30.10.2025 · IWW-Abrufnummer 250946
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern: Urteil vom 12.08.2025 – 5 SLa 128/24
Tenor: 1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 28.05.2024 - 1 Ca 225/23 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. 2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung.
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Die Beklagte betreibt ein Universitätsklinikum als Körperschaft des öffentlichen Rechts und beschäftigt etwa 4000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der im November 1966 geborene Kläger ist Volljurist und nahm bei der Beklagten am 01.08.2007 eine Beschäftigung als Personaldezernent auf. Der Arbeitsvertrag vom 07.05.2007 sieht eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 46 Stunden vor sowie eine feste Jahresgrundvergütung in Höhe von € 82.000,00 brutto, des Weiteren leistungs- und erfolgsbezogene Zahlungen und die Gestellung eines privat nutzbaren Dienstwagens.
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Wenige Monate nach seiner Einstellung verfasste der Kläger unter dem 19.12.2007 einen Verfügungsvermerk, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass dem ihm vorgesetzten Kaufmännischen Vorstand, Herrn G., eine betriebliche Altersversorgung zusteht. Der Kläger bezog sich auf die schriftliche Geltendmachung durch Herrn G. vom 18.12.2007 und dessen Dienstvertrag vom 24./30.10.2006 mit einer Bezugnahmeklausel, nach der die jeweils geltenden Tarifverträge Anwendung finden, soweit im Dienstvertrag nichts Abweichendes geregelt ist. Aufgrund dessen hielt er eine im Rahmen der Ausschlussfrist rückwirkende Einrichtung einer betrieblichen Altersversorgung für geboten. Die Beklagte richtete daraufhin für Herrn G. eine solche betriebliche Altersversorgung ein.
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Mit Änderungsvertrag vom 23.10.2014, wirksam zum 01.01.2015, regelten die Parteien u. a. die Vergütung und die Arbeitsaufgabe neu, wobei sie die Bestellung des Klägers zum Datenschutzbeauftragten (soweit Angelegenheiten des Personaldezernats nicht berührt werden) und seine Bestellung zum 2. Abfallbeauftragten einbezogen. Einen weiteren Änderungsvertrag schlossen die Parteien am 18.09.2015. Danach wird der Kläger ab 17.09.2015 im Umfang von 25 % seiner Arbeitszeit als Justiziar sowie als 2. Abfallbeauftragter weiterbeschäftigt. Im Übrigen sieht der Vertrag eine Freistellung zu 75 % seiner Arbeitszeit für Aufgaben des behördlichen Datenschutzbeauftragten sowie des Konzernbeauftragten für den Datenschutz vor. Des Weiteren heißt es unter Ziffer 5 des Änderungsvertrages:
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Bei den Personalratswahlen im Jahr 2017 wurde der Kläger in den Gesamtpersonalrat gewählt.
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Der frühere Kaufmännische Vorstand, Herr G., der zum Jahresende 2014 ausgeschieden war, erhielt im Jahr 2017 eine Einmalzahlung aus der betrieblichen Altersversorgung in Höhe von € 260.395,91. Die Beklagte versuchte daraufhin, ihn in Regress zu nehmen, und reichte Klage beim Landgericht Stralsund ein, die im Ergebnis erfolglos blieb.
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Mit Schreiben vom 28.02.2018 beantragte die Beklagte beim Gesamtpersonalrat die Zustimmung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Änderungskündigung des Klägers, versehen mit dem Änderungsangebot, anschließend als Jurist beim Kaufmännischen Vorstand und als 2. Abfallbeauftragter mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden und der dem Tarifvertrag entsprechenden Vergütung weiterzuarbeiten. Der Gesamtpersonalrat stimmte der außerordentlichen Änderungskündigung unter dem 08.03.2018 nicht zu. Ebenso lehnte der Personalrat für die nicht wissenschaftlich Beschäftigten mit Schreiben vom 13.03.2018 eine solche Änderungskündigung ab. Die Beklagte wandte sich daraufhin an das Verwaltungsgericht, um die Zustimmung gerichtlich ersetzen zu lassen.
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Am 10.09.2018 führte die Beklagte mit dem Kläger ein Personalgespräch zu den Vorwürfen, für den damaligen Kaufmännischen Vorstand, Herrn G., in kollusivem Zusammenwirken rechtswidrig eine Versorgungszusage eingerichtet zu haben und bei der eigenen Versorgungszusage ebenfalls ohne wirksame Rechtsgrundlage vorgegangen zu sein. Anschließend stellte die Beklagte ihn unwiderruflich von der Arbeit frei und erteilte ihm Hausverbot mit Ausnahme einer eigenen medizinischen Behandlung oder des Besuchs von behandelten Familienangehörigen 1. Grades. Der Antrag des Klägers auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, ihm Zutritt für die Tätigkeit als Mitglied des Gesamtpersonalrats zu gewähren, blieb sowohl beim Verwaltungsgericht Greifswald als auch beim Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern ohne Erfolg. Die Beklagte beantragte mit Schreiben vom 13.09.2018 sowohl beim Personalrat für die nicht wissenschaftlich Beschäftigten als auch beim Gesamtpersonalrat die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Klägers, hilfsweise mit Auslauffrist. Da die Personalräte ihre Zustimmung verweigerten, wandte sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 23.09.2018 an das Verwaltungsgericht Greifswald (Aktenzeichen 7 A 1419/18). Eine Entscheidung liegt bislang nicht vor.
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Bei den Personalratswahlen im Jahr 2021 wurde der Kläger sowohl für den Personalrat der nicht wissenschaftlich Beschäftigten als auch für den Gesamtpersonalrat als Ersatzmitglied gewählt. Beim Personalrat der nicht wissenschaftlich Beschäftigten stand er an 16. Stelle der Ersatzmitglieder, beim Gesamtpersonalrat an 6. Stelle der Ersatzmitglieder. Die Amtszeit des neuen Gesamtpersonalrats begann am 03.06.2021. Der Vorsitzende des Gesamtpersonalrats verzichtete wegen des gegen den Kläger verhängten Hausverbots darauf, ihn zu Sitzungen heranzuziehen, und griff stattdessen am 13.10.2021, 17.08.2022 sowie im Jahr 2023 auf das 7. Ersatzmitglied der entsprechenden Liste zurück. Die Beklagte war trotz Aufforderung des Gesamtpersonalrats und des Klägers nicht bereit, die Sitzungsteilnahme vom Hausverbot auszunehmen.
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Mit E-Mail vom 22.10.2021 teilte der Kläger der Beklagten mit, seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt beantragt zu haben. Zum 01.01.2022 gründete er zusammen mit dem in L-Stadt ansässigen Rechtsanwalt P. eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, in der er seitdem als zugelassener Rechtsanwalt tätig ist. Die Kanzlei verfügt über zwei Standorte, zum einen das Büro L-Stadt, betreut von Rechtsanwalt P., und zum anderen das Büro G-Stadt, betreut vom Kläger. Mit E-Mail vom 14.01.2022 teilte der Kläger der Beklagten den Kanzleinamen mit und erklärte, in Auseinandersetzungen mit Beschäftigten der Beklagten im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses nicht als Sachbearbeiter tätig zu werden.
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Mit Schreiben vom 05.07.2023 forderte Rechtsanwalt P. von der Beklagten für seine Mandantin, die dort beschäftigte Frau L., die Übernahme der Kosten in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Gegenstand dieses Verfahrens ist ein Antrag des Personalrats für die nicht wissenschaftlich Beschäftigten, Frau L. wegen unentschuldigten Fehlens bei Personalratssitzungen aus dem Personalrat auszuschließen. Das Schreiben trägt im Absenderfeld den Namen des Klägers und die Adresse des G-Stadter Büros. Zudem findet sich im Aktenzeichen das Namenskürzel des Klägers (87/23HRO/bo//bo).
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Mit Schreiben vom 07.08.2023 wandte sich Rechtsanwalt P. unter der Kanzleianschrift L-Stadt in einem zumindest seit 10.09.2021 bestehenden Mandat für die Mitarbeiterin L. an die Beklagte. Gegenstand des Schreibens ist die vertragsgerechte Beschäftigung von Frau L. nach dem Ende der Freistellung als Mitglied des Personalrats.
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Mit Schreiben vom 08.08.2023 zeigte Rechtsanwalt P., ebenfalls unter der L-Stadt Kanzleianschrift, die Vertretung der rechtlichen Interessen von Frau K., Stationsleitung Urologie, an. Bei diesem Mandat geht es um Freistellung und Schlüsselübergabe sowie die Abholung von privaten Gegenständen.
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Das Schreiben vom 23.08.2023, unterzeichnet von Rechtsanwalt P., aber versehen mit dem Namen des Klägers, der Adresse des Büros G-Stadt und dem Aktenkürzel des Klägers (127/23HRO/bo//bo), betrifft die Vertretung der rechtlichen Interessen der Mitarbeiterin L., Stationsleitung auf der Chirurgie, und deren beabsichtigte Entbindung von dieser Tätigkeit nebst Gehaltskürzung.
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Die Beklagte beantragte unter dem 07.09.2023 bei dem Personalrat für die nicht wissenschaftlich Beschäftigten dessen Zustimmung zu der beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger. Zur Begründung der Kündigungen bezog sich die Beklagte auf die gegen sie geführten Mandate der Anwaltskanzlei und einen sich daraus ergebenden Verstoß des Klägers gegen die Loyalitätspflicht. Der Personalrat stimmte der Maßnahme am 19.09.2023 zu.
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Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger mit Schreiben vom
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20.09.2023, zugegangen am 22.09.2023, außerordentlich und hilfsweise ordentlich zum 31.03.2024. Mit Schreiben vom 26.09.2023 wies der Kläger die Kündigung mangels Vorlage einer Vollmacht für den Erstunterzeichner, der kein gesetzlicher Vertreter der Beklagten sei, zurück. Der durchschnittliche monatliche Verdienst des Klägers belief sich zuletzt auf etwa € 11.000,00 brutto. Der Kläger ist verheiratet und hat zwei Kinder.
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Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung unwirksam sei. Er habe seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nicht verletzt. Bei Gründung der Rechtsanwalts-Gesellschaft zum 01.01.2022 sei vereinbart worden, dass die Sachbearbeitung in Mandaten gegen die Beklagte ausschließlich von Rechtsanwalt P. wahrgenommen werde. Dem habe die Überlegung zugrunde gelegen, dass der Kläger aufgrund der zahlreichen eigenen Auseinandersetzungen mit der Beklagten möglicherweise nicht hinreichend konstruktiv vorgehen könne. Alle Mandate gegen die Beklagte habe ausschließlich Rechtsanwalt P. bearbeitet. Der Kläger sei nicht, wie von der Beklagten behauptet, im Hintergrund tätig gewesen. Soweit der Briefkopf und das Namenskürzel des Klägers verwandt worden seien, handele es sich schlichtweg um ein Versehen der Auszubildenden. Diese sei darüber belehrt worden, dass Mandate mit Bezug zur Beklagten ausschließlich von Rechtsanwalt P. bearbeitet würden und mit dessen Aktenkürzel zu versehen seien. Da sich die Auszubildende durchweg überfordert gezeigt habe, sei das Ausbildungsverhältnis im September 2023 durch Aufhebungsvertrag beendet worden. Selbst wenn der Kläger die Mandate bearbeitet hätte, wäre dies keine Pflichtverletzung gewesen. Vielmehr verletze die Beklagte nach wie vor ihre Pflicht, den Kläger vertragsgerecht zu beschäftigen. Des Weiteren fehle es an einer Abmahnung. Im Übrigen greife der besondere Kündigungsschutz als Ersatzmitglied des Gesamtpersonalrats. Da die Beklagte durch das Hausverbot seine Heranziehung rechtswidrig verhindert habe, müsse sie sich so behandeln lassen, als hätte der Kläger an den genannten drei Sitzungen ordnungsgemäß teilgenommen. Zudem habe die Beklagte den Gesamtpersonalrat nicht um Zustimmung ersucht. Abgesehen davon unterliege der Kläger dem Sonderkündigungsschutz als Datenschutzbeauftragter und Abfallbeauftragter.
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Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,
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1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche und fristlose Kündigung der Beklagten vom 20.09.2023, zugegangen am 22.09.2023, nicht aufgelöst worden ist,
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2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 20.09.2023, zugegangen am 22.09.2023, zum Ablauf des 31.03.2024 nicht aufgelöst worden ist.
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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.Das Arbeitsverhältnis habe bereits durch die außerordentliche Kündigung geendet. Der Kläger habe seine Loyalitätspflicht gegenüber der Beklagten schwerwiegend verletzt. Bei den von der Anwaltskanzlei gegen die Beklagte geführten Mandaten sei er jedenfalls im Hintergrund auch beratend tätig gewesen. Auch habe er als Mitgesellschafter finanziell von den Mandaten profitiert. Einer vorherigen Abmahnung habe es nicht bedurft, da es sich um eine schwerwiegende Pflichtverletzung im Vertrauensbereich handele. Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB sei gewahrt, da ein Dauertatbestand vorliege.
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Das Arbeitsgericht hat der Klage entsprochen und zur Begründung ausgeführt, dass sich dem Vorbringen der Beklagten eine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung nicht entnehmen lasse. Die Behauptung der Beklagten, der Kläger sei jedenfalls im Hintergrund beratend tätig gewesen, reiche ebenso wenig aus wie das anwaltliche Aktenzeichen des Klägers auf dem Briefbogen. Abgesehen davon habe die Beklagte den Kläger zu keinem Zeitpunkt abgemahnt.
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Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Das Arbeitsgericht habe im Hinblick auf die dem Kläger vorgeworfene Pflichtverletzung nicht berücksichtigt, dass der Kläger als Gesellschafter von den Anwaltshonoraren, eben auch denen der Mandate gegen die Beklagte, profitiere. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht von der Beklagten einen konkreten Nachweis des Tätigwerdens im Hintergrund gefordert, was die Beklagte mangels eigener Wahrnehmung gar nicht leisten könne. Vielmehr sei die Interessenkollision offensichtlich. Es bestehe die Gefahr, dass der Kläger unbewusst oder bewusst Informationen zum Nachteil der Beklagten weitergebe. Eine Abmahnung sei entbehrlich gewesen. Der Kläger habe nicht davon ausgehen können, dass die Beklagte das Vorgehen gegen sie hinnehmen werde. Das Vertrauensverhältnis sei zerstört. Der Beklagten sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht einmal bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 28.05.2024 - 1 Ca 225/23 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
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Er verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Tätigkeit des Klägers in der gemeinsamen Kanzlei beeinträchtige die Interessen der Beklagten in keiner Weise. Der Kläger habe keine Mandate gegen die Beklagte bearbeitet, sondern dafür gesorgt, dass dies gerade nicht geschehe. Der Kläger habe solche Mandate auch nicht vertretungsweise bei Abwesenheit von Rechtsanwalt P. bearbeitet. Zudem sei die Kanzlei kein Wettbewerber der Beklagten, da die Beklagte keine Rechtsdienstleistungen anbiete. Zudem habe die Beklagte den Personalrat nicht ordnungsgemäß unterrichtet. Sie habe ihm gegenüber behauptet, dass der Kläger im Hintergrund auch beratend tätig gewesen sei, was aber inhaltlich falsch sei. Allenfalls könne es sich um einen Verdacht handeln, was die Beklagte dem Personalrat jedoch nicht offengelegt habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle und das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht entsprochen.
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Die außerordentliche Kündigung vom 20.09.2023 ist ebenso unwirksam wie die unter dem gleichen Datum hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung. Die außerordentliche Kündigung verstößt gegen § 626 Abs. 1 BGB , die ordentliche Kündigung gegen § 1 KSchG .
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Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht ( BAG, Urteil vom 14. Dezember 2023 - 2 AZR 55/23 - Rn. 14, juris = ZTR 2024, 155; BAG, Urteil vom 27. Juni 2019 - 2 AZR 50/19 - Rn. 12, juris = NZA 2019, 1345; BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 15, juris = NZA 2019, 445).
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Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB , ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der - fiktiven - Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen ( BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 28, juris = NZA 2019, 445). Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein "schonenderes" Gestaltungsmittel - etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung - gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese ( BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 29, juris = NZA 2019, 445).
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Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten ( § 241 Abs. 2 BGB ).
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Ein Arbeitnehmer hat in Anbetracht seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung zur Ausübung von Nebentätigkeiten, sofern diese die betrieblichen Interessen nicht beeinträchtigen. Außerhalb der Arbeitszeit steht ihm die Verwendung seiner Arbeitskraft grundsätzlich frei. Soweit die Nebentätigkeit beruflicher Natur ist, kann er sich auf das Grundrecht der freien Berufswahl berufen ( Art. 12 Abs. 1 GG ). Nichtberufliche Tätigkeiten sind durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ( Art. 2 Abs. 1 GG ) geschützt. Der Arbeitnehmer hat jedoch jede Nebentätigkeit zu unterlassen, die mit seiner Arbeitspflicht kollidiert. Das ist der Fall, wenn sie gleichzeitig mit der Haupttätigkeit ausgeübt werden soll oder bei nicht gleichzeitiger Ausübung dann, wenn die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung unter ihr leidet. Solche Nebentätigkeiten stellen eine Verletzung der Arbeitspflicht dar. Zu unterlassen sind ferner Nebentätigkeiten, die gegen das vertragliche Wettbewerbsverbot verstoßen oder sonst einen Interessenwiderstreit hervorrufen, der geeignet ist, das Vertrauen des Arbeitgebers in die Loyalität und Integrität des Arbeitnehmers zu zerstören ( BAG, Beschluss vom 13. Mai 2015 - 2 ABR 38/14 - Rn. 21, juris = ZTR 2016, 112; BAG, Urteil vom 13. März 2003 - 6 AZR 585/01 - Rn. 21, juris = NZA 2003, 976). Dasselbe ergibt sich auch aus dem Änderungsvertrag der Parteien vom 18.09.2015. Danach dürfen Nebentätigkeiten der Art und dem Umfang nach nicht im Konflikt zu den Interessen der Universitätsmedizin oder zu der wahrgenommenen Funktion des Arbeitnehmers stehen.
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Die Tätigkeit des Klägers in der zusammen mit Herrn P. geführten Anwaltskanzlei stellt - wenn auch in weitem Sinne - bezogen auf das fortbestehende Arbeitsverhältnis eine Nebentätigkeit dar. Der Kläger übt die anwaltliche Tätigkeit außerhalb des Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten aus.
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Die Nebentätigkeit des Klägers in der Anwaltskanzlei kollidiert dem zeitlichen Umfang nach nicht mit dem Arbeitsverhältnis, da er aufgrund der vollständigen Freistellung keine Arbeitsleistungen zu erbringen hat.
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Des Weiteren ist eine Interessenkollision auszuschließen, soweit der Kläger oder sein Mitgesellschafter Mandate ohne Bezug zur Beklagten und ihren konzernangehörigen Gesellschaften bearbeiten. Die anwaltliche Tätigkeit verstößt nicht gegen das vertragliche Wettbewerbsverbot ( § 60 HGB ). Die Kanzlei ist kein Wettbewerber der Beklagten.
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Der Bezug von Einnahmen aus der Anwaltstätigkeit beeinträchtigt die Interessen der Beklagten ebenfalls nicht. Vielmehr verringern sich dadurch ggf. die dem Kläger zu zahlenden Gehälter durch Erzielung anrechenbaren Zwischenverdienstes ( § 615 Satz 2 BGB ).
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Ob der Kläger, wie von der Beklagten behauptet, in den vier Mandaten gegen die Beklagte - in welcher Art und Weise auch immer - im Hintergrund beratend tätig war, kann dahinstehen. Greifbare Anzeichen hierfür gibt es ohnehin nur bei zwei Mandaten, bei denen Rechtsanwalt P. jeweils ein außergerichtliches Schreiben auf dem Briefkopf des Klägers mit dessen Aktenzeichen unterzeichnet hat. Bei den anderen beiden Mandaten fehlen derartige Anhaltspunkte. Allein die räumliche Nähe des G-Stadter Anwaltsbüros zu dem in derselben Stadt befindlichen Standort der Beklagten lässt derartige Rückschlüsse nicht zu. Auch spricht die Größe der Kanzlei nicht dafür, dass sich die Gesellschafter über sämtliche Verfahren wechselseitig austauschen und sich stets gemeinsam kollegial beraten.
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Selbst wenn der Kläger bei zumindest zwei oder auch vier Mandaten im Hintergrund beratend tätig gewesen wäre, also z. B. Schreiben entworfen, Mandantengespräche geführt oder einschlägige Rechtsprechung bzw. Literatur recherchiert hätte, läge angesichts der zu diesem Zeitpunkt annähernd fünf Jahre andauernden Freistellung mit Hausverbot und angesichts der Streitgegenstände sowie der vertretenen Personen keine pflichtwidrige, den Interessen der Beklagten zuwiderlaufende Nebentätigkeit vor.
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Im Rahmen der vier Mandate hat die Beklagte weder einen materiellen noch einen immateriellen Schaden erlitten noch war ein solcher zu befürchten. Soweit der Beklagten aus den Mandaten Anwalts- und sonstige Kosten entstanden (z. B. Kostenübernahmeerklärung in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf Ausschluss aus dem Personalrat), war sie ohnehin rechtlich verpflichtet, diese zu tragen. Hätte eine andere Kanzlei das Mandat betreut, wären diese Kosten ebenfalls angefallen. Darüber hinaus werden in keinem der vorliegenden Schreiben vertrauliche Informationen, die der Kläger aufgrund seines Arbeitsverhältnisses erlangt hat oder haben könnte, verwertet. Angesichts der mehrjährigen Freistellung und der fehlenden Zutrittsmöglichkeit zu den Räumlichkeiten der Beklagten aufgrund des Hausverbots bestand - anders als in einem aktiv ausgeübten Arbeitsverhältnis - diesbezüglich keine Gefahr mehr. Ebenso wenig bestand die Gefahr einer direkten oder indirekten Einflussnahme auf Entscheidungsträger zugunsten der eigenen Mandantschaft. Darüber hinaus führt eine anwaltliche Tätigkeit gegen die Beklagte auch nicht zu einer Rufschädigung oder zu einem Ansehensverlust in der Öffentlichkeit.
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Selbst wenn eine beratende Tätigkeit im Hintergrund eine Pflichtverletzung darstellen würde, wäre diese nicht derart schwerwiegend, dass eine Abmahnung entbehrlich wäre.
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Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist ( BAG, Urteil vom 20. Mai 2021 - 2 AZR 596/20 - Rn. 27 = NZA 2021, 1178). Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann ( BAG, Urteil vom 20. Mai 2021 - 2 AZR 596/20 - Rn. 28 = NZA 2021, 1178 [BAG 27.04.2021 - 9 AZR 662/19] ).
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Die - von der Beklagten behauptete - beratende Tätigkeit im Hintergrund wäre nur dann eine schwerwiegende Pflichtverletzung, deren Hinnahme erkennbar ausgeschlossen ist, wenn die Interessen der Beklagten in erheblichem Umfang beeinträchtigt worden wären bzw. dies zu befürchten wäre, also beispielsweise bei erheblichen materiellen oder immateriellen Schäden, einem Missbrauch vertraulicher Informationen bzw. interner Kontakte oder dem Einsatz unlauterer Mittel. Rechtliche Auskünfte bei kleineren Meinungsverschiedenheiten zählen jedenfalls nicht hierzu. Abgesehen davon ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer berechtigten Abmahnung nach Rücksprache mit dem anderen Gesellschafter davon abgesehen hätte, Mandate gegen die Beklagte in der Kanzlei zu bearbeiten.
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Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 20.09.2023 ist nach § 1 KSchG unwirksam, da sie nicht durch Gründe im Verhalten des Klägers bedingt ist. Es fehlt, wie bereits dargelegt, an einer Pflichtverletzung. Die Ausführungen zur außerordentlichen Kündigung gelten entsprechend.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 , § 97 Abs. 1 ZPO . Die zurückgenommene Anschlussberufung mit dem Antrag, den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses feststellen zu lassen (sog. Schleppnetzantrag), hat keine weiteren Kosten verursacht. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.