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  • 08.03.2023 · IWW-Abrufnummer 234094

    Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern: Urteil vom 14.11.2022 – 1 K 21/22

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern

    Urteil vom 14.11.2022


    In dem Rechtsstreit
    ...
    - Klägerin -
    Proz.-Bev.:
    Rechtsanwalt ...
    gegen
    Bundesagentur für Arbeit
    - Beklagte -
    wegen

    Kindergeld für das Kind M. von Juni bis Oktober 2021

    hat der 1. Senat des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern ohne mündliche Verhandlung am
    14. November 2022
    durch Richterin am Finanzgericht ... als Berichterstatterin
    für Recht erkannt:

    Tenor:

    1. Der Bescheid vom ...12.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ...01.2022 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für die Klägerin für den Zeitraum Juni 2021 bis Oktober 2021 Kindergeld für das Kind M. in Höhe von monatlich je 219 € festzusetzen.
    2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
    3. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
    4. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
    5. Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Juni 2021 bis Oktober 2021. Insbesondere stellt sich die Frage, ob die Klägerin bereits in diesem Zeitraum im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) gewesen ist.

    Die Klägerin ist die Mutter des Kindes M., geb. am ...01.2012. Sie und ihr Kind besitzen die weißrussische Staatsangehörigkeit. Der leibliche Vater des Kindes lebt in Weißrussland. Die Klägerin reiste im Juni 2021 zusammen mit M. in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie verfügte dabei über ein Visum "D" für den Zeitraum 01.06.-30.11.2021. Das Visum enthielt eine Beschäftigungserlaubnis nach § 18b Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) für eine Tätigkeit im Forschungsprojekt ... bei der Firma T. GmbH am Standort D. (Blatt 31 der Kindergeldakte).

    Die Klägerin beantragte bei der Beklagten am ...07.2021 für M. ab Juni 2021 Kindergeld (Blatt 1 der Kindergeldakte).

    Am ...11.2021 erteilte der Landkreis ... der Klägerin für die Zeit vom 04.11.2021 bis 01.04.2024 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18b Abs. 1 AufenthG (Blatt 45 der Kindergeldakte).

    Mit - hier nicht streitgegenständlichem - Bescheid vom ...11.2021 setzte die Beklagte für M. ab November 2021 Kindergeld fest (Blatt 60 der Kindergeldakte). Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am ...12.2021 Einspruch ein (Blatt 65 der Kindergeldakte), den die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom ...12.2021 als unzulässig verwarf (Blatt 77 der Kindergeldakte).

    Mit weiterem - hier streitgegenständlichen - Bescheid vom ...12.2021 lehnte die Beklagte für die Monate Juni 2021 bis Oktober 2021 den Antrag auf Kindergeld ab (Blatt 72 der Kindergeldakte). Sie begründete die Entscheidung damit, dass für die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis erst seit November 2021 vorliege.

    Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am ...01.2022 Einspruch ein (Blatt 82 der Kindergeldakte). Sie verweist in ihrer Begründung auf das ihr erteilte Einreisevisum "D" mit Beschäftigungserlaubnis.

    Mit Einspruchsentscheidung vom ...01.2022 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück (Blatt 90 der Kindergeldakte). Das Visum sei kein Aufenthaltstitel im Sinne des § 62 Absatz 2 Einkommensteuergesetz (EStG). Das Visum "D" berechtige grundsätzlich nicht zu einem dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, sondern lediglich zu einer Einreise zum Zwecke eines längerfristigen Aufenthalts von längstens drei Monaten. Die später erteilte Aufenthaltserlaubnis begründe keine Rückwirkung für den Zeitraum des Aufenthalts mittels Visums "D".

    Die Klägerin hat am ...01.2022 Klage erhoben und am ...02.2022 einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) gestellt.

    Sie ist der Ansicht, dass die Beklagte irre, wenn diese davon ausgehe, dass vorliegend das Visum längstens 3 Monate gelte. Die Familienkasse übersehe dabei die Beschäftigungserlaubnis gemäß § 18b Abs. 1 AufenthG, die bereits im Mai 2021 mit dem Visum erteilt worden sei. Von einer erst später erteilten Erlaubnis könne daher keine Rede sein. Auch werde die Klägerin politisch verfolgt und sei bei Rückkehr erheblichen Gefahren ausgesetzt.

    Die Klägerin beantragt sinngemäß,

    den Bescheid vom ...12.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ...01.2022 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin auch für den Zeitraum Juni 2021 bis Oktober 2021 Kindergeld für das Kind M. zu gewähren und

    die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Sie verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt sie vor, dass in § 62 Abs. 2 EStG die anspruchsbegründenden Aufenthaltstitel aufgelistet seien. Die Aufenthaltstitel Niederlassungserlaubnis, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU, Blaue Karte EU, ICT-Karte, Mobiler-ICT-Karte oder eine Aufenthaltserlaubnis führten ggf. unter Beachtung weiterer Voraussetzungen zu einer Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 2 EStG. Der Wortlaut des § 62 Abs. 2 EStG sei eindeutig und spreche von der Aufenthaltserlaubnis, welche gesondert in § 7 AufenthG geregelt sei und mit einem Visum nicht vorliege. Sie verweist insoweit auf ein Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 23.04.2014 (6 K 277/13, juris). Für die Einreise und den Aufenthalt in der Bundesrepublik benötigten ausländische Staatsangehörige in der Regel ein Visum (nationales Visum), das bei der deutschen Auslandsvertretung (Botschaft oder Generalkonsulat) im Heimatland beantragt werden müsse. Nach der Einreise müsse eine Anmeldung bei der Meldebehörde erfolgen und innerhalb der Gültigkeitsdauer des Visums müsse rechtzeitig bei der Ausländerbehörde ein Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gestellt werden. Nach dem deutschen Aufenthaltsrecht handele es sich bei einem Visum um einen eigenständigen Aufenthaltstitel, der aber nach § 62 Abs. 2 EStG keine Anspruchsberechtigung auslöse. Dies entspreche auch der Weisungslage in der Dienstanweisung zum Kindergeld.

    Die Beteiligten haben übereinstimmend einer Entscheidung durch die Berichterstatterin anstelle des Senats und ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (Blatt 35, 40 der Gerichtsakte).

    Mit Beschluss vom ...11.2022 hat das Gericht den PKH-Antrag der Klägerin mangels Bedürftigkeit der Klägerin abgelehnt (vgl. PKH-Heft).

    Dem Gericht lagen ein Band Gerichtsakte nebst Beiheft "Prozesskostenhilfe" sowie in elektronischer Form die Kindergeldakte der Beklagten vor. Auf die wechselseitigen Schriftsätze der Beteiligten wird Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe

    I.

    Die Entscheidung ergeht gemäß §§ 79a Abs. 3 und 4, 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch die Berichterstatterin anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

    II.

    Die Klage ist begründet.

    Der angefochtene Bescheid vom ...12.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ...01.2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; die Beklagte ist verpflichtet, das Kindergeld auch für den Zeitraum Juni 2021 bis Oktober 2021 festzusetzen; die Klägerin ist für diesen Zeitraum anspruchsberechtigt (§ 101 FGO).

    Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer hat nur dann Anspruch auf Kindergeld, wenn er - zusätzlich zu den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG - die in Abs. 2 genannten Voraussetzungen erfüllt. Dahinter steht das Anliegen Deutschlands, Familienleistungen nur für diejenigen Ausländer vorzusehen, die sich voraussichtlich auf Dauer im Inland aufhalten.

    Die Klägerin ist als Mutter eines berücksichtigungsfähigen Kindes grundsätzlich nach § 62 Abs. 1 i. V. m. § 63 EStG kindergeldanspruchsberechtigt.

    Sie erfüllt als nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin mit weißrussischer Staatangehörigkeit auch die zusätzlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG.

    Nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG hat ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer Anspruch auf Kindergeld, wenn er eine Blaue Karte EU, eine ICT-Karte, eine Mobiler-ICT-Karte oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, die für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigen oder berechtigt haben oder diese erlauben, es sei denn, die Aufenthaltserlaubnis wurde

    (a) nach § 16e des AufenthG zu Ausbildungszwecken, nach § 19c Absatz 1 AufenthG zum Zweck der Beschäftigung als Au-Pair oder zum Zweck der Saisonbeschäftigung, nach § 19e AufenthG zum Zweck der Teilnahme an einem Europäischen Freiwilligendienst oder nach § 20 Absatz 1 und 2 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche erteilt,

    (b) nach § 16b AufenthG zum Zweck eines Studiums, nach § 16d AufenthG für Maßnahmen zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen oder nach § 20 Absatz 3 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche erteilt und er ist weder erwerbstätig noch nimmt er Elternzeit nach § 15 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes oder laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch in Anspruch oder

    (c) nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen eines Krieges in seinem Heimatland oder nach den § 23a oder § 25 Absatz 3 bis 5 AufenthG erteilt.

    Die Vorschrift des § 62 Abs. 2 EStG wurde durch das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12.12.2019 (BGBl. I 2019, 2451) mit Wirkung zum 01.03.2020 vollständig neu gefasst.

    Die Neufassung des Abs. 2 erfolgte vor dem Hintergrund der Änderungen im AufenthG, das durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (vom 15.08.2019, BGBl. I 2019, 1307) und das Gesetz über die Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung (vom 08.07.2019, BGBl. I 2019, 1021) neu strukturiert und ergänzt worden ist (BT-Drucks. 19/13436, 123 ff.). Die Neuregelungen knüpfen den Kindergeldanspruch an den Besitz bestimmter Aufenthaltstitel nach dem AufenthG an, die zur Erwerbstätigkeit und damit zu einem dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik berechtigen (Avvento in: Kirchhof/Seer, Einkommensteuergesetz, 21. Auflage 2022, § 62 Rn. 11 ff.).

    Die Klägerin hielt sich unstreitig bereits in den Monaten Juni bis Oktober 2021 berechtigt im Bundesgebiet auf. Sie war mit einem am ...05.2021 ausgestellten Visum ("D") gemäß § 6 Abs. 3 AufenthG (nationales Visum) im Juni 2021 eingereist. Das Visum hatte unstreitig eine Gültigkeit von 6 Monaten und berechtigte nach § 18b Abs. 1 AufenthG zur Beschäftigung im Forschungsprojekt ... bei der Firma T. GmbH am Standort D. (Blatt 31 der Kindergeldakte).

    Es trifft zwar zu, dass das nationale Visum ("D") in der Aufzählung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG namentlich nicht explizit genannt ist. Allerdings ist die Norm des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass auch ein nationales Visum ("D") nach § 6 Abs. 3 AufenthG in den Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG einzubeziehen ist, wenn es - wie vorliegend - mindestens 6 Monate gültig ist und zu einer Beschäftigung berechtigt.

    Eine verfassungskonforme Auslegung einer Norm ist immer dann geboten, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck des Gesetzes mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt. Durch den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen. Ein Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde, kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden. Eine verfassungskonforme Auslegung darf den normativen Gehalt der auszulegenden Vorschrift daher nicht grundlegend neu bestimmen, das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden (BVerfG-Beschluss vom 16.06.2009, 1 BvR 2269/07, BauR 2009, 1424).

    Vorliegend ist nach der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung davon auszugehen, dass auch ein nationales Visum ("D") nach § 6 Abs. 3 AufenthG mit einer Gültigkeit von mindestens 6 Monaten von der Regelung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG erfasst wird, wenn es - wie vorliegend - zu einer Beschäftigung in der Bundesrepublik berechtigt. In der Gesetzesbegründung für die Neuregelung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG lautet es:

    "Grundsätzlich haben ... Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis oder einen gleichgestellten Aufenthaltstitel besitzen, der für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder diese erlaubt, nach Absatz 2 Nummer 2 einen Kindergeldanspruch." (BT-Drucks. 19/13436, 124).

    Daraus folgt, dass der Gesetzgeber bei Neufassung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG wie selbstverständlich davon ausgegangen ist, dass es auch andere einer Aufenthaltserlaubnis "gleichgestellte Aufenthaltstitel" geben muss. Es ist demnach davon auszugehen, dass die Vorschrift jedenfalls keine abschließende Aufzählung der in Betracht kommenden Aufenthaltstitel beinhaltet. Es ist folglich zulässig, den Anwendungsbereich der Vorschrift über den Wortlaut hinaus im Wege einer verfassungskonformen Auslegung zu erweitern. Ein nationales Visum ("D") mit einer Geltungsdauer von mindestens 6 Monaten ist ein der Aufenthaltserlaubnis gleichgestellter Aufenthaltstitel. Denn ein derartiges Visum berechtigt für die Dauer seiner Geltung sowohl zur Einreise in das Bundesgebiet als auch zum Aufenthalt in der Bundesrepublik und - wie im Fall der Klägerin - auch zur Beschäftigung nach § 18b Abs. 1 AufenthG. Es ist insoweit einer befristet erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 7 AufenthG vergleichbar. Für dieses Auslegungsergebnis spricht auch, dass sich die Erteilung des nationalen Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT-Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften richtet. Auch wird die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts mit einem nationalen Visum nach § 6 Abs. 3 Satz 3 AufenthG auf die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis, Blauen Karte EU, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU angerechnet, was ebenfalls dafür spricht, das nationale Visum dem Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG zu unterwerfen, wenn es - wie vorliegend - die vorgenannten Kriterien erfüllt.

    Soweit sich die beklagte Familienkasse dagegen auf die Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg vom 23.04.2014 (6 K 277/13, juris) beruft, kann dem nach der Gesetzesänderung mit Wirkung zum 01.03.2020 nicht (mehr) gefolgt werden. Denn das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 23.04.2014 ist noch zur alten Rechtslage für Kindergeldzeiträume im Jahr 2010 ergangen. Diese Rechtsprechung kann daher auf die seit dem 01.03.2020 vollständig geänderte Gesetzesfassung nicht unreflektiert übertragen werden. Der Sinn und Zweck der Gesetzesänderung bestand gerade darin, die Fachkräftezuwanderung in das Bundesgebiet zu fördern und Art. 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 2011/98/EU umzusetzen (BT-Drucks. 19/13436, 123 ff.). Danach haben nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, die über eine kombinierte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verfügen, einen Anspruch auf Gleichbehandlung bezüglich der Familienleistungen (BT-Drucks. 19/13436, 124). Dieser Gesetzeszweck ist bei der Auslegung des Gesetzes zu berücksichtigen und kann auch unter Beachtung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Grundgesetz) verfassungskonform nur erreicht werden, wenn auch die nationalen Visa ("D") nach § 6 Abs. 3 AufenthG mit einer Gültigkeit von mindestens 6 Monaten von der Regelung des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG erfasst werden, wenn sie - wie vorliegend - zu einer Beschäftigung in der Bundesrepublik berechtigen.

    Soweit das Finanzgericht Hamburg in seiner Entscheidung vom 23.04.2014 die Auffassung vertrat, dass ein Visum "D" (nationales Visum) nicht zu einem dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik berechtige, sondern nur zu einer Einreise zum Zwecke eines längerfristigen Aufenthalts (6 K 277/13, juris Rn. 26), kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Ein nationales Visum gemäß § 6 Abs. 3 AufenthG berechtigt für die Dauer seiner Gültigkeit zu einem Aufenthalt in der Bundesrepublik. Dies lässt sich bereits eindeutig aus dem Wortlaut des § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entnehmen, in dem es heißt: "Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, (...)". Ein nationales Visum ist insoweit - wie bereits ausgeführt - einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 AufenthG vergleichbar, die ebenfalls nur einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel gibt. Insoweit unterscheidet sich ein Visum nach § 6 Abs. 3 AufenthG nicht von einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 AufenthG. Zudem wird ein Visum nach § 6 Abs. 3 AufenthG - anders als das Finanzgericht Hamburg in seiner Entscheidung vom 23.04.2014 annahm - grundsätzlich für mehr als 3 Monate erteilt (vgl. insoweit auch die Allgemeinen Informationen zur Visumbeantragung des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2021, https://www.auswaertiges-amt.de/de/service/visa- und-aufenthalt/nationale-visa).

    Dass auch im vorliegenden Fall mit dem nationalen Visum "D" bereits ein dauerhafter Aufenthalt gegeben war, ergibt sich vorliegend zudem aus der Tatsache, dass die zuständige Ausländerbehörde (der Landrat des Landkreises Nordwestmecklenburg) der Klägerin am 04.11.2021 eine weitere Aufenthaltserlaubnis nach § 18b Abs. 1 AufenthG ab dem 04.11.2021 bis zum 01.04.2024 erteilt hat (Blatt 45 der Kindergeldakte).

    Die Ausnahmetatbestände des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG in den Buchstaben a) bis c) liegen im Fall der Klägerin unzweifelhaft nicht vor.

    Die Entscheidung ist entscheidungsreif. Die Höhe des Kindergeldes in dem Zeitraum Juni 2021 bis Oktober 2021 betrug jeweils monatlich 219 €.

    III.

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO.

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

    Die Entscheidung über die Hinzuziehung beruht auf § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten war vorliegend notwendig, weil die Sach- und Rechtslage nicht so einfach war, dass sich die Klägerin selbst vertreten konnte (Stapperfend in: Gräber, FGO, 9. Aufl., § 139 Rn. 128 m.w.N.). Die Klägerin hat mit der Klageschrift einen entsprechenden Antrag gestellt (Stapperfend a.a.O. Rn. 131).

    Die Revision wird zugelassen. Der Streitfall dient der Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Rechtsfortbildung ist jede Fortentwicklung des Rechts (Gesetz, Richterrecht) durch das Aufstellen neuer Rechtsgrundsätze, auch soweit diese durch Auslegung des Gesetzes gewonnen werden (Ratschow in: Gräber, FGO, 9. Aufl., § 115 Rn. 161). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts erforderlich, wenn über eine bisher ungeklärte abstrakte Rechtsfrage zu entscheiden ist, insbesondere wenn der Streitfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Grundsätze und Leitlinien für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch auszufüllen (vgl. z. B. BFH-Beschlüsse vom 09.02.2017, VI B 58/16, BFH/NV 2017, 763; vom 09.05.2017, XI B 13/17, BFH/NV 2017, 1198 jew. m.w.N.). Die Frage, ob die neue Gesetzesfassung in § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG vom 01.03.2020 dahingehend verfassungskonform auszulegen ist, dass auch nationale Visa ("D") gemäß § 6 Abs. 3 AufenthG mit einer Laufzeit von mindestens 6 Monaten erfasst werden, wenn derartige Visa dem Zweck einer Beschäftigung in der Bundesrepublik dienen, ist bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden.

    RechtsgebietEStGVorschriften§ 62 Abs. 1 EStG