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  • 07.09.2021 · IWW-Abrufnummer 224533

    Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern: Urteil vom 29.04.2021 – 2 K 426/15


    Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern

    Urteil vom 29.04.2021


    In dem Rechtsstreit
    1. ...
    2. ...
    - Kläger -
    Proz.-Bev.:
    zu 1-2: Rechtsanwälte ...
    gegen
    Finanzamt ...
    - Beklagter -

    wegen
    Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag 2012

    hat der 2. Senat des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern ohne mündliche Verhandlung am
    29. April 2021
    durch die Vorsitzende Richterin am Finanzgericht ...,
    die Richterin am Finanzgericht ... und
    den Richter ...
    sowie die ehrenamtlichen Richter ... und ...
    für Recht erkannt:

    Tenor:

    1. Soweit es den Solidaritätszuschlag betrifft, wird das Verfahren eingestellt.
    2. Unter Änderung des Bescheides über Einkommensteuer für 2012 vom 03.04.2014, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2015, wird die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung des Veräußerungsgewinns in Höhe von ... € festgesetzt.
    3. Die Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte zu 96 % und die Kläger zu 4 %.
    4. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
    5. Das Urteil ist für die Kläger wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
    6. Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung des Freibetrages nach § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für den Veranlagungszeitraum 2012 streitig.

    Die Kläger sind verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

    Die Klägerin wurde am ... geboren.

    Im Oktober 2008 ließ sich die Klägerin im ... wegen Beschwerden im Bereich des rechten Beins behandeln (ärztlicher Bericht vom ... , Blatt 77 der Gerichtsakte Bd. I). Mit ärztlichem Bericht vom 11.02.2009 (Blatt 79 der Gerichtsakte Bd. I) berichtete die Klinik, die Klägerin sei zur stationären Behandlung in der Zeit vom 02. bis 11.02.2009 aufgenommen worden. Sie werde bei subjektiven Wohlbefinden in die häusliche Umgebung entlassen. Die in der Klinik begonnene physiotherapeutische Beübung solle fortgesetzt werden. Im Vordergrund sollten die Gangschule mit Harmonisierung des Gangbildes und eine isometrische Kräftigung der hüftstabilisierenden Muskulatur stehen. Eine Teilbelastung von 15kp sollte für insgesamt sechs Wochen eingehalten werden.

    Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern erteilte am 20.12.2010 eine unbefristete Bescheinigung nach § 65 Abs. 1 Nummer 2 lit. a) der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV). Danach sei die Klägerin ein behinderter Mensch im Sinne des § 33b EStG. Der Grad der Behinderung betrage 30 ab 01.02.2009. Er beruhe auf Behinderungen im Sinne des § 33b Abs. 2 Nummer 2 lit. a) und/oder b) EStG (Blatt 88 der Gerichtsakte Bd. I).

    Im Streitjahr 2012 erzielte der Kläger Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Klägerin erzielte mit ihrem Friseursalon Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Der Betrieb bestand aus einer Hauptniederlassung in ... und einer Betriebsstätte (Zweigstelle) in .... Die Gewinnermittlung erfolgte für beide Betriebsteile gemeinsam.

    Mit Vertrag vom 11.12.2012 veräußerte die Klägerin ihren Betrieb in .... an Frau .... Die Übergabe erfolgte zum 29.12.2012 und wurde zum 01.01.2013 wirksam. Nach § 3 Abs. 1 des Vertrages (Blatt 23 ff. der Gewinn- und Verlustrechnungsakte) betrug der Kaufpreis ... € und war mit Eingang bei der Klägerin bis spätestens zum 28.12.2012 zu zahlen (§ 3 Abs. 3 des Vertrages). Umsatzsteuer wurde nicht erhoben.

    Den Veräußerungsgewinn ermittelte die Klägerin wie folgt:

    Erlös:    ...,- €
    Abgang Anlagevermögen:    ...,- €
    Veräußerungsgewinn:    ...,- €

    Auf der Gewerbeabmeldung wurde vermerkt, dass die Betriebsaufgabe aus gesundheitlichen Gründen erfolgte.

    Die Friseurfiliale in ... wurde von der Klägerin weitergeführt. Zum 30.06.2014 erfolgte die Gewerbeabmeldung der Betriebsstätte in ... durch die Klägerin. Der Kläger meldete ein neues Gewerbe an. Dabei handelt es sich um den ehemaligen Friseursalon der Klägerin in ... . Der Betrieb wurde im Veranlagungszeitraum 2014 unentgeltlich von der Klägerin auf den Kläger übertragen.

    Mit Schreiben vom 06.03.2014 teilte die Deutschen Rentenversicherung Nord (im Folgenden: DRV) der Klägerin mit, aufgrund dauerhafter Leistungseinschränkungen und fehlender gesundheitlicher Eignung für die maßgebliche Tätigkeit als mitarbeitende Friseurin seien ihr mit Bescheid vom 15.03.2012 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt worden. Für eine leistungsgerechte berufliche Neuorientierung werde mit Bescheid vom 23.05.2013 eine Umschulung zur Sozialversicherungsfachangestellten, Fachrichtung Krankenversicherung, ab 01.07.2013 bewilligt (Blatt 5 der Rechtsbehelfsakte).

    Für das Jahr 2012 reichten die Kläger ihre Einkommensteuererklärung ein. In der Anlage G wurde der Veräußerungsgewinn von ... € erklärt. Für diesen beantragten die Kläger die Anwendung des § 16 Abs. 4 EStG. Der Freibetrag wurde bisher bei keiner Einkunftsart in Anspruch genommen.

    Die Kläger reichten vor der Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheides einen Bescheid der DRV vom 23.05.2013 (Blatt 3 der Rechtsbehelfsakte) über die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein. Danach wurde der Kläger in eine Weiterbildung zur Sozialversicherungsangestellten bewilligt. Diese dauere 24 Monate und werde am 01.07.2013 beginnen. Außerdem reichten die Kläger das Schreiben der DRV vom 06.03.2014 ein, wonach kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestehe. Mit Bescheid vom 09.11.2010 sei ein entsprechender Antrag durch die DRV abgelehnt worden. Auf Grund dauerhafter Leistungseinschränkungen und der fehlenden gesundheitlichen Eignung für die maßgebliche Tätigkeit als mitarbeitende Friseurin habe die DRV mit Bescheid vom 15.03.2012 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach bewilligt. Für eine leistungsgerechte berufliche Neuorientierung sei mit Bescheid vom 23.05.2013 eine Umschulung zur Sozialversicherungsfachangestellten, Fachrichtung Krankenversicherung, ab 01.07.2013 bewilligt worden.

    Mit Bescheid vom 03.04.2014 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2012 auf ... € fest. Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG könne wegen fehlenden Nachweises über die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 240 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches - SGB - VI) nicht berücksichtigt werden.

    Gegen den Einkommensteuerbescheid 2012 legten die Kläger fristgerecht Einspruch ein und trugen zur Begründung vor, nach der Verfügung der Oberfinanzdirektion (OFD) Niedersachsen vom 20.12.2011 (Seite 2242, Az.: ST 221/ST 222) sei Maßstab für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 16 Abs. 4 EStG der bisherige Beruf des Betroffenen nach sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten. Könne er diesen nicht mehr ausüben, veräußere er seinen Betrieb oder gebe ihn auf, stehe ihm grundsätzlich der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG zu. Dabei seien mögliche sogenannte Verweisungsberufe i.S.d. § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nur beachtlich, wenn sie im veräußerten oder aufgegebenen Betrieb ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden könnten. Darüber hinaus komme es nicht darauf an, ob der Eintritt der Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne kausal für die Veräußerung oder Aufgabe war. Vielmehr reiche es aus, wenn im Zeitpunkt der Veräußerung oder Aufgabe des Betriebes eine Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne vorgelegen habe. Für die Frage der Berufsunfähigkeit sei die Möglichkeit der Ausübung eines Verweisungsberufs nur beachtlich, wenn der Verweisungsberuf im bisherigen Betrieb ohne größere Schwierigkeiten ausgeübt werden könne. Die Vorschrift des § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sei daher bei der Auslegung des Begriffs Berufsunfähigkeit i.S.d. § 16 Abs. 4 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 1996 nicht heranzuziehen.

    Der Beklagte wies den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 04.11.2015 als unbegründet zurück und führte zur Begründung aus, da die Klägerin zum Veräußerungszeitpunkt das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, könne der Freibetrag nur gewährt werden, wenn sie im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig sei. Zum Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit reiche die Vorlage eines Bescheides des Rentenversicherungsträgers aus, wonach die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts vorliege. Der Nachweis könne auch durch eine amtsärztliche Bescheinigung oder durch die Leistungspflicht einer privaten Versicherungsgesellschaft erbracht werden, wenn deren Versicherungsbedingungen an einen Grad der Behinderung von mindestens 50 oder an eine Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als sechs Stunden täglich anknüpfen. Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG könne gewährt werden, wenn im Zeitpunkt der Veräußerung oder Aufgabe eine dauernde Berufsunfähigkeit vorliege.

    Ob der Steuerpflichtige dauernd berufsunfähig sei, bestimme sich ausschließlich nach Sozialversicherungsrecht (ab 2001 nach § 240 Abs. 2 SGB VI n.F.), aber ohne beiderseitige verfahrensrechtliche Bindung. Zudem seien die sogenannten Verweisungsberufe (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI a.F., § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI n.F.) nur dann zu berücksichtigen, wenn sie im bisherigen Betrieb ausgeübt werden können. Nicht ausreichend sei eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder die Feststellung einer Behinderung i.S.v. § 69 a.F. SGB IX. Der Nachweis könne sowohl über entsprechende Bescheide der Sozialversicherungsträger als auch über amtsärztliche Bescheinigungen geführt werden. Wegen des eindeutigen Verweises auf das Sozialversicherungsrecht reichten nichtamtliche Unterlagen als alleiniger Nachweis nicht aus. Gleiches gelte für eine nach § 69 SGB IX a. F. getroffene Feststellung einer Behinderung i.S.d. § 33b EStG.

    Allerdings müsse die Berufsunfähigkeit für die Betriebsveräußerung nicht kausal sein. Der Nachweis der Berufsunfähigkeit sei als entsprechendes Indiz ausreichend, sofern keine sonstigen Umstände vorlägen, die eindeutig gegen eine Aufgabe des unternehmerischen Engagements aus Gesundheitsgründen sprechen würden.

    Im Rahmen der Abmeldung des Gewerbes bzw. der Hauptniederlassung habe die Klägerin zwar angegeben, dass dies aus gesundheitlichen Gründen erfolge. Aus den Erklärungen sei aber nicht ersichtlich, um was für gesundheitliche Gründe es sich im Detail handele. Aus dem eingereichten Schriftverkehr mit der DRV gehe lediglich hervor, dass die Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Weiterbildung zur SozialversicherungsangesteIlten bewilligt bekommen habe. Weiterhin sei den Unterlagen zu entnehmen, dass kein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung bestehe. Dies setze voraus, dass die Rentenversicherungsanstalt den § 240 Abs. 1 und 2 SGB XI (gemeint wohl: SGB VI) geprüft habe und dessen Voraussetzungen im Fall der Klägerin nicht vorlägen. Das bedeute auch, dass eine Berufsunfähigkeit i.S.d. § 240 Abs. 2 SGB XI (gemeint wohl: SGB VI) nicht befürwortet worden sei. Auf Grund dauerhafter Leistungseinschränkungen und der fehlenden gesundheitlichen Eignung der Klägerin für die maßgebliche Tätigkeit als Friseurin seien die Leistungen bewilligt worden. Eine Berufsunfähigkeit sei damit nicht bestätigt, denn die dafür maßgebenden Nachweise seien von den Klägern nicht in der entsprechenden Form erbracht worden.

    Dass der Verweisungsberuf (Sozialversicherungsfachangestellte) nicht ohne größere Schwierigkeiten im aufgegebenen Betrieb ausgeübt werden könne, sei unstreitig, aber auch nicht erheblich. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben umfassten alle Rehamaßnahmen, welche die die Arbeits- und Berufstätigkeit von kranken und/oder behinderten Menschen fördern sollten, sodass eine Berufsunfähigkeit erst gar nicht eintrete.

    Zu berücksichtigen sei auch, dass die Klägerin nur die Hauptniederlassung veräußert und die Betriebsstätte (... ) in ... weitergeführt habe, bis sie diese in 2014 an den Kläger unentgeltlich übertragen habe. Danach sei die Klägerin auch über die Veräußerung hinaus als Friseurin und damit in ihrem bisherigen Beruf tätig gewesen. Gegenteiliges sei durch die Klägerin nicht erklärt worden.

    Mit Eingang bei Gericht am 04.12.2015 haben die Kläger Klage erhoben.

    Darin führen sie zur weiteren Begründung aus, zwar könne eine berufsbezogene Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI vorliegen, die jedoch dann nicht zu einem entsprechenden Rentenanspruch führe, wenn die allgemeine Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wiederhergestellt werden könne. Die Vermeidung einer allgemeinen, berufsunabhängigen Berufsunfähigkeit sei gerade das Ziel von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Damit sei das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit für den konkret ausgeübten Beruf gerade Voraussetzung für den Bezug von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, mit deren Gewährung der Eintritt einer rentenbezugsberechtigenden allgemeinen Berufsunfähigkeit abgewendet werden solle. Dementsprechend habe die DRV der Klägerin mit Bescheid vom 23.05.2013 die Umschulung zur Sozialversicherungsfachangestellten bewilligt. Mit Schreiben vom 06.03.2014 habe die DRV die Unfähigkeit der Klägerin, ihren Beruf als Friseurin weiter auszuüben, nochmals explizit festgestellt. Damit sei amtlich belegt, dass die Klägerin dauerhaft unfähig sei, ihren Beruf als Friseurin auszuüben und gerade deshalb Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten habe. Dies werde zudem unter Beweis gestellt durch Beziehung der Akten der DRV und Einholung einer entsprechenden Auskunft dort.

    Auch tatsächlich sei (und zwar bereits im streitigen Veranlagungszeitraum) die Klägerin aufgrund eines arthritischen Hüftleidens nicht in der Lage, ihren Beruf als Friseurin in einem mehr als sechs Stunden währenden Umfang auszuüben. Aus diesem Grunde sei die Klägerin auch mit einem Grad der Behinderung von 30 als schwerbeschädigt anerkannt.

    Für die Gewährung des steuerlichen Freibetrages gemäß § 16 Abs. 4 EStG komme es zwar auf das amtlich bescheinigte Vorliegen einer Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne an. Die entsprechende Norm des Sozialversicherungsrechts stelle jedoch allein auf die Voraussetzungen für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente ab. Im steuerrechtlichen Sinne liege eine Berufsunfähigkeit nach sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben bereits dann vor, wenn der Steuerpflichtige unfähig sei, die bisher in seinem Betrieb ausgeübte Funktion weiter wahrzunehmen und eine andere ihm zugewiesene oder zumutbare Tätigkeit im veräußerten Betrieb nicht ausüben könne. So aber liege es hier, was bereits durch die Bewilligung der Umschulung amtlich belegt sei. Wäre die Klägerin zur Ausübung der bisher ausgeübten Funktion gesundheitlich in der Lage gewesen, hätte die DRV ihr die Umschulung nicht gewährt und finanziert. Vielmehr sei die Umschulung allein zur Abwendung der ansonsten zahlbaren Berufsunfähigkeitsrente erfolgt.

    Unrichtig sei die Annahme des Beklagten, die Klägerin habe in der Zweigniederlassung in ... als Friseurin weitergearbeitet. Sie habe vielmehr im Zeitraum vom 29.10.2012 bis 03.02.2013 an einem Vorbereitungskurs für die Umschulung teilgenommen. Hieran habe sich für den Zeitraum von Februar 2013 bis Juni 2013 eine stationäre medizinische Behandlung angeschlossen. Ab 01.07.2013 habe sie an der Umschulung teilgenommen, welche am 30.06.2015 geendet habe. Sowohl der Vorbereitungskurs als auch die Umschulung seien in Vollzeit erfolgt. Die Klägerin habe ab dem 01.11.2012 Frau ... als Salonleiterin in ... eingesetzt. Dies ergebe sich aus dem beigefügten Vertrag (Blatt 95 der Gerichtsakte Bd. I). Dass der Vertrag abgeschlossen worden sei, werde in das Zeugnis von Frau ... gestellt.

    Die Kläger beantragen,

    die mit Bescheid vom 03.04.2014 festgesetzte Einkommensteuer 2012 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2015 herabzusetzen, soweit sie auf den von der Klägerin erzielten Veräußerungsgewinn in Höhe von... € erhoben wurde sowie

    die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen

    Der Beklagte wiederholt im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren und ergänzt, für die einkommensteuerrechtliche Beurteilung nach § 16 Abs. 4 EStG seien - entgegen der Auffassung der Kläger - ausschließlich die Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts rechtserheblich. Aus der Bescheinigung vom 06.03.2014 gehe lediglich hervor, dass aufgrund dauerhafter Leistungseinschränkungen und der fehlenden gesundheitlichen Eignung für die Tätigkeit als Friseurin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bewilligt worden seien. Es sei fraglich, ob dies den Anforderungen eines Nachweises der dauernden Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne genüge. Ein aussagekräftiger Bescheid des Sozialversicherungsträgers, wie ihn das Gesetz fordere, liege nicht vor. Die Vorlage nichtamtlicher Unterlagen wie fachärztliche Bescheinigungen oder Befunde sowie die durch eine nach § 69 SGB IX getroffene Feststellung einer Behinderung im Sinne von § 33b EStG diene nicht als Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit.

    Zudem werde von den Klägern nicht berücksichtigt, dass die Klägerin die Betriebsstätte in ... weitergeführt habe. Dies sei jedoch entscheidend, wenn beurteilt werden solle, ob eine dauernde Berufsunfähigkeit für den bislang ausgeübten Beruf vorliege. Liege eine Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne wegen möglicher anderer Erwerbstätigkeit nicht vor - wie in diesem Fall -, so müsse der Steuerpflichtige nachweisen, dass er unfähig sei, die bisher in seinem Betrieb ausgeübte Funktion weiter wahrzunehmen und aus diesem Grund den Betrieb aufgegeben oder veräußert habe. Veräußert sei aber lediglich die Hauptniederlassung zum 29.12.2012. Der Änderungsvertrag zur Leitung des Salons in ... sei rechtlich unerheblich, da er nicht unterzeichnet sei.

    In der mündlichen Verhandlung vom 20.06.2019 haben die Kläger die Klage insoweit zurückgenommen als auch der Solidaritätszuschlag angefochten wurde. Für die Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen (Blatt 141 ff. der Gerichtsakte Bd. I).

    Im Nachgang zu der mündlichen Verhandlung vom 20.06.2019 hat das Gericht die DRV um Übersendung der medizinischen Unterlagen aus der Akte der Klägerin gebeten. Aus einem darin befindlichen Gutachten zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung vom 22.10.2010 (Blatt 35 ff. der Beiakte DRV) ergibt sich aus dem dortigen Punkt "A. Letzte berufliche Tätigkeit", dass die Klägerin ab dem 06.01.2010 bis auf Weiteres in ihrem bisherigen Beruf als Friseurmeisterin lediglich in einem zeitlichen Umfang von täglich drei bis unter sechs Stunden tätig sein konnte. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Dauer der Leistungsminderung voraussichtlich nicht weniger als drei Jahre andauere, jedoch eine Besserung infolge einer hüftendoprothetischen Versorgung nicht unwahrscheinlich sei. Eine entsprechende Operation wurde im Jahre 2013 durchgeführt (vgl. Blatt 2.1 des ärztlichen Entlassungsberichts zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung, Blatt 6 der Beiakte DRV), wobei sich aus der Akte nicht ergibt, inwieweit dies zu einer tatsächlichen Verbesserung geführt hat. Der Akte ist jedoch zu entnehmen, dass die Klägerin auch weiterhin für den Verweisungsberuf vorbereitet wurde, nicht aber auf eine Rückkehr in ihren bisherigen Beruf (vgl. Blatt 2.5 f. des ärztlichen Entlassungsberichts zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung, Blatt 70 f. der Beiakte DRV).

    Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16.06.2020 ergänzend vorgetragen, dass nach seiner Auffassung auch nach Vorlage der medizinischen Unterlagen aus der Akte der DRV nicht von einer dauernden Berufsunfähigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne auszugehen sei. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 16.06.2020 Bezug genommen (Blatt 218 der Gerichtsakte Bd. II).

    Mit geändertem Beweisbeschluss vom 13.01.2021 (Blatt 337 ff. der Gerichtsakte Bd. III) hat das Gericht Beweis durch Vernehmung der Zeugin .... im Wege der schriftlichen Zeugenvernehmung erhoben. Wegen der Einzelheiten wird auf das Antwortschreiben der Zeugin, nebst der beigefügten Anlage, Bezug genommen (Blatt 352 ff. der Gerichtsakte Bd. III).

    Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 17.11.2020 (Blatt 305 der Gerichtsakte Bd. II) sowie 24.03.2021 (Blatt 366 der Gerichtsakte Bd. III) auf die erneute Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

    Dem Gericht lagen zur Entscheidung neben den Gerichtsakten (drei Bände) je ein Band Einkommensteuer-, Gewinn- und Verlustrechnungs- sowie Rechtsbehelfsakte des Beklagten und ein Band gehefteter Beiakte der DRV vor.

    Entscheidungsgründe

    I.

    Das Gericht konnte gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierauf übereinstimmend verzichtet haben.

    II.

    Soweit es den Solidaritätszuschlag betrifft, war das Verfahren infolge der teilweisen Klagerücknahme einzustellen (§ 72 Abs. 2 Satz 2 FGO)

    III.

    Die zulässige Klage ist begründet.

    Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtswidrig und verletzen die Kläger daher in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

    Der Beklagte hat der Klägerin zu Unrecht die Berücksichtigung des Freibetrages gemäß § 16 Abs. 4 EStG verweigert.

    Hat ein Steuerpflichtiger das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im sozialversicherungs-rechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig, so wird der Veräußerungsgewinn gemäß § 16 Abs. 4 auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er 45.000 € übersteigt. Voraussetzung ist jedoch, dass der Steuerpflichtige seinen ganzen Gewerbebetrieb oder einen Teilbetrieb veräußert (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1 Satz 1 EStG).

    Zur Überzeugung des Senats (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 FGO) hat die Klägerin einen Teilbetrieb veräußert (1.). Sie ist auch dauernd berufsunfähig (2.)

    1.

    Die Klägerin hat mit der Hauptfiliale in .... einen Teilbetrieb veräußert.

    a)

    Unter einem Teilbetrieb ist ein organisch geschlossener, mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestatteter Teil eines Gesamtbetriebs zu verstehen, der für sich allein nach Art eines selbständigen Zweigbetriebs lebensfähig ist. Ob die veräußerten Wirtschaftsgüter in ihrer Zusammenfassung einer sich von der übrigen gewerblichen Tätigkeit des Veräußerers deutlich abhebenden Betätigung dienen und als Betriebsteil die für die Annahme eines Teilbetriebs erforderliche Selbständigkeit besitzen, ist nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu entscheiden. Bei dieser Gesamtwürdigung sind die von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Abgrenzungsmerkmale, wie z.B. die räumliche Trennung vom Hauptbetrieb, ein eigener Wirkungskreis, eine gesonderte Buchführung, eigenes Personal, eigene Verwaltung, eigenes Anlagevermögen, eigener Kundenstamm und eine die Eigenständigkeit ermöglichende interne Organisation zu beachten. Diese Merkmale brauchen nicht sämtlich vorzuliegen; der Teilbetrieb erfordert lediglich eine gewisse Selbständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb (vgl. zum Ganzen nur Bundesfinanzhof - BFH, Urt. v. 15.03.2007 - III R 53/06, juris Rdn. 14 f.; Urt. v. 04.11.2004 - IV R 17/03, juris Rdn. 22 ff. sowie Urt. v. 22.10.2015 - IV R 17/12, juris Rdn. 15 ff., jeweils m.w.N.).

    Bei Friseurläden kommt nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung die Annahme von Teilbetrieben grundsätzlich in Betracht (vgl. zu einem dem Streitfall insoweit ähnlich gelagerten Verfahren BFH, Urt. v. 17.04.1980 - IV R 99/78, juris).

    b)

    Nach dem Ergebnis der schriftlichen Vernehmung der Zeugin im vorbereitenden Verfahren steht mit hinreichender Sicherheit fest, dass es sich bei der Filiale in ... um einen eigenständigen Teilbetrieb im Sinne der vorgenannten Voraussetzungen gehandelt hat. Der veräußerte Betrieb in ... ist damit spiegelbildlich ebenfalls als Teilbetrieb anzusehen.

    aa)

    Eine räumliche Trennung des Hauptbetriebes (... ) von der Filiale (....) liegt vor. Durch diese Entfernung (ca. 12 km) und der Belegenheit in verschiedenen Ortschaften hatten die Salons jeweils einen eigenen Wirkungskreis, bei welchem sich jeweils ein eigener Kundenstamm bildete, wie die Zeugin ... in ihrer schriftlichen Vernehmung bestätigt hat. Insbesondere dem jeweils eigenen Kundenstamm kommt eine erhöhte Bedeutsamkeit zu, da - wie aus dem Kaufvertrag ersichtlich (§ 2 Abs. 2 des Kaufvertrages) - offenbar auch die Kundendaten ein preisbildender Bestandteil bei der Veräußerung waren (vgl. zur Bedeutsamkeit BFH, Urt. v. 20.08.1986 - I R 150/82, juris Rdn. 12 f.).

    Nach den eindeutigen Aussagen der Zeugin ... wurde die Filiale in ... darüber hinaus - mit Ausnahme der Kassen- und Buchführung - von der Zeugin weitestgehend eigenverantwortlich geleitet, sowohl was die Beschaffung von Arbeitsmaterialien als auch die Organisation der täglichen Arbeit anging. Die Zeugin ... habe ab dem 01.11.2012 in ... "die Aufgaben einer Salonleiterin" ausgeführt, lediglich bei Warenbestellungen mit einem Volumen von über 500 € habe sie "nachfragen" müssen. Die Warenbestellung der Salons in ... und ... sei im Übrigen aber getrennt voneinander erfolgt.

    Es ergibt sich dadurch das Gesamtbild von zwei jeweils eigenständigen Betrieben, welche - sowohl im Hinblick auf die Organisation als auch den vorhandenen Kundenstamm - für sich genommen ohne den anderen Betrieb lebensfähig gewesen wären.

    bb)

    Der Umstand, dass beide Betriebsteile über eine gemeinsame Buchführung verfügten, da jedenfalls der Gesamtgewinn in einer gemeinsamen Gewinn- und Verlustrechnung ermittelt wurde, ist nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung für sich genommen auch kein entscheidender Grund, um das Vorliegen von Teilbetrieben zu verneinen (vgl. BFH, Urt. v. 18.07.2018 - X R 36/17, juris Rdn. 39 f.).

    So liegt der Fall hier. Denn dass die (Kassen-) Buchführung sowie Gewinnermittlung über die Klägerin abgewickelt wurden und die Zeugin ... darüber hinaus bei größeren Anschaffungen vorher das Einverständnis der Klägerin einholen musste, vermag den vorbezeichneten Gesamteindruck der weitestgehenden Eigenständigkeit beider Betriebsteile nicht zu verändern. Diese Einschränkung in der Selbständigkeit der Filiale in ... war nämlich lediglich dem Umstand geschuldet, dass die Klägerin - sowohl vor als auch nach der Veräußerung des Hauptbetriebes in ... - wirtschaftlich die Leitung des Salons in ... innehatte.

    Das Erfordernis einer strikten Trennung jeglicher organisatorischen Tätigkeit - inklusive der Buchführung - wäre darüber hinaus ersichtlich zu restriktiv, denn Teilbetriebe sind bereits begrifflich nur Bestandteile eines einheitlichen Betriebes und gerade keine jeweils vollständig eigenständigen Gewerbebetriebe (vgl. nur BFH, Urt. v. 04.07.2007 - X R 49/06, juris Rdn. 10 m.w.N.).

    Wenn aber bereits die Filiale in ... als hinreichend eigenständiger Teilbetrieb anzusehen ist, muss dies für den veräußerten Betriebsteil in ... erst recht gelten.

    c)

    Die Annahme von Teilbetrieben scheitert letztlich auch nicht an dem Umstand, dass die Klägerin ihre bisherige gewerbliche Tätigkeit nach der Veräußerung nicht vollständig aufgegeben hat.

    Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. nur Urt. v. 25.11.2009 - X R 23/09, juris Rdn. 15 m.w.N.) kann eine Teilbetriebsaufgabe im Grundsatz nur angenommen werden, wenn der Veräußerer seine gewerbliche Tätigkeit im Bereich des veräußerten Teilbetriebs aufgibt.

    Dementsprechend wäre - ausgehend von diesem Grundsatz - im Streitfall eine Teilbetriebsveräußerung zu verneinen, da die Klägerin als Gewerbetreibende weiterhin mit einem Friseurbetrieb am Markt aufgetreten ist, wenngleich sie selbst nicht mehr ihren Beruf als Friseurin unmittelbar ausgeübt hat.

    Der BFH hat jedoch gleichwohl anerkannt, dass von diesem strikten Grundsatz Ausnahmen zu machen sind, wenn die veräußerte Betriebsstätte nach ihrer Lage deutlich von der verbleibenden Betriebsstätte abgegrenzt ist und sie insbesondere auch über einen eigenen Kundenstamm und eigenes Personal verfügt (vgl. BFH, Urt. v. 25.11.2009 - X R 23/09, juris Rdn. 16 m.w.N.).

    Nach dem Ergebnis der schriftlichen Vernehmung der Zeugin trifft dies auf die von der Klägerin beibehaltene Filiale in ... zu, denn es lässt sich - wie bereits vorstehend zum Tatbestandsmerkmal des Teilbetriebes ausgeführt - feststellen, dass die beiden Filialen im Wesentlichen eigenständig betrieben wurden und unabhängig voneinander lebensfähig waren. Die Filialen wiesen erkennbar weder Überschneidungen im Kundenstamm noch im Personal auf und waren mit einer räumlichen Distanz von 12 km - verteilt auf zwei verschiedene Ortschaften - auch bezogen auf ihre Lage deutlich voneinander abgegrenzt. Die einzige organisatorische Verbindung zwischen beiden Betriebsstätten war die einheitlich in der Hand der Klägerin liegende (Kassen-) Buchführung, welche jedoch - entsprechend den obigen Ausführungen - für sich genommen kein Merkmal darstellt, das gegen die Abgrenzbarkeit beider Betriebsstätten spricht.

    2.

    Die Klägerin ist auch als dauernd berufsunfähig anzusehen.

    Das Tatbestandsmerkmal der dauernden Berufsunfähigkeit bestimmt sich dabei nach dem Sozialrecht (vgl. Schallmoser, in: Blümich, EStG/KStG, 151. EL 2020, § 16 EStG Rdn. 695).

    a)

    Gemäß § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist ein Versicherter berufsunfähig, wenn dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist.

    b)

    Entgegen der Ansicht des Beklagten ist dabei nicht schädlich, dass die Klägerin keinen Bescheid der DRV vorzulegen vermag, in welchem ausdrücklich die dauernde Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI festgestellt wird.

    aa)

    Nach der Auffassung der Finanzverwaltung (R 16 Abs. 14 Sätze 1 u. 2 der Einkommensteuer-Richtlinien - EStR) - welche keine Bindungswirkung für das Gericht entfaltet - reicht zum Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit die Vorlage eines Bescheides des Rentenversicherungsträgers aus, wonach die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit i.S.d. gesetzlichen Rentenversicherung vorliegt. Der Nachweis kann auch durch eine amtsärztliche Bescheinigung oder durch die Leistungspflicht einer privaten Versicherungsgesellschaft, wenn deren Versicherungsbedingungen an einen Grad der Berufsunfähigkeit von mindestens 50 oder an eine Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als sechs Stunden täglich anknüpfen, erbracht werden. Eine Kausalität zwischen der Veräußerung oder Aufgabe und der Berufsunfähigkeit ist hingegen nicht erforderlich.

    bb)

    Der Senat ist demgegenüber der Auffassung, dass sich ein derartiges formalisiertes Nachweisverlangen aus dem Gesetz ergeben muss. Andernfalls widerspricht dies dem in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO geregelten Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl. BFH, Urt. v. 11.11.2010 - VI R 17/09, juris Rdn. 18 ff., 27 m.w.N.). Dass die zitierte Entscheidung des BFH § 33 EStG betrifft, ist dabei unschädlich.

    Der BFH hat zunächst darauf hingewiesen, dass die unbestimmte Sorge unbegründet ist, die freie Ärzteschaft neige dazu, Gefälligkeitsgutachten zu erstellen. Auch sei das Verlangen nach einer amtsärztlichen oder vergleichbaren Stellungnahme zur Missbrauchsabwehr nicht erforderlich. Denn durch ein von einem Beteiligten vorgelegtes, beispielsweise vom behandelnden Arzt erstelltes Sachverständigengutachten könne der Nachweis der Richtigkeit des klägerischen Vortrags und damit der medizinischen Indikation einer Heilmaßnahme nicht geführt werden. Vielmehr sei ein von einem Beteiligten vorgelegtes Sachverständigengutachten im finanzgerichtlichen Verfahren lediglich als Privatgutachten zu behandeln und damit als urkundlich belegter Parteivortrag zu würdigen. Das formalisierte Nachweisverlangen bewirke lediglich eine Beschränkung der Beweismittel und stehe damit im Widerspruch zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Die Beschränkung des Freibeweises sei auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass über gleichartige Sachverhalte in einer Vielzahl von Verfahren zu entscheiden sei und es sich bei der Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen der Nachweispflicht im Rahmen des Zumutbaren genügt sei, um eine rechtliche Wertung handele. Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen nur ein Amtsarzt oder etwa der medizinische Dienst einer öffentlichen Krankenversicherung nach § 278 SGB V, nicht aber ein anderer Mediziner die erforderliche Sachkunde und Objektivität besitzen solle, um die medizinische Indikation von nicht nur für Kranke nützliche Maßnahmen sachverständig beurteilen zu können. Da weder das Finanzamt noch das Finanzgericht die notwendige Sachkunde besitzen, um die medizinische Indikation der den Aufwendungen zugrundeliegenden Maßnahmen zu beurteilen, ist das Finanzgericht aufgrund seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) gehalten, ggf. von Amts wegen ein entsprechendes Gutachten zu erheben (vgl. BFH, Beschl. v. 05.05.2004 - VIII B 107/03, juris Rdn. 2 f.).

    Dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG lässt sich auch nicht entnehmen, dass ein formalisiertes Nachweisverfahren notwendig ist. Die Vorschrift besagt lediglich, dass die dauernde Berufsunfähigkeit "im sozialversicherungsrechtlichen Sinne" zu verstehen ist und verweist damit tatbestandlich auf § 240 Abs. 2 SGB VI. Dementsprechend weist auch die finanzgerichtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. Finanzgericht - FG - Sachsen-Anhalt, Urt. v. 10.07.2014 - 1 K 536/08, juris Rdn. 40 ff. m.w.N.) darauf hin, dass die Parallele zu § 33 Abs. 2 EStG nicht gezogen werden kann, nachdem der BFH seine Rechtsprechung zur Zwangsläufigkeit von Aufwendungen für medizinische Hilfsmittel im engeren und weiteren Sinne (§ 33 Abs. 2 EStG) geändert hat und nunmehr auch privatärztliche Bescheinigungen anerkennt sowie darüber hinaus vom Erfordernis eines vor Beginn einer medizinischen Behandlung erstellten Gutachtens absieht. Dieses Ergebnis ändert sich auch nicht dadurch, dass der Gesetzgeber in § 64 der EStDV die Nachweispflicht teilweise (wieder) eingeführt hat. Denn für § 16 Abs. 4 EStG hat der Gesetzgeber gerade keine solche formalisierte Nachweispflicht normiert.

    c)

    Der Senat gelangt nach der Würdigung des von ihm ermittelten Sachverhalts zu dem Ergebnis, dass die Klägerin im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauerhaft berufsunfähig gewesen ist.

    aa)

    Maßgeblicher Anknüpfungspunkt zur Beantwortung der Frage, ob eine dauernde Berufsunfähigkeit vorliegt, ist zunächst die Bestimmung des bisherigen Berufes (sog. Hauptberuf). Als Beruf ist jede Tätigkeit einzustufen, welche auf Dauer zur Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dienen soll (vgl. zum Ganzen Gürtner, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 108. EL 2020, § 240 SGB VI Rdn. 9 f.).

    Hauptberuf ist hier der einer Friseurin.

    bb)

    Erforderlich für den Eintritt von Berufsunfähigkeit ist ein Herabsinken der Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung (§ 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) auf ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden im Hauptberuf. Die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf das Leistungsvermögen des Betroffenen und der Zeitpunkt, von dem an ein krankheitsbedingter Zustand angenommen werden kann, sind von Amts wegen - in der Regel durch Einholung medizinischer Gutachten - festzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch zu ermitteln, mit welchen qualitativen und quantitativen Einschränkungen das verbliebene Restleistungsvermögen belastet ist.

    cc)

    Im Streitzeitraum haben die Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI vorgelegen.

    Aus dem für die DRV erstellten ärztlichen Gutachten zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung vom 22.10.2010 geht eindeutig hervor, dass die letzte berufliche Tätigkeit (Friseurin) lediglich in einem täglichen Zeitraum von drei bis unter sechs Stunden ausgeübt werden kann und damit in dem Bereich, ab welchem eine Berufsunfähigkeit entsprechend § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI anzunehmen ist. Aus dem Gutachten geht überdies ausdrücklich hervor, dass die begutachtenden Ärzte aus medizinischer Sicht seit dem 06.01.2010 von einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ausgehen. Die Besserung dieses Krankheitsbildes sei zwar nicht unwahrscheinlich, setze jedoch eine hüftendoprothetische Versorgung voraus.

    Der Umstand, dass in dem Gutachten festgestellt wird, dass die Leistungsminderung voraussichtlich durch eine hüftendoprothetische Versorgung behoben werden kann, hat keinen Einfluss darauf, dass die Klägerin im Streitjahr als dauerhaft berufsunfähig anzusehen ist. Es handelt sich insoweit nämlich um eine bloße Prognose, welche zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung nicht sicher war. Aus einem weiteren Gutachten (Blatt 66, 70 f. der Beiakte DRV) ergibt sich überdies, dass eine entsprechende Operation zwar tatsächlich im Jahre 2013 durchgeführt wurde. Dabei liegt jedoch die Vermutung nahe, dass diese nicht zu einer tatsächlichen Verbesserung geführt hat, denn der Akte der DRV ist jedenfalls zu entnehmen, dass die Klägerin auch weiterhin für den Verweisungsberuf vorbereitet wurde, nicht aber auf eine Rückkehr in ihren bisherigen Beruf.

    Es kommt aber ohnehin nicht auf die späteren Erkenntnisse aus dem Jahre 2013 sowie den folgenden Jahren an, denn maßgeblich ist einzig, ob der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Veräußerung die (isolierten) Voraussetzungen des § 240 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erfüllt hat (vgl. auch Kobor, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 255. EL., § 16 EStG Rdn. 709 "Zeitpunkt").

    dd)

    Dass seitens des Sozialversicherungsträgers keine explizite Feststellung einer Berufsunfähigkeit getroffen wurde, ist unschädlich.

    Dies beruhte nämlich ausschließlich auf § 240 Abs. 2 Sätze 2 ff. SGB VI, wonach die (sozialrechtliche) Berufsunfähigkeit nicht eintritt, wenn der Versicherte in einem Verweisungsberuf tätig sein kann.

    Dieser Verweisungsberuf ist jedoch für die steuerrechtliche Beurteilung einer Berufsunfähigkeit grundsätzlich nicht maßgeblich, sondern ausnahmsweise nur dann, wenn der Verweisungsberuf ohne größere Schwierigkeiten im bisherigen Betrieb ausgeübt werden kann (vgl. FG Düsseldorf, Urt. v. 20.02.2002 - 16 K 5432/99 E, juris Rdn. 20 ff. zum damaligen § 43 Abs. 2 SGB VI a.F., welcher mit dem im Streitzeitraum geltenden § 240 Abs. 2 SGB VI übereinstimmt).

    Diese Ausnahme ist im Streitfall aufgrund der grundlegenden Wesensverschiedenheit zwischen den Tätigkeiten einer ...meisterin und den einer Sozialversicherungskauffrau jedoch ersichtlich nicht einschlägig. Dies steht für sich genommen zwischen den Beteiligten auch außer Streit.

    ee)

    Das Gutachten stellt sich schließlich auch nicht nur als reines Privatgutachten dar, sondern wurde von der DRV im Rahmen der Beurteilung einer Notwendigkeit, Maßnahmen nach dem Sozialversicherungsrecht zu ergreifen, in Auftrag gegeben. Die Erfüllung des isolierten Tatbestandsmerkmals des § 240 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ist damit hinreichend durch eine fachlich qualifizierte Begutachtung nachgewiesen, sodass es keiner erneuten Beauftragung eines medizinischen Sachverständigen für dieses Verfahren bedarf.

    IV.

    Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 136 Abs. 2 FGO.

    Aufgrund der tatsächlichen wie rechtlichen Schwierigkeiten des Verfahrens ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).

    Die Revision war jedenfalls zum Zwecke der Rechtsfortbildung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Soweit ersichtlich, wurde bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden, ob auch für § 16 Abs. 4 EStG von einem formalisierten Nachweisverfahren abgesehen werden kann.

    RechtsgebietEStGVorschriften§ 16 Abs. 4 EStG

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