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  • · Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitszusatzversicherung

    Gesundheitsfragen: Vergessener Arztkontakt kann ausnahmsweise die Anzeigepflicht nicht verletzen

    | Kann der VN zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen, einen in der Vergangenheit erfolgten Arztkontakt vergessen zu haben, kann ihm auch dann keine Verletzung der Anzeigepflicht vorgeworfen werden, wenn er es fahrlässig unterlassen hat, sein Erinnerungsvermögen durch Einsicht in vorhandene Unterlagen oder Rückfragen bei Dritten angespannt zu haben. Das folgt aus einer Entscheidung des OLG Dresden. |

    1. Möglichkeit des VR zur Vertragsanpassung

    Nach § 19 Abs. 4 S. 2 VVG kann der VR den Vertrag anpassen, wenn ein Rücktrittsgrund nach § 19 Abs. 2 VVG oder ein Kündigungsgrund nach § 19 Abs. 3 S. 2 VVG vorliegt, der Rücktritt oder die Kündigung aber nach § 19 Abs. 4 S. 1 VVG ausgeschlossen ist, weil der VN den Nachweis führen könnte, dass es an der Vertragskausalität fehlt. Die Rechte des VR nach § 19 Abs. 4 VVG entstehen also nur, wenn der VN seine Obliegenheit verletzt, dem VR die ihm bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung bekannten Gefahrumstände anzuzeigen.

    2. Obliegenheitsverletzung des VN bei der Anzeige

    Fraglich ist damit in entsprechenden Fällen, ob der VN bei Antragstellung seine Obliegenheiten verletzt hat, weil er die gestellten Gesundheitsfragen nicht korrekt beantwortet hat.

     

    a) In der Regel ist von grober Fahrlässigkeit auszugehen

    In der Regel handelt der VN mindestens grob fahrlässig, wenn er sich über präzise Fragen in dem Antragsformular hinwegsetzt (Prölss/Martin, a. a. O. § 19 VVG Rn. 110 m. w. N.).

     

    b) Ausnahmsweise liegt keine grobe Fahrlässigkeit vor

    Das OLG Dresden (6.12.22, 4 U 1215/22, Abruf-Nr. 235857) wies jedoch darauf hin, dass die Frage, ob die Überweisung an einen Facharzt und die Durchführung probatorischer Sitzungen ohne eine Therapie im eigentlichen Sinne bereits eine „Behandlung“ darstellt, nicht so eindeutig ist, dass deren Verkennung dem VN als grob fahrlässig angelastet werden könnte. Es müsse vielmehr im Einzelfall geprüft werden, welche Vorstellungen und Erinnerungen der VN gehabt habe.

     

    Dazu führt das OLG aus:

     

    „Entscheidend kommt es hier aber darauf an, dass die Klägerin in ihrer Anhörung für den Senat glaubhaft bekundet hat, sie habe den gesamten Sachverhalt, der im Antragszeitraum nahezu fünf Jahre zurücklag, aus dem Gedächtnis gelöscht, weil sie nicht aus eigenem Antrieb, sondern nur auf Drängen ihrer Mutter der Abklärung ihres „Lampenfiebers“ zugestimmt habe, bis auf ein „nettes Gespräch“ aus den probatorischen Sitzungen bei Dipl. Psych. S. nichts hervorgegangen sei und es anschließend in ihrem Leben zahlreiche einschneidende Veränderungen (Auslandsaufenthalt, Studienbeginn) gegeben habe. Bei Antragstellung seien ihr daher weder der Kontakt zu Frau Dr. M. noch die Sitzungen bei Dipl. Psych. S. mehr erinnerlich gewesen.

     

    Angesichts der auch in dem Gutachten des Dr. Dr. A. zum Ausdruck kommenden regressiven und zur Verdrängung neigenden Tendenzen im Persönlichkeitsbild der Klägerin sowie des Umstands, dass sie im Jahr 2008 gerade erst 18 Jahre alt war, hält der Senat diese Angaben für noch glaubhaft, auch wenn es grundsätzlich schwer vorstellbar erscheint, dass die Teilnahme an mehreren psychologischen Sitzungen rückblickend einfach vergessen werden kann.

     

    In ihrer persönlichen Anhörung vor dem Senat hat die Klägerin aber einen zwar psychisch stark beanspruchten, jedoch zugleich glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Ihre diesbezügliche Einlassung entspricht dem Vorbringen erster Instanz und ist damit auch konsistent, was ebenfalls für deren Glaubhaftigkeit spricht. Der Klägerin ist zwar vorzuwerfen, bei Antragstellung in ihrer Erinnerung nicht stärker nachgeforscht und auch ihre Mutter zu Arztterminen im Antragszeitraum nicht befragt zu haben, zumal sie sich den Vertrag selber vermittelt und angegeben hat, über die Folgen einer falsch beantworteten Antragsfrage geschult worden zu sein.

     

    Es kann aber dahinstehen, ob dieses Versäumnis seinerseits einen Fahrlässigkeitsvorwurf gegen die Klägerin begründen könnte, wobei auch zu berücksichtigen wäre, dass sie glaubhaft angegeben hat, sie hätte 2013 ohnehin auf Unterlagen aus dem Jahr 2008 keinen Zugriff mehr gehabt. Hierauf kommt es nämlich nicht an. Ein VN verletzt bereits seine Anzeigepflicht nicht, wenn er einen Umstand nicht angibt, der ihm aufgrund von Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist (BGH, Hinweisbeschluss vom 25.9.19, IV ZR 247/18, NJW-RR 20, 94 Rn. 16; so bereits BGH NJW-RR 09, 606; NJW-RR 94, 859).

     

    Fahrlässige Unkenntnis, wie sie hier möglicherweise gegeben ist, vermag mithin die fehlende Kenntnis eines anzeigepflichtigen Umstands nicht zu ersetzen (BGH a. a. O.).“

     

    c) Fragen nach offenkundig belanglosen Beeinträchtigungen

    Der VR darf zwar auch solche Beeinträchtigungen erfragen, die noch keinen Krankheitswert haben. Das folgt daraus, dass ihm allein die Entscheidung obliegt, unter welchen Voraussetzungen er einen Versicherungsvertrag abschließen will.

     

    Allerdings findet die weit gefasste Pflicht des VN zur Offenbarung ihre Grenze bei Gesundheitsbeeinträchtigungen, die offenkundig belanglos sind oder alsbald vergehen (OLG Dresden 29.4.21, 4 U 2453/20, Rn. 16, Abruf-Nr. 224088; 18.9.20, 4 U 1059/20, Rn. 4, Abruf-Nr. 219240). Dies prägt auch das Verständnis des Begriffs der „Beschwerden“ im Sinne der Antragsfragen.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2023 | Seite 155 | ID 49524486