· Fachbeitrag · Einkommensteuer
Behinderungsbedingter Mehrbedarf bei Bezug von Pflegegeld und Erbringung von Pflegeleistungen durch die Eltern
Wird Pflegegeld gezahlt, welches den Behinderten-Pauschbetrag übersteigt, so ist zu vermuten, dass mindestens ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegelds besteht. Ebenso ist das für ein behindertes Kind gezahlte Pflegegeld bei den dem Kind zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln als Bezug zu berücksichtigen. Erbringen die Eltern Pflegeleistungen, für die, würden sie von Dritten erbracht, ein höherer Betrag als das Pflegegeld gezahlt werden müsste, ist der das Pflegegeld übersteigende Betrag zusätzlich als Bedarf anzusetzen. |
Hintergrund
Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung vor Vollendung des 25. bzw. nach altem Recht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Im Streitfall war die Behinderung unstreitig vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten.
Das Tatbestandsmerkmal „außerstande ist, sich selbst zu unterhalten“ ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu.
Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits. Ergibt sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert, und es ist gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren. Diese Betrachtung ist grundsätzlich monatsbezogen vorzunehmen. Dabei sind die Einkünfte und Bezüge, soweit für Gewinneinkünfte nicht das Realisationsprinzip gilt, nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen.
Ein behindertes Kind bleibt bei einem nicht monatlich anfallenden notwendigen behinderungsbedingten Mehrbedarf zum Selbstunterhalt imstande, wenn es bei einer vorausschauenden Bedarfsplanung diesen Mehrbedarf bei seiner Aufteilung auf einen angemessenen vorangegangenen Zeitraum unter Zugrundelegung einer monatlichen Durchschnittsbelastung auffangen kann.
Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem ‒ betragsmäßig an den Grundfreibetrag i. S. d. § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anknüpfenden ‒ Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z. B. Aufwendungen für zusätzliche Wäsche, Unterstützungs- und Hilfeleistungen sowie typische Erschwernisaufwendungen. Diese können einzeln nachgewiesen werden. Dem Steuerpflichtigen kommen beim Nachweis aber Erleichterungen zugute. Erbringt er keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen. Wird Pflegegeld gezahlt, welches den Behinderten-Pauschbetrag übersteigt, so ist zu vermuten, dass mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Pflegegeldes besteht. Das für ein behindertes Kind gezahlte Pflegegeld ist bei den dem Kind zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln als Bezug zu berücksichtigen
Sachverhalt
Im Streitfall war ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dadurch nachgewiesen, dass die Tochter der Antragstellerin Pflegegeld erhalten hatte. Das Pflegegeld ist dabei nicht nur auf der Einkommensseite, sondern auch auf der Bedarfsseite zu berücksichtigen. Der Ansatz des Pflegegelds als behinderungsbedingte Aufwendungen entspricht einem Einzelnachweis, sodass daneben die Berücksichtigung des Pauschbetrags nach § 33b EStG ausscheidet.
Zusätzlich zum Pflegegeld war aufgrund der persönlichen Betreuung durch die Antragstellerin jedoch ein zusätzlicher Bedarf für die von ihr erbrachten Betreuungsleistungen anzuerkennen, da die hierfür ansonsten an Dritte zu zahlenden Entgelte das Pflegegeld übersteigen würden.
Entscheidung
Bei der Ermittlung, welche Kosten zur Deckung des Mehrbedarfs notwendig sind, müssen die Hilfeleistungen der Eltern außer Betracht bleiben. Denn wenn die tatsächlich von den Eltern erbrachten Hilfeleistungen als bedarfsmindernd berücksichtigt würden, könnten genau die Unterhaltsbeiträge der Eltern zum Ausschluss des Kindergeldanspruchs führen, die das Kindergeld abgelten sollen.
Im Streitfall war der das Pflegegeld übersteigende Betrag als Bedarf anzusetzen, ebenso die Gebühren für den Besuch der Schule, die den Unterricht in kleinen Klassen mit intensiver Betreuung und persönlichem Coaching ermöglichte. Denn der behandelnde Arzt hatte nachdrücklich darauf hingewiesen, dass nach dem Krankheitsbild der Tochter der Unterricht an einer öffentlichen Schule nicht empfohlen werden könne.
Das FG gab der Klage statt, da vor dem Hintergrund der vorstehenden Entscheidungsgründe die angestellte Berechnung ergab, dass die Tochter außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
Fundstelle
- FG Berlin-Brandenburg 16.1.25, 14 K 14071/23, Rev. zugelassen