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  • 31.05.2012 · IWW-Abrufnummer 121799

    Landesarbeitsgericht Niedersachsen: Urteil vom 14.12.2011 – 2 Sa 97/11

    Mit der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters gemäß § 35 Abs. 2 InsO geht die Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverhältnisse mit sofortiger Wirkung wieder auf den Schuldner über. Der Insolvenzverwalter ist für eine Kündigungsschutzklage nach Abgabe der Freigabeerklärung nicht mehr passivlegitimiert.


    Tenor:

    Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 26. Oktober 2010 - 2 Ca 294/10 - abgeändert.

    Die Klage wird abgewiesen.

    Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

    Die Revision wird zugelassen.

    Tatbestand

    Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung und über die Passivlegitimation des beklagten Insolvenzverwalters.

    Der am 18. August 1984 geborene Kläger war seit dem 06. Mai 2010 bei Herrn M., der als Einzelunternehmer einen Kurier- und Kleinsttransportbetrieb führte, beschäftigt. Der Kläger sollte ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 1.250,00 € erhalten. Eine Probezeit wurde nicht vereinbart und ein schriftlicher Arbeitsvertrag nicht abgeschlossen.

    Mit Schreiben vom 13. Mai 2010 erklärte Herr M. gegenüber dem Kläger die außerordentliche Kündigung wegen Wegfalles eines Auftraggebers und Insolvenz (Bl. 8 d.A.). Das Kündigungsschreiben ging dem Kläger am 15. Mai 2010 zu.

    Mit Beschluss vom 20. Mai 2010 - 274 IN 157/10 b - eröffnete das Amtsgericht Braunschweig - Insolvenzgericht - das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Herrn M. (zukünftig: Schuldner) und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter (Bl. 15, 16 d.A).

    Mit Schreiben vom 20. Mai 2010 erklärte der Beklagte gegenüber dem Schuldner mit, dass er die von ihm ausgeübte selbständige Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse frei gebe, da die Einnahmen aus der beabsichtigten selbständigen Tätigkeit lediglich die Grundlage für seinen Lebensunterhalt bildeten und etwaig entstehende Kosten die Einkünfte für die Masse voraussichtlich übersteigen würden (Bl. 20, 21 d.A.). Das Schreiben ging dem Schuldner am 21. Mai 2010 zu. Auf das Schreiben reagierte er nicht.

    Mit Schreiben vom 20. Mai 2010 teilte der Beklagte dem Finanzamt Wolfenbüttel sowie dem Amtsgericht Braunschweig - Insolvenzgericht - mit, dass er gemäß § 35 Abs. 2 InsO den Geschäftsbetrieb des Schuldners aus der Insolvenzmasse freigegeben habe. Am 25. Mai 2010 erfolgte unter www.insolvenzbekanntmachungen.de der Eintrag betreffend die Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 InsO (Bl. 30, 31 d.A.).

    Mit seiner am 01. Juni 2010 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen Klage wehrte sich der Kläger gegen die außerordentliche Kündigung. Er rügte das Vorliegen von Gründen für eine außerordentliche Kündigung und machte geltend, dass Arbeitsverhältnis hätte nur ordentlich mit Ablauf des 15. Juni 2010 gekündigt werden können. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der Beklagte sei passiv legitimiert. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei er in die Stellung des Arbeitgebers eingerückt und sei Partei kraft Amtes. Dem stehe nicht entgegen, dass der Beklagte am 20. Mai 2010 im Zuge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Geschäftsbetrieb des Schuldners aus der Insolvenzmasse freigegeben habe.

    Der Kläger hat beantragt,

    festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche Kündigung des Schuldners vom 13. Mai 2010 nicht fristlos, sondern fristgemäß zum 15. Juni 2010 aufgelöst worden ist.

    Der Beklagte hat beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Kündigungsschutzklage hätte gegen den Schuldner gerichtet werden müssen. Die Freigabeerklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO habe sämtliche Dauerschuldverhältnisse, auch das Arbeitsverhältnis des Klägers, erfasst. Der Schuldner habe die Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverträge wieder erhalten. Infolgedessen er sei in diesem Rechtsstreit nicht passiv legitimiert.

    Das Arbeitsgericht Braunschweig hat der Klage stattgegeben und ausgeführt, die Kündigungsschutzklage sei zutreffend gegen den Beklagten gerichtet worden. Werde das Insolvenzverfahren eröffnet und kündige der Insolvenzverwalter, so sei er in seiner Eigenschaft als Partei kraft Amtes zu verklagen. Nichts anderes gelte, wenn der Schuldner vor Insolvenzeröffnung gekündigt habe. Auch in diesem Fall sei ab Insolvenzeröffnung der Insolvenzverwalter richtiger Adressat der Kündigungsschutzklage. Daran habe die am 20. Mai 2010 erfolgte Freigabeerklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO nichts geändert. Der Beklagte habe das zu Lasten der Masse bestehende Arbeitsverhältnis des Klägers nicht einseitig freigeben können. Eine solche einseitige Freigabe könne sich nur auf Massegegenstände, nicht hingegen auf zweiseitig bindende Verträge beziehen. Dem Beklagten sei es ohne Zustimmung des Klägers nicht möglich gewesen, durch die einseitige Freigabeerklärung die Arbeitgeberstellung des Schuldners wieder aufleben zu lassen. In Ermangelung eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626 BGB sei das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 13. Mai 2010 nicht fristlos beendet worden. Die unwirksame außerordentliche Kündigung vom 13. Mai 2010 sei in eine fristgemäße Kündigung zum 15. Juni 2010 umzudeuten.

    Das am 26. Oktober 2010 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig ist dem Beklagten am 20. Dezember 2010 zugestellt worden. Hiergegen hat er mit einem beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen am 19. Januar 2011 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 10. Februar 2011 eingegangenen Schriftsatz begründet.

    Der Beklagte macht geltend, im Zeitpunkt der Erhebung der Kündigungsschutzklage am 01. Juni 2010 habe er nicht die Prozessführungsbefugnis aus § 80 InsO für den Kündigungsrechtsstreit besessen. Die vom Arbeitsgericht vertretene Rechtsauffassung widerspreche den vom Gesetzgeber mit der Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Zielen. Sinn und Zweck der Freigabe sei die Förderung der Selbständigkeit des Schuldners. Aufgrund der Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 InsO sei der Geschäftsbetrieb des Schuldners nicht Gegenstand der vom Beklagten verwalteten Insolvenzmasse. Bei der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO handele es sich um eine Freigabe des Vermögens, das der gewerblichen Tätigkeit gewidmet sei, einschließlich der dazugehörenden Vertragsverhältnisse. Dementsprechend erhalte der Schuldner auch die Verfügungsbefugnis über die zu dem Geschäftsbetrieb gehörenden Vertragsverhältnisse. Würde man seine Passivlegitimation annehmen, so würde dem Schuldner die Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverträge entzogen. Gerade der Kündigungsschutzprozess biete vielfältige Möglichkeiten, um auf die Frage des Bestandes eines Arbeitsverhältnisses einzuwirken. Diese Möglichkeiten wären dem Schuldner verwehrt, würde man die Passivlegitimation des Insolvenzverwalters annehmen. Folgerichtig hätte die Kündigungsschutzklage nicht gegen ihn, sondern gegen den Schuldner gerichtet werden müssen.

    Der Beklagte beantragt,

    das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 26. Oktober 2010 - 2 Ca 294/10 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

    Der Kläger beantragt,

    die Berufung zurückzuweisen.

    Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend nach Maßgabe seines Schriftsatzes vom 01. März 2011 (Bl. 120 f. d.A.).

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst den zu den Akten gereichten Anlagen Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe

    I. Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher insgesamt zulässig (§§ 64, 66 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO).

    II. Die Berufung des Beklagten ist begründet.

    1. Die Klage ist zulässig. Die Frage der Passivlegitimation des Beklagten betrifft die Begründetheit und nicht die Zulässigkeit der Klage.

    2. Die Klage ist unbegründet. Der Beklagte ist für das vorliegende Kündigungsschutzverfahren nicht passiv legitimiert.

    a. Zunächst ist der Beklagte mit dem Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 10. Mai 2010 um 13:00 Uhr als bestellter Insolvenzverwalter in die Rechtsstellung des Schuldners eingetreten. Hat der spätere Schuldner gekündigt, ist ab dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung der Insolvenzverwalter regelmäßig alleiniger richtiger Adressat der Kündigungsschutzklage (LAG Hessen, 17. Mai 2002 - 15 Ta 77/02 - AR-Blattei ES 1020.3 Nr. 23; KR-Friedrich, Gemeinschaftskommentar Kündigungsschutzgesetz, 9. Aufl., § 4 KSchG, Rn. 97 a; APS/Ascheid/Hesse, Kündigungsrecht, 3. Aufl., § 4 KSchG, Rn. 52 jeweils m.w.N.). Die Klage ist gegen den Insolvenzverwalter zu richten, der gemäß § 80 InsO Partei kraft Amtes ist.

    b. Das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Schuldner zählte auf Grund der Freigabeerklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO durch den Beklagten zum Zeitpunkt der Klagerhebung am 01. Juni 2010 nicht zur Insolvenzmasse.

    aa. Der Beklagte hat mit Schreiben vom 20. Mai 2010 gegenüber dem Schuldner mitgeteilt, dass er die vom Schuldner ausgeübte selbständige Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse frei gebe. Bei der Erklärung des Beklagten vom 20. Mai 2010 handelt es sich um eine einseitige, bedingungsfeindliche und unwiderrufliche Willenserklärung (vgl. Regierungsentwurf BT-Drucksache 16/3227, S. 17), die mit Zugang bei dem Schuldner am 21. Mai 2010 wirksam wurde. Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO trifft den Insolvenzverwalter hinsichtlich der Freigabeerklärung zusätzlich eine Anzeigepflicht gegenüber dem Gericht. Nach § 35 Abs. 3 Satz 2 InsO hat das Gericht die Freigabeerklärung im Sinne von § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO öffentlich bekannt zu machen, damit die Neugläubiger und der allgemeine Rechtsverkehr stets darüber informiert sind, ob die Masse für die Verbindlichkeiten aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners haftet. Die Art und Weise der öffentlichen Bekanntmachung erfolgt nach Maßgabe des § 9 InsO. Dieser Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Schuldner hat mit Schreiben vom 20. Mai 2010 gegenüber dem Amtsgericht Braunschweig - Insolvenzgericht - und dem Finanzamt Wolfenbüttel angezeigt, dass er den Geschäftsbetrieb des Schuldners gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigegeben habe. Die Freigabe wurde auch öffentlich bekannt gemacht. Der Eintrag unter www.insolvenzbekanntmachungen.de erfolgte am 25. Mai 2010.

    bb. Sinn und Zweck der Regelung des § 35 Abs. 2 InsO ist es, dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit zu eröffnen, eine für die Masse verlustbringende Betriebsfortführung an den Schuldner freizugeben und ihm weiter eine selbständige Tätigkeit mit klarer und verlässlicher Zuweisung des Neuerwerbs und damit auch Rechtssicherheit für die Gläubiger des Schuldners zu ermöglichen (Regierungsentwurf BT-Drucksache 16/3227,S. 17; BGH, 18. Februar 2010 - IX ZR 61/09 - NJW-RR 2010, 860). Im Regierungsentwurf BT-Drucksache 16/3227, S. 17 ist ausgeführt:

    "Ein Weg, dem Insolvenzschuldner die Möglichkeit einer selbständigen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu eröffnen, ist eine Art "Freigabe" des Vermögens, das der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der dazu gehörenden Vertragsverhältnisse. Eine vergleichbare Regelung findet sich bereits in § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO hinsichtlich der Wohnung des Schuldners. Den Neugläubigern, also den Gläubigern, die nach Eröffnung des Verfahrens mit dem Schuldner kontrahiert haben, stehen, sofern eine entsprechende Erklärung des Verwalters vorliegt, als Haftungsmasse die durch die selbständige Tätigkeit erzielten Einkünfte zur Verfügung. Eine Verpflichtung der Insolvenzmasse durch die Tätigkeit des Schuldner scheidet dann von vornherein aus."

    Dieser besondere Art und Freigabe betreffe eine "Gesamtheit von Gegenständen und Werten" (Regierungsentwurf BT-Drucksache 16/3227, 26 f.).

    cc. Die arbeitsrechtliche Wirkungen der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO liegen in dem Übergang der Arbeitgeberstellung. Die Haftung der Insolvenzmasse wird mit Wirksamwerden der Freigabe beendet. Der Schuldner tritt (wieder) in die Arbeitgeberstellung ein und wird damit Träger der Rechte und Pflichten aus den bestehenden Arbeitsverhältnissen. Dies betrifft die Arbeitsverhältnisse, die bereits vor Insolvenzeröffnung sowie darüber hinaus bestanden und nunmehr im Wege der Freigabe dem Schuldner zugewiesen werden. Der Schuldner erlangt damit wieder die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, die durch die Insolvenzeröffnung gemäß § 80 InsO (zunächst) auf den Insolvenzverwalter überging.

    Mit der Erklärung wird sämtlicher durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners erzielter Neuerwerb dem Schuldner zugewiesen und gehört nicht zur Insolvenzmasse. Damit steht dieser Neuerwerb auch den Neugläubigern als Haftungsmasse zur Verfügung. Dem Insolvenzverwalter verbleibt dabei ein Abführungsanspruch gegen den Schuldner entsprechend § 295 Abs. 2 InsO, der jedoch ausschließlich das Verhältnis zwischen Schuldner und Insolvenzverwalter betrifft (Lindemann, BB 2011, 2357 f.).

    dd. In der Rechtsprechung und Literatur wird allerdings nicht einheitlich beurteilt, ob durch die Freigabe die Arbeitsverhältnisse mit sofortiger Wirkung und ohne weitere Erklärung des Insolvenzverwalters auf den Schuldner übergehen oder ob es noch einer Kündigung durch den Insolvenzverwalter bedarf. In der Gesetzesbegründung findet sich lediglich der Hinweis, dass die Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldner "die dazu gehörenden Vertragsverhältnisse" einschließt (Regierungsentwurf, BT-Drucksache 16/3227, S. 17).

    aaa. Teilweise wird vertreten, dass die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erst nach Ablauf der sich aus den gesetzlichen Vorschriften der §§ 108, 109, 113 InsO ergebende Kündigungsfristen Wirkung entfaltet und die Masse bis zum Ablauf der Kündigungsfristen für die vertraglichen Ansprüche haftet. Diese Auffassung bezieht sich auf die in der Gesetzesbegründung angesprochene Parallele zur Regelung § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO. Der Insolvenzverwalter müsse die bestehenden Vertragsverhältnisse nicht kündigen, vielmehr werde die Kündigung durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ersetzt (Uhlenbruck/Hirte, Insolvenzordnung, 13. Aufl., § 35, Rn. 101; Heiße, ZVI 2007, 349, 354).

    bbb. Teilweise wird vertreten, dass die Erklärung des Insolvenzverwalters gemäß § 35 Abs. 2 InsO keinen Einfluss auf sämtliche zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestehenden Rechtsverhältnisse habe. Die Freigabe von Vertragsverhältnissen kenne die Insolvenzordnung nicht, sie sei auch nicht mit dem Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens geschaffen worden (Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung/Schumacher, 6. Aufl. § 35; Rn. 20). Wischemeyer/Schur vertreten die Auffassung, dass der Insolvenzverwalter neben der Erklärung gemäß § 35 Abs. 2 InsO verpflichtet sei, fortbestehende Dauerschuldverhältnisse zur Vermeidung von Masseverbindlichkeiten zu kündigen (Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242). Danach wäre eine Kündigungsfrist gemäß § 113 InsO von drei Monaten einzuhalten, sofern keine kürzeren arbeits- oder tarifvertraglichen Kündigungsfristen eingreifen.

    ccc. Ferner wird vertreten, dass die Arbeitsverhältnisse im Falle einer Erklärung des Insolvenzverwalters gemäß § 35 Abs. 2 InsO mit sofortiger Wirkung an den Schuldner zurück fallen. Eine Kündigung sei überflüssig (ArbG Berlin, 03. Juni 2010 - 35 Ca 2104/10 - ZIP 2010, 1914; ArbG Herne, 10. August 2010 - 2 Ca 350/10 - LAGE InsO § 35 Nr. 1; Hamburger Kommentar - Insolvenzordnung/Lüdtke § 35, Rn. 262 f.; Lindemann, BB 2011, 2357, 2360).

    ddd. Die Kammer folgt der letztgenannten Auffassung, weil sie dem Sinn und Zweck der Regelung in § 35 Abs. 2 InsO entspricht, wonach die Selbständigkeit des Schuldners gefördert und die Masse geschützt werden soll.

    § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO schränkt den in § 35 Abs. 1 InsO geregelten Grundsatz der Massezugehörigkeit des Neuerwerbs ohne Regelung von Übergangs- oder Kündigungsfristen ein. Mit der Erklärung wird das "rechtliche Band zur Masse sofort wieder zerschnitten" (Haameyer, ZInsO 2007, 696, 697). Die Erklärung entfaltet ihre Wirkungen ex nunc - mit Zugang -. Die Freigabe betrifft "eine Gesamtheit von Gegenständen und Werten" (BT-Drucksache 16/2337, 26 f.). Die Erklärung des Insolvenzverwalters wirkt sich auf alle bei Insolvenzeröffnung bestehenden Dauerschuldverhältnissen aus. Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst sämtliche Dauerschuldverhältnisse wie Miet-, Leasing-, Belieferungs-, Telekommunikations-, Versorgungs- und Versicherungsverträge und der Schuldner erhält wieder die Verfügungsbefugnis über solche Verträge zurück (Hamburger Kommentar - Insolvenzordnung/Lüdtke § 35, Rn. 263 m.w.N.). Dies muss auch für Arbeitsverhältnisse gelten.

    Die einschränkenden Auffassungen berücksichtigen nicht, dass dem Schuldner die Existenzgrundlage entzogen würde, wenn sämtliche berufsbezogenen Verträge beendet würden, weil es ihm im Insolvenzverfahren kaum möglich sein dürfte, neue Verträge zu angemessenen Konditionen abzuschließen. Zudem soll die Masse nur den Gläubigern dienen, deren Forderung vor Insolvenzeröffnung begründet worden ist (Hamburger Kommentar - Insolvenzordnung/Lüdtke aaO.). Auch das vom Bundesgerichtshof (18. Februar 2010 - IX ZR 61/09 -NJW-RR 2010, 860) hervorgehobene legislatorische Ziel, dem Insolvenzverwalter die Freigabe verlustreicher Betriebsführung zu ermöglichen, könnte nicht erreicht werden, wenn die Wirkung der Freigabe ggf. erst nach Ablauf der in § 115 InsO vorgesehenen dreimonatigen Höchstfrist eintreten würde (Lindemann, BB 2011, 2357, 2360).

    Stiller (ZInsO 2010, 1374) weist zutreffend daraufhin, dass bei schon bestehenden Arbeitsverhältnissen sowohl für den selbständig tätigen Schuldner als auch für den Insolvenzverwalter erhebliche praktische Probleme in der Übergangsphase bis zum Ablauf der Kündigungsfrist entstehen könnten. Der Insolvenzverwalter werde die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO nur abgeben, wenn eine Massemehrung im Interesse der Gläubiger nicht zu erwarten sei. Sei aber eine Massemehrung nicht zu erwarten und sei auch nicht absehbar, ob die bei Insolvenzeröffnung bereits beschäftigten Arbeitnehmer aus den Einnahmen der selbständigen Tätigkeit des Insolvenzschuldners oder aus der Masse vergütet werden könnten, müsste der Insolvenzverwalter die Arbeitnehmer unverzüglich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist freistellen, um eine persönliche Haftung für die Lohnansprüche wegen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung zu verhindern. Der Neuerwerb könne aufgrund der Negativerklärung ohnehin nicht zur Masse gezogen werden. Annahmeverzugslohnansprüche bis zum Ablauf der Kündigungsfrist als Masseforderung könnten ohnehin nicht verhindert werden. Es stelle sich die Frage, ob in diesem Fall ein Recht des Schuldners bestehe, den Arbeitnehmer trotz Freistellung durch den Insolvenzverwalters weiterzubeschäftigen und die Arbeitsleistung abzufordern. Offen sei auch, wen die Haftung treffe, wenn der Schuldner die Arbeitnehmer trotz Freistellungserklärung des Insolvenzverwalters vor Ablauf der Kündigungsfrist weiterbeschäftige und später die Lohnansprüche nicht erfüllen könne. Letztlich stelle sich die Frage, ob der Insolvenzverwalter durch eine Freistellung des Arbeitnehmers im Ergebnis dem Gesetzeszweck zuwider die Fortsetzung der selbständigen Tätigkeit des Schuldner erschweren oder sogar verhindern könne, wenn der Schuldner auf die Mitarbeit der Arbeitnehmer angewiesen sei.

    Nach alledem sprechen die besseren Gründe dafür, der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO eine sofortige Wirkung beizumessen. Somit erhielt der Schuldner mit Zugang der Erklärung des Beklagten gemäß § 35 Abs. 2 InsO am 21. Mai 2010 die Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverträge zurück mit der Folge, dass der Kläger ab diesem Zeitpunkt seine Kündigungsschutzklage gegen den Schuldner hätte richten müssen. Dies hat er nicht getan.

    Auf die Berufung des Beklagten war das Urteil des Arbeitsgerichtes Braunschweig abzuändern und die Klage abzuweisen.

    III. Die Kosten des Rechtsstreits waren gemäß § 91 Abs. 1 ZPO dem Kläger aufzuerlegen.

    Die Revisionszulassung beruht auf § 72 Abs 2 Nr. 1 ArbGG.

    VorschriftenInsO § 35 Abs. 2