtet der erkennende Senat bereits als nicht glaubhaft. Wie bereits unter a) bb) ausgeführt, blieb der Zeuge insgesamt eine detaillierte, nachvollziehbare und lebensnahe Schilderung der Ereignisse am 14.5.2021 schuldig. Vor diesem Hintergrund vermag der erkennende Senat auch unter Berücksichtigung der Erklärung des Zeugen, er finde bei den Briefkastenleerungen am Freitag nur sehr selten Postzustellungen vor, nicht zu erkennen, weshalb sich der Zeuge gerade bei diesem Umstand für den hier fraglichen Tag sicher sein will.

    43
    Unabhängig hiervon würde aus dem Umstand, dass die Einspruchsentscheidungen nicht Teil der Eingangspost am 14.5.2021 waren, nur folgen, dass die Zustellung nicht vor der am frühen Nachmittag erfolgenden Leerung der Briefkästen erfolgt ist. Allein hieraus kann aber nicht weitergehend geschlossen werden, dass die Postzustellungsurkunde unrichtig errichtet wurde. Dies setzte voraus, dass ein Zustellversuch nach der letzten Briefkastenleerung am frühen Nachmittag ausgeschlossen werden kann. Hierfür ist ‒ auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Zeugen ‒ nichts ersichtlich.

    44
    II. Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten.

    45
    Es bedarf insoweit keiner Entscheidung durch den Senat, ob der Vortrag der vormaligen Bevollmächtigten der Klägerin überhaupt ein der Klägerin nach § 155 Satz 1 FGO, § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnendes Verschulden ausschließt und ob der erst am 6.10.2021 gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angesichts des Hinweises des Gerichts vom 14.9.2021, mit dem auf die Versäumung der Klagefrist hingewiesen wurde, binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses ausgebracht wurde, § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO.

    46
    Denn es fehlt zum einen jedenfalls an der Darlegung eines ordentlichen Ablaufs der Post- und Fristerfassung, um die Nicht- bzw. Falscherfassung der Frist tatsächlich als Büroversehen und nicht als strukturellen Organisationsmangel zu erkennen. Zum anderen ist der Vortrag der vormaligen Bevollmächtigten auch nicht vollumfänglich glaubhaft gemacht worden, wie es für einen erfolgreichen Antrag nach § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO aber erforderlich gewesen wäre. Die Klägerin macht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung lediglich glaubhaft, dass auf den Einspruchsentscheidungen vom 11.5.2021 ein Posteingangsstempel vom 17.5.2021 angebracht und der Vorgang in DATEV DMS von Frau O am 18.5.2021 erfasst wurde. Allein dies genügt für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedoch nicht. Vielmehr hätte es auch einer Glaubhaftmachung der weiteren vorgetragenen Umstände sowie der (unterlassenen) Beschreibung eines ordentlichen Ablaufs der Post- und Fristerfassung bedurft. Schließlich ist das Vorbringen der damaligen Bevollmächtigten, dem gemäß im fraglichen Zeitraum der langjährige und zuverlässige Mitarbeiter L mit der Post- und Fristenerfassung betraut gewesen sei, durch die Beweisaufnahme widerlegt. Denn der Zeuge L hat unter schlüssiger und nachvollziehbarer Darlegung seiner Aufgaben insoweit glaubhaft ausgeführt, dass er zu keinem Zeitpunkt mit der Post- und Fristenerfassung betraut gewesen ist. Anlass für Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen L bestehen aus Sicht des erkennenden Senats nicht.

    47
    B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    48
    C. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 115 Abs. 2 FGO sind nicht erkennbar.

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