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  • 22.09.2022 · IWW-Abrufnummer 231381

    Oberlandesgericht Karlsruhe: Urteil vom 27.06.2022 – 9 U 125/19

    1. Sind nach einem Verkehrsunfall Wirbelsäulenverletzungen des Geschädigten streitig, ist eine Begutachtung durch einen erfahrenen Facharzt für Orthopädie notwendig.

    2. Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule sind für einen orthopädischen Sachverständigen - und für das Gericht - grundsätzlich auch dann objektivierbar, wenn eine Dokumentation durch bildgebende Verfahren nicht möglich ist. Erforderlich ist eine sorgfältige Untersuchung durch den medizinischen Sachverständigen, bei der insbesondere die Anamnese eine wesentliche Rolle spielen muss.

    3. Interdisziplinäre Gutachten nach der Konzeption von Mazzotti und Castro (vgl. die Darstellung in NZV 2008, 113 sowie Mazzotti/Castro u. a. in NZV 2013, 525 und NZV 2016, 263) sind aus methodischen Gründen bei Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule in der Regel wenig geeignet, verlässliche Feststellungen zu Unfallverletzungen zu treffen.

    4. Persistierende Beschwerden nach einer mittelgradigen Distorsion der Lendenwirbelsäule sind auch dann durch das Unfallgeschehen verursacht, wenn bei der Entwicklung der Beschwerden bestimmte unfallunabhängige Dispositionen des Geschädigten (hier: ein Hohlrundrücken und psychosomatische Faktoren) eine Rolle gespielt haben (vgl. BGH, NJW 1996, 2425 [BGH 30.04.1996 - VI ZR 55/95]).

    5. Führt eine mittelgradige Distorsion der Lendenwirbelsäule nach einem Verkehrsunfalle zu dauerhaften Beschwerden im Sinne eines Schmerzsyndroms mit Auswirkungen auf die Lebensführung im beruflichen und im privaten Alltag, kann ein Schmerzensgeld von 10.000 € gerechtfertigt sie.


    Oberlandesgericht Karlsruhe

    Urteil vom 27.06.2022


    In dem Rechtsstreit
    - Kläger und Berufungskläger -
    Prozessbevollmächtigter:
    gegen
    1)
    - Beklagter und Berufungsbeklagter -
    Prozessbevollmächtigte:
    2)
    - Beklagte und Berufungsbeklagte -
    Prozessbevollmächtigte:

    wegen Schadensersatzes und Schmerzensgeldes

    hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 9. Zivilsenat - durch den Richter am Oberlandesgericht xxx als Einzelrichter am 27.06.2022 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.06.2022 für Recht erkannt:

    Tenor:

    I.
    Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Konstanz - C 6 O 22/17 - vom 30.08.2019 im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:

    1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 534,78 EUR zu zahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.01.2016.
    2. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger weiteren materiellen Schadensersatz in Höhe von 1.145,84 EUR zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 20.01.2016.
    3. Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld zu zahlen - über den in Ziff. 1 enthaltenen Betrag von 450,00 EUR hinaus - in Höhe von 8.759,20 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Teilbetrag von 3.759,20 EUR seit dem 20.01.2016, und aus einem weiteren Teilbetrag in Höhe von 5.000,00 EUR seit dem 25.01.2017.
    4. Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen in Höhe von 10,23 EUR.
    5. Es wird festgestellt, dass die Beklagten dem Kläger als Gesamtschuldner sämtliche weiteren materiellen Schäden zu ersetzen haben, die dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls vom 18.05.2015 künftig entstehen, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen.
    6. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
    II.
    Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

    III.
    Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen der Kläger zu 1/5 und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 4/5.

    IV.
    Das Urteil des Senats und das Urteil des Landgerichts - soweit dieses aufrechterhalten wird - sind vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung.

    V.
    Die Revision wird nicht zugelassen.

    Gründe

    I.

    Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall.

    Am 18.05.2015 kam es im B. zu einem Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Fahrer eines Pkw Citroen und der Beklagte Ziff. 1 als Fahrer und Halter eines Pkw Skoda beteiligt waren. Die Beklagte Ziff. 2 ist die für das Fahrzeug des Beklagten Ziff. 1 zuständige Haftpflichtversicherung. Zu dem Unfall kam es, weil der Beklagte Ziff. 1 an der Einmündung der K.straße in die K xxxx die Vorfahrt des bevorrechtigten Klägers missachtete. Beide Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt; der Kläger erlitt Verletzungen, die im Einzelnen streitig sind.

    Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht von den Beklagten materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld gefordert. Er habe erhebliche Verletzungen an der Halswirbelsäule und in weiteren Bereichen der Wirbelsäule erlitten. Es sei ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000,00 EUR angemessen. Durch den Unfall sei beim Kläger ein Dauerschaden entstanden. Er leide dauerhaft unter unfallursächlichen Schmerzen im Wirbelsäulenbereich mit erheblichen negativen Auswirkungen für ihn im Beruf und im Privatleben.

    Die Beklagte Ziff. 2 hat vorgerichtlich einen Teil der vom Kläger geltend gemachten materiellen Schäden ersetzt und auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 790,80 EUR gezahlt; weitere Schmerzensgeldzahlungen hat die Beklagte abgelehnt.

    Die Beklagten haben ihre volle Verantwortlichkeit für die dem Kläger aus dem Unfall entstandenen Schäden nicht in Frage gestellt. Sie haben Einwendungen zu den materiellen Positionen erhoben. Ein höheres Schmerzensgeld komme nicht in Betracht, da dem Kläger durch den Unfall kein Dauerschaden entstanden sei; soweit der Kläger längere Zeit nach dem Unfall unter bestimmten Beschwerden im Wirbelsäulenbereich leide, seien diese nicht durch den Unfall verursacht.

    Das Landgericht hat ein "Interdisziplinäres Gutachten" der Sachverständigen Ho. und Dr. W. eingeholt. Der technische Sachverständige Ho. hat eine Rekonstruktion des Unfalls durchgeführt und dabei die Einwirkungen auf das Fahrzeug des Klägers analysiert. Nach den Ausführungen des technischen Sachverständigen kam es zunächst zu einer Erstkollision zwischen den Fahrzeugen des Klägers und des Beklagten Ziff. 1 in einem Winkel von etwa 115 Grad. Anschließend prallte das Fahrzeug des Klägers gegen einen Baum und stieß schließlich in einer dritten Kollision gegen einen Zaun, der auf einer Länge von etwa 14 Meter beschädigt wurde. Der technische Sachverständige hat in seinem Gutachten Schlussfolgerungen gezogen im Hinblick auf bestimmte Geschwindigkeitsänderungen des klägerischen Fahrzeugs sowohl in Längsrichtung als auch in Querrichtung. Auf der Grundlage des technischen Gutachtens hat der Sachverständige Dr. W. nach einer Untersuchung des Klägers Feststellungen zu den körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers und zur Unfallursächlichkeit getroffen. Er hat eine unfallbedingte Knieprellung festgestellt. Eine "strukturelle Verletzung der Hals- und Lendenwirbelsäule" des Klägers habe es nicht gegeben. Eine Verletzung der Halswirbelsäule könne aufgrund der einwirkenden Kräfte bei dem Unfall zwar "mit Wahrscheinlichkeit bejaht" werden. Einen unfallursächlichen Dauerschaden habe der Kläger jedoch nicht erlitten. Vom Kläger geschilderte aktuelle Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule könnten nicht auf den Unfall zurückgeführt werden. Da aufgrund des Unfallgeschehens und der einwirkenden Kräfte nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit mit einer "Prellung bzw. Zerrung" im Bereich der Lendenwirbelsäule zu rechnen gewesen sei, könne eine unfallursächliche Prellung bzw. Zerrung der Lendenwirbelsäule zwar nicht vollkommen ausgeschlossen, aber auch nicht bewiesen werden. In jedem Fall sei nach den getroffenen Feststellungen davon auszugehen, dass eine durch den Unfall erlittene Distorsion der HWS oder LWS nach vier bis sechs Wochen abgeheilt sei.

    Das Landgericht hat zum Gutachten des Sachverständigen Dr. W. eine ergänzende schriftliche Stellungnahme (I, 369 ff.) eingeholt und den Sachverständigen Dr. W. im Termin vom 28.05.2019 ergänzend angehört.

    Mit Urteil vom 30.08.2019 hat das Landgericht wie folgt entschieden:

    1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 534,78 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.01.2016 zu zahlen.

    2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

    Das Landgericht hat hierbei mit dem Betrag von 534,78 EUR - über die vorgerichtlichen Zahlungen der Beklagten Ziff. 2 hinaus - einen weiteren Schmerzensgeldbetrag von 450,00 EUR zuerkannt, und im Übrigen materielle Ansprüche des Klägers in Höhe von 84,78 EUR. Weitergehende Schmerzensgeld- oder Schadensersatzansprüche seien nicht begründet. Denn auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen Dr. W. seien unfallbedingte Beschwerden des Klägers nach vier bis sechs Wochen abgeklungen, einen unfallursächlichen Dauerschaden habe es nicht gegeben. Soweit der Kläger materiellen Schadensersatz für bestimmte ärztliche Behandlungen in späterer Zeit verlange, habe es sich um Behandlungen von Beschwerden ohne ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall gehandelt.

    Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Er hält an seinen erstinstanzlichen Anträgen fest. Das Urteil des Landgerichts sei aus rechtlichen und aus tatsächlichen Gründen fehlerhaft. Die Schlussfolgerungen der erstinstanzlichen Gutachter Ho. und Dr. W. seien aus verschiedenen Gründen, die der Kläger erläutert, nicht nachvollziehbar, insbesondere sei durch den Unfall ein körperlicher Dauerschaden entstanden; er leide seit dem Unfall dauerhaft unter erheblichen Schmerzen mit Auswirkungen auf seine Lebensführung.

    Der Kläger beantragt:

    1.
    Das Urteil des Landgerichts Konstanz, sechste Zivilkammer, verkündet am 30.08.2019 unter dem AZ.: C 6 0 22/17 wird aufgehoben, soweit in dem Urteil die Klage abgewiesen wurde.

    2.
    Die Beklagten zahlen als Gesamtschuldner an den Kläger aus abgetretenem Recht 23,00 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.1.2016.

    3.
    Die Beklagten zahlen als Gesamtschuldner an den Kläger 1335,04 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.01.2016 sowie als Nebenforderung die außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten des Klägers in Höhe von weiteren 647,95 EUR.

    4.
    Die Beklagten zahlen als Gesamtschuldner an den Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, abzüglich bereits gezahlter 790,80 EUR sowie abzüglich in dem angegriffenen Urteil generierter weiterer 450,00 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.01.2016.

    5.
    Es wird festgestellt, dass die Beklagten dem Kläger als Gesamtschuldner sämtlichen weiteren Schaden zum Ersatz schulden, der dem Kläger aufgrund des Verkehrsunfalls vom 18.05.2015 künftig entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind.

    Im Senatstermin vom 29.11.2021 hat der Kläger klargestellt, dass sich der Feststellungsantrag sowohl auf zukünftige materielle als auch auf zukünftige immaterielle Schäden beziehen soll. Allerdings solle der Schmerzensgeld-Zahlungsantrag auch Dauerschäden für die Zukunft abgelten, soweit sich bei den Dauerschäden nichts Wesentliches ändere. Der Feststellungsantrag solle hinsichtlich der immateriellen Schäden nur Auswirkungen bei einer erheblichen Änderung erfassen.

    Die Beklagten beantragen,

    die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

    Die Beklagten verteidigen das Urteil des Landgerichts und ergänzen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Zu Recht habe das Landesgericht weitergehende Forderungen des Klägers gestützt auf das erstinstanzlich eingeholte Gutachten abgelehnt.

    Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

    Der Senat hat im Termin vom 29.11.2021 den Kläger informatorisch angehört. Außerdem hat der Senat zu den vom Kläger geltend gemachten Beschwerden und zur Unfallursächlichkeit ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Dr. H. eingeholt mit ergänzender Anhörung des Sachverständigen im Termin vom 10.06.2022. Es wird insoweit Bezug genommen auf die Protokolle vom 29.11.2021 und vom 10.06.2022 sowie auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. H. vom 03.05.2022.

    II.

    Die Berufung des Klägers ist überwiegend begründet. Nach der Beweisaufnahme im Berufungsverfahren steht fest, dass dem Kläger durch den Unfall vom 18.05.2015 erhebliche körperliche Beeinträchtigungen entstanden sind, die in der Entscheidung des Landgerichts nicht berücksichtigt sind. Daraus ergeben sich die dem Kläger zustehenden materiellen und immateriellen Ansprüche gegen die Beklagten.

    1. Die Beklagten haften gesamtschuldnerisch gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1, 17 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG für die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers, die durch den Unfall verursacht wurden. Der Beklagte Ziff. 1 haftet als Fahrer und Halter des unfallbeteiligten Fahrzeugs. Die Beklagte Ziff. 2 haftet als zuständige Haftpflichtversicherung. Der Unfall wurde durch eine Vorfahrtsverletzung des Beklagten Ziff. 1 verursacht. Gesichtspunkte für eine mitwirkende Verursachung durch den Kläger, die zu einer Reduzierung der Haftung führen könnten, sind nicht ersichtlich und von den Beklagten nicht geltend gemacht.

    2. Gemäß § 253 Abs. 2 BGB ist durch den Unfall ein Schmerzensgeldanspruch des Klägers in Höhe von 10.000,00 EUR entstanden. Auf diesen Anspruch hat die Beklagte Ziff. 2 vorgerichtlich 790,80 EUR gezahlt. Das Landgericht hat weitere 450,00 EUR zuerkannt (enthalten in I. Ziff. 1 der Entscheidung des Senats). Daher ist dem Kläger ein zusätzliches Schmerzensgeld in Höhe von 8.759,20 EUR zuzuerkennen.

    a) Für die Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Unfallfolgen maßgeblich. Der Kläger hat eine leicht- bis mittelgradige Distorsion der Halswirbelsäule im Bereich der Wirbelgelenke mit Zerrung der Gelenkkapseln, Nackenmuskulatur und Faszien, aber ohne Beteiligung nervaler Strukturen erlitten. Außerdem hat der Kläger eine mittelgradige Distorsion der Lendenwirbelsäule erlitten, insbesondere im Bereich der Wirbelgelenke und Bandscheiben, mit Zerrung der Gelenkkapseln und Faszien sowie der Rückmuskulatur, ohne Beteiligung nervaler Strukturen. Hinzu kam eine Prellung des rechten Kniegelenks außen. Während die Distorsion der Halswirbelsäule und die Prellung des rechten Kniegelenks nicht zu dauerhaften Beeinträchtigungen des Klägers geführt haben, ist durch die Distorsion der Lendenwirbelsäule ein chronisches Schmerzsyndrom entstanden, das bis heute anhält. Der Kläger leidet bis heute unter erheblichen rezidivierenden Schmerzen, die zu relevanten Einschränkungen seiner Lebensqualität im beruflichen und im privaten Bereich geführt haben. Er kann schwere Lasten nicht mehr heben; dadurch ist sein wichtigstes Hobby, die freiwillige Feuerwehr eingeschränkt. Stehen für eine gewisse Zeit, z.B. im Fußballstadion, ist für ihn sehr schwierig, Gartenarbeit oder langes Autofahren ebenso. Er benötigt immer wieder Schmerzmittel.

    b) Bei der Höhe des Schmerzensgeldes hat der Senat die Einschränkungen in der Lebensqualität für den Kläger berücksichtigt. Wesentlich für die Höhe des Schmerzensgeldes ist die Erwägung, dass von einem dauerhaften Zustand für den Kläger auszugehen ist. Die unfallursächlichen Beeinträchtigungen sind auch sieben Jahre nach dem Unfall nicht abgeklungen. Das Risiko für den heute 44-jährigen Kläger, dass die Beschwerden und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen seiner Lebensqualität auch in der Zukunft dauerhaft anhalten werden, ist mitberücksichtigt. Verbesserungen in der Zukunft (insbesondere durch Physiotherapie oder durch eine gezielte Schmerztherapie) sind möglich, aber ungewiss. Unter Berücksichtigung der dauerhaften Beeinträchtigungen entspricht die Bemessung des Schmerzensgeldes dem, was in entsprechenden Fällen von Gerichten für angemessen erachtet wird.

    c) Der Kläger hat einen unbezifferten Schmerzensgeldantrag gestellt. Aus der Begründung des Antrags ergibt sich, dass er dabei einen Mindestbetrag von 5.000,00 EUR für erforderlich hält. Bei einer solchen Antragstellung enthält der angegebene Mindestbetrag keine Obergrenze für die Entscheidung des Senats. Vielmehr ist ein höherer Betrag zuzuerkennen, wenn ein höheres Schmerzensgeld nach den getroffenen tatsächlichen Feststellungen angemessen erscheint (vgl. BGH, NJW 1996, 2425 [BGH 30.04.1996 - VI ZR 55/95]).

    3. Die Feststellungen des Senats - sowohl zu den Primärverletzungen als auch zu den bis heute weiter bestehenden Beeinträchtigungen - beruhen auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H..

    Im Vordergrund stehen Distorsionsverletzungen der Wirbelsäule. Während die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule abgeklungen sind, bestehen die Beeinträchtigungen durch die Verletzung im Bereich der Lendenwirbelsäule weiter. Bei der Verletzung der Lendenwirbelsäule handelt es sich nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. nicht nur um eine Zerrung der Muskulatur, sondern um Schmerzempfindungen und Funktionseinschränkungen, die von der gesamten Funktionseinheit der Wirbelsäule ausgelöst werden, zu der auch Bänder und Gelenkkapseln gehören. Der Umstand, dass die Distorsion die gesamte Funktionseinheit im Bereich der Lendenwirbelsäule betroffen hat, also über eine Muskelzerrung hinaus ging, ist wesentlich für die Auswirkungen und für die Dauer der Beeinträchtigungen.

    Der Sachverständige Dr. H. hat bei der Untersuchung des Klägers zudem ein (beschwerdefreies) Lumbalsyndrom festgestellt, welches unfallunabhängig ist. Unfallunabhängig ist nach den Feststellungen der Sachverständigen im Übrigen eine Fehlstatik der Wirbelsäule des Klägers im Sinne eines Hohlrundrückens. Diese Fehlstatik war bis zum Unfallereignis beschwerdefrei. Die Fehlstatik der Wirbelsäule ist nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. allerdings mitursächlich für den Verlauf und die Dauer der Beschwerden. Ohne die Fehlstatik der Wirbelsäule wären die unfallbedingten Beeinträchtigungen (Schmerzen und Funktionseinschränkung) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit etwa zwei Jahre nach dem Unfall abgeklungen.

    Der Sachverständige hat außerdem ein chronisches Schmerzsyndrom festgestellt. Das Ausmaß von Schmerzen und Beeinträchtigungen, die durch körperliche Verletzungen ausgelöst werden, kann bei gleicher Verletzung bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sein. Dabei spielen nach dem Gutachten des Sachverständigen psychosoziale Faktoren eine Rolle, welche einerseits zu einer Verstärkung der Symptomatik führen können, oder durch welche andererseits die Symptomatik eher zurückgedrängt wird. Solche psychosomatischen Faktoren sind gerade bei persistierenden orthopädischen Beeinträchtigungen nicht selten relevant. Im Fall des Klägers haben psychosomatische Faktoren die Beeinträchtigungen des Klägers verstärkt. Es ist davon auszugehen, dass die durch den Unfall ausgelösten Beschwerden dauerhaften Charakter haben, wobei der Hohlrundrücken und psychosomatische Faktoren bei der Entwicklung des Schmerzsyndroms mitwirkende Ursachen sind.

    4. Die Verletzung der Lendenwirbelsäule wurde durch den Unfall verursacht, wobei die Verursachung der Primärschädigung zur vollen Überzeugung des Senats gemäß § 286 ZPO feststeht. Die vom Sachverständigen Dr. H. festgestellten persistierenden Beschwerden (Funktionseinschränkungen und Schmerzen im Lendenwirbelbereich) beruhen auf der Primärschädigung, was nach dem Gutachten des Sachverständigen zumindest mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit (§ 287 ZPO) feststeht.

    Die Beeinträchtigungen der Lendenwirbelsäule des Klägers bestehen seit dem Unfallereignis, vorher war der Kläger beschwerdefrei. Der Sachverständige Dr. H. hat erläutert, dass das Unfallereignis geeignet war, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule eine erhebliche Verletzung des Klägers hervorzurufen. Die Entwicklung der Beeinträchtigungen bis heute passt zu der vom Sachverständigen Dr. H. festgestellten Verletzung der Lendenwirbelsäule unter Berücksichtigung der mitwirkenden Verursachung durch die Fehlstatik (Hohlrundrücken) und durch die psychosomatische Entwicklung des Schmerzsyndroms. Soweit bestimmte Dispositionen des Klägers (Hohlrundrücken und psychosoziale Umstände) für die weitere Entwicklung der Beeinträchtigungen mitursächlich waren, ändert dies nichts an der Kausalität des Unfalls (vgl. BGH, NJW 1996, 2425, 2426 [BGH 30.04.1996 - VI ZR 55/95]). Entscheidend ist, dass der Kläger ohne das Unfallereignis, trotz des Hohlrundrückens, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht diejenigen Beschwerden hätte, unter denen er bis heute leidet. Diese Einschätzung hat der Sachverständige Dr. H. bei seiner ergänzenden Anhörung im Termin vom 10.06.2022 klargestellt. Ohne den Unfall als auslösendes Ereignis wäre der Kläger heute mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beschwerdefrei. Soweit der Sachverständige im schriftlichen Gutachten zunächst ausgeführt hat, er würde - im Rahmen einer Schätzung - von einer Verursachung der Beschwerden durch den Unfall lediglich für zwei Jahre ausgehen, beruhte dies auf einer abweichenden Vergleichsbetrachtung: Nach der Einschätzung des Sachverständigen wären die Beschwerden nach dem Unfallereignis - wenn es keine Fehlstatik im Sinne des Hohlrundrückens gegeben hätte - voraussichtlich nach etwa zwei Jahren abgeklungen. Diese Betrachtung ist für die Kausalitätsfrage im Zivilrecht jedoch nicht maßgeblich (vgl. BGH, a.a.O.).

    5. Das erstinstanzliche Gutachten des Sachverständigen Dr. W., der in wesentlichen Punkten zu anderen Ergebnissen gelangt ist als der vom Senat beauftragte Sachverständige Dr. H., steht der Entscheidung nicht entgegen. Das Gutachten weist methodische Mängel auf. Der Sachverständige Dr. W. beruft sich in seinem Gutachten auf eine Gutachtenkonzeption zur Klärung der Unfallursächlichkeit orthopädischer Beschwerden, die insbesondere von Mazzotti und Castro entwickelt wurde. Nach dieser Konzeption sollen zunächst (wie vorliegend) durch einen technischen Sachverständigen kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen der Fahrzeuge abgeschätzt werden. Im zweiten Schritt soll ein medizinischer Sachverständiger aus dem Bereich der Orthopädie Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen anstellen zu der Frage, ob und inwieweit der vom technischen Sachverständigen rekonstruierte Unfallablauf orthopädische Verletzungen, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, verursachen könne. Diese Abschätzung soll dann die Grundlage für die Feststellung von Verletzungen und die Feststellung einer möglichen Unfallursächlichkeit sein (vgl. Mazzotti/Castro, Das "HWS-Schleudertrauma" aus orthopädischer Sicht - Stand 2008, NZV 2008, 113; Mazotti/Castro u.a., Die interdisziplinäre Begutachtung am Beispiel "HWS-Schleudertrauma", NZV 2013, 525, sowie Mazzotti/Castro u.a , Wirbelsäulenverletzung und "Bagatellbelastung", NZV 2016, 263). Das Gutachtenkonzept von Mazzotti und Castro, welches dem erstinstanzlichen Gutachten von Dr. W. zugrunde liegt, erscheint zweifelhaft und zumindest dann wenig geeignet, wenn - wie vorliegend - Verletzungen vorliegen, die den Charakter von Funktionsbeeinträchtigungen haben, die nicht oder nicht ohne Weiteres in bildgebenden Verfahren dokumentiert werden können.

    a) Aus rechtlicher Sicht muss am Anfang der Begutachtung von Unfallverletzungen zunächst eine exakte Feststellung der Unfallverletzungen liegen, und zwar zum einen für eine mögliche Primärschädigung unmittelbar nach dem Unfall, und zum anderen zu den auf der Primärschädigung beruhenden körperlichen Beeinträchtigungen in der Zeit nach dem Unfall. Dabei muss für die Feststellungen zum Unfallzeitpunkt das Beweismaß gemäß § 286 ZPO gelten, während für die darauf beruhenden späteren Beeinträchtigungen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gemäß § 287 ZPO ausreicht. Erst dann, wenn sichere Feststellungen zu vorhandenen Verletzungen und Beeinträchtigungen getroffen wurden, ist es sinnvoll, nach der Ursache - oder nach möglichen Ursachen - zu fragen. Demgegenüber erscheint es wenig zielführend, abstrakte Abschätzungen einer "individuellen Verletzungsmöglichkeit" aufgrund des Unfallablaufs an den Anfang eines Gutachtens zu stellen; denn dann besteht nach dem Eindruck des Senats bei Gutachten, die dem Konzept von Mazzotti und Castro folgen, die Gefahr, dass wegen einer angeblich geringen Verletzungswahrscheinlichkeit dem körperlichen Zustand eines Geschädigten zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dies entspricht der Erfahrung des Senats mit Gutachten, die dem selben Konzept folgen, in mehreren anderen Fällen.

    b) Eine sorgfältige Feststellung von Verletzungen und körperlichen Beeinträchtigungen muss insbesondere bei Distorsionen der Wirbelsäule am Anfang der Begutachtung stehen. Der Sachverständige Dr. H., der als Facharzt für Orthopädie seit über dreißig Jahren in der Therapie tätig ist, hat in seinem schriftlichen Gutachten und in der mündlichen Erläuterung ausgeführt, wie orthopädische Funktionsbeeinträchtigungen, sowohl für therapeutische Zwecke als auch für Zwecke eines Gutachtens, üblicherweise objektiviert werden, wenn eine Dokumentation in bildgebenden Verfahren nicht möglich ist. Dies gilt insbesondere für Distorsionen im Bereich der Wirbelsäule. Im Vordergrund steht eine sorgfältige Anamnese, für die Zeit vor dem Unfall, für die Zeit unmittelbar nach dem Unfall und für den späteren Verlauf der Beschwerden. In die Anamnese sind einzubeziehen die Beobachtungen anderer Ärzte, die sich aus ärztlichen Attesten und Arztberichten ergeben. Schließlich hat für die Diagnose der Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule des Klägers eine manualtherapeutische bzw. manualdiagnostische Untersuchung eine wesentliche Rolle gespielt. Der Sachverständige hat die Ergebnisse überprüft mit Feststellungen zu sogenannten Waddel-Zeichen. Dabei handelt es sich um die Prüfung bestimmter wissenschaftlich anerkannter Anzeichen, die zum einen Hinweise auf eine eventuelle Simulation oder Aggravation des Klägers bei der Anamnese geben können. Zum anderen dient die Ermittlung der Waddel-Zeichen dazu, psychosoziale Faktoren zu ermitteln, die bei der Entwicklung eines Schmerzsyndroms eine Rolle spielen. Die Waddel-Zeichen haben die anderweitig gefundenen Ergebnisse des Sachverständigen Dr. H. bestätigt. Das heißt, dass beim Kläger von einer mittelgradigen Distorsion der Lendenwirbelsäule auszugehen ist, die über eine reine Muskelzerrung hinausgeht. Der Sachverständige hat neben der Distorsion der Lendenwirbelsäule zwei weitere diagnostische Feststellungen getroffen, nämlich zum einen die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms und zum anderen einen (unfallunabhängigen) Hohlrundrücken. Die Anamnese, die sich aus dem Gutachten des Sachverständigen ergibt, korrespondiert mit der Darstellung des Klägers im Senatstermin vom 29.11.2021. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers haben sich bei dieser Anhörung nicht ergeben.

    c) Für die Fachkompetenz des Sachverständigen Dr. H. ist seine Qualifikation als Facharzt für Orthopädie wesentlich. Untersuchungen, Diagnosen und Therapie bei Verletzungen und Erkrankungen der Wirbelsäule gehören zum Kern des Fachbereichs der Orthopädie. Die Auffassung der Beklagten, diese fachliche Zuordnung gelte nicht, wenn Verletzungen oder Erkrankungen der Wirbelsäule durch einen Unfall verursacht seien, ist unzutreffend.

    d) Im erstinstanzlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. W., dem eine Qualifikation als Facharzt für Orthopädie fehlt, finden sich demgegenüber nur rudimentäre Ausführungen zur Diagnose der Verletzungen und Beschwerden des Klägers. Es ist zum einen hervorzuheben, dass auch der Sachverständige Dr. W. - wie der Sachverständige Dr. H. - die Angaben des Klägers über seine Beschwerden und über den Verlauf der Beschwerden nicht in Zweifel zieht. Eine Vermutung - oder die Möglichkeit - einer Aggravation oder Simulation wird auch vom Sachverständigen Dr. W. nicht in Betracht gezogen. Es fehlen jedoch diagnostische Feststellungen zum Schweregrad der Distorsion. Manualdiagnostische Maßnahmen haben nach dem Gutachten nicht stattgefunden. Die - nach dem Gutachten Dr. H. naheliegenden - Fragen nach einem Hohlrundrücken und zur Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms wurden nicht erörtert. Soweit der Sachverständige Dr. W. im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht die weiterhin vorhandenen Beschwerden des Klägers als "muskuläres Problem" bezeichnet hat, bleibt unklar, was damit gemeint sein soll. Eine Erörterung der vom Sachverständigen Dr. H. ausführlich behandelten Frage, welches Ausmaß eine Distorsion der Wirbelsäule des Klägers (im Bereich der Halswirbelsäule oder im Bereich der Lendenwirbelsäule) gehabt hat oder gehabt haben kann, findet im Gutachten des Sachverständigen Dr. W. nicht statt. Es fehlt die Erörterung einer mittelgradigen Distorsion, die über eine reine Muskelzerrung deutlich hinausgeht. Mit diesen Mängeln korrespondiert die Schlussfolgerung des Sachverständigen Dr. W., wonach eine unfallbedingte Distorsion jedenfalls nach vier bis sechs Wochen abgeheilt wäre, was nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. nur bei einer reinen Muskelzerrung nachvollziehbar wäre.

    e) Die Darstellung des Gutachtenkonzepts von Mazzotti und Castro, auf welche sich der Sachverständige Dr. W. berufen hat (vgl. Mazzotti/Castro in NZV 2008, 131), erweckt den Eindruck, dass die Möglichkeiten einer sorgfältigen orthopädischen Befunderhebung und Diagnose bei Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule von Mazzotti und Castro möglicherweise nicht ausreichend gesehen werden. In dem zitierten Aufsatz fehlen Ausführungen zur besonderen Bedeutung einer sorgfältigen Anamnese für ein orthopädisches Gutachten, und für die darauf basierenden Möglichkeiten einer Objektivierung der Beeinträchtigungen. Es fehlen Ausführungen zu anerkannten manualdiagnostischen Untersuchungen bei Wirbelsäulenverletzungen. Und es fehlen Hinweise auf eine bei persistierenden orthopädischen Beschwerden oft notwendige Prüfung eines Schmerzsyndroms, einschließlich der Prüfung von sogenannten Waddel-Zeichen. Der Sachverständige Dr. H. hat in seinem Gutachten erläutert, welche Methoden im Bereich der Orthopädie zur Objektivierung von Verletzungen und Beschwerden sowohl im Bereich der Wissenschaft als auch im Bereich der therapeutischen Praxis anerkannt sind. Demgegenüber erweckt die Darstellung von Mazzotti/Castro (a.a.O.) - ebenso wie die Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. in seinem Gutachten - den Eindruck, dass gewisse Vorbehalte bestehen, Befunde und Diagnosen bei Beeinträchtigungen der Wirbelsäule zu akzeptieren, wenn, wie bei vielen Distorsionen, eine bildgebende Dokumentation der Verletzungen nicht möglich ist. Auf eine solche eingeschränkte Betrachtungsweise deutet beispielsweise die Art der Verwendung des Begriffes "Objektivierbare Verletzung" hin, die Mazzotti/Castro nur bei einem Bruch im Wirbelsäulenbereich verwenden wollen, jedoch nicht bei Distorsionen. Dabei werden die nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. anerkannten Möglichkeiten der Objektivierung von Distorsionen (siehe oben) nicht berücksichtigt. Auch die Bezeichnung vieler Schmerzzustände als "unspezifisch" (vgl. Mazzotti/Castro, a.a.O.) deutet auf gewisse Vorbehalte bei Befunderhebungen von Schmerzzuständen hin, wenn ein Schmerzzustand aus der Perspektive von Mazzotti/Castro "nicht objektivierbar" ist. Solche Vorbehalte bei Befunderhebungen und Diagnosen sind nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. aus der Perspektive der orthopädischen Wissenschaft nicht gerechtfertigt, auch wenn sich in diesen Fällen besondere fachliche Anforderungen für den orthopädischen Gutachter ergeben.

    f) Das Gutachtenkonzept von Mazzotti und Castro leidet unter einem weiteren methodischen Mangel, der sich auf das Ergebnis des erstinstanzlichen Gutachtens Dr. W. ausgewirkt hat.

    aa) Das Gutachtenkonzept von Mazzotti und Castro zur Kausalitätsfrage bei Verkehrsunfällen basiert auf der Ermittlung einer Prognosewahrscheinlichkeit. Aus einem bestimmten Unfallablauf mit bestimmten Einwirkungen auf die beteiligten Fahrzeuge wollen Mazzotti und Castro eine Wahrscheinlichkeit bestimmen, mit welcher bei gleichartigen Unfällen mit bestimmten Verletzungen zu rechnen sei. Es ist jedoch hochproblematisch, bei einem bereits eingetretenen Ereignis auf eine Prognosewahrscheinlichkeit abzustellen. Die Ursache für ein festgestelltes Ereignis kann grundsätzlich nicht durch eine ex-ante-Wahrscheinlichkeit bestimmt werden (vgl. zu dieser grundsätzlichen Problematik bei Ursachenfragen in juristischen Zusammenhängen: Risse, Mathematik, Statistik und die Juristerei, NJW 2020, 2383, 2484, 2585). Der erstinstanzliche Sachverständige Dr. W. hat ausgeführt - dem genannten Konzept folgend - eine Verletzung der Lendenwirbelsäule sei unter Zugrundelegung des Unfallablaufs nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen, und könne daher nicht bewiesen werden (Seite 7 des Ergänzungsgutachtens, I, 381). Dies ist methodisch unzutreffend.

    Wenn - wie vorliegend - entsprechend dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. eine Verletzung der Lendenwirbelsäule feststeht (siehe oben), dann steht eine möglicherweise nur sehr geringe ex-ante-Wahrscheinlichkeit einem Nachweis der Kausalität grundsätzlich nicht entgegen. Für den Nachweis der Kausalität reicht es in diesem Fall aus, dass die Verletzung als solche feststeht, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Eintritt der Verletzung besteht, dass ein Ursachenzusammenhang aus physikalischen oder medizinischen Gründen jedenfalls nicht gänzlich ausgeschlossen ist, und dass im Übrigen andere mögliche Ursachen für die Verletzung nicht ersichtlich sind (siehe oben). Der Sachverständige Dr. H. hat im Einzelnen ausgeführt, weshalb aufgrund des Unfallablaufs (seitliche Kollision, außerdem Berücksichtigung der Mehrfachkollisionen) durchaus mit erheblichen Einwirkungen auf die Lendenwirbelsäule zu rechnen war (siehe oben). Aus den angegebenen Gründen würde sich an der Kausalitätsfeststellung jedoch auch dann nichts ändern, wenn man - abweichend von den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. - nur eine geringere ex-ante-Wahrscheinlichkeit für die eingetretenen Unfallfolgen annehmen würde.

    bb) Wenn - wie im erstinstanzlichen Gutachten Dr. W. - die vom Kläger geschilderten Beschwerden (Schmerzen und Funktionseinschränkungen) nicht in Frage gestellt werden, dabei jedoch gleichzeitig eine Verursachung durch den Unfall als nicht bewiesen angesehen wird, wäre es notwendig, alternative Ursachenmöglichkeiten für die Beschwerden zu erörtern. Eine solche Erörterung hat im Gutachten Dr. W. nicht stattgefunden. Auch dies ist ein methodischer Mangel, der dem Konzept von Mazzotti und Castro zu entsprechen scheint, wenn man die zitierte Darstellung des Konzepts (NZV 2008, 113) zugrunde legt. Wenn man es für möglich hält, dass ein Unfall für bestimmte Beschwerden nicht ursächlich war, dann muss es aus logischen Gründen für die festgestellten Beschwerden eine andere (unfallunabhängige) Ursache geben. Die methodische Notwendigkeit einer solchen Prüfung ist der Darstellung von Mazzotti/Castro (NZV 2008, 113) nicht zu entnehmen. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass beim Vorhandensein bestimmter Verletzungen oder Verletzungsfolgen das Fehlen einer möglichen Alternativursache ein bedeutsamer Mosaikstein beim Nachweis der Kausalität des Unfalls sein kann.

    cc) Unabhängig von der problematischen Bedeutung von Prognosewahrscheinlichkeiten bei der Kausalitätsfrage (siehe oben) ist darauf hinzuweisen, dass auch die Ermittlung der Prognosewahrscheinlichkeit als solche im erstinstanzlichen Gutachten Dr. W. gewissen Zweifeln begegnet. Nach der Konzeption von Mazzotti und Castro soll in die Bestimmung einer Prognosewahrscheinlichkeit einfließen, ob und inwieweit bestimmte verletzungsfördernde Faktoren beim Geschädigten vorhanden waren (insbesondere Vorschädigungen wie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, besondere Sitzpositionen, Überraschungseffekt). Es ist allerdings nicht nachvollziehbar, welche Auswirkungen solche "verletzungsbedingten Faktoren" auf die Bestimmung einer Prognosewahrscheinlichkeit haben können, wenn gleichzeitig (sowohl im vorliegenden Gutachten von Dr. W. als auch in der Darstellung von Mazzotti/Castro a.a.O.) hervorgehoben wird, dass die Auswirkungen solcher individuellen verletzungsfördernden Faktoren auf die Verletzungswahrscheinlichkeit bei einem Unfall wissenschaftlich nicht gesichert sind.

    dd) Grundsätzlich dürfte die Ermittlung einer ex-ante-Verletzungswahrscheinlichkeit - eine unter physikalischen und medizinischen Gesichtspunkten sinnvolle Ermittlung unterstellt - wohl nur in zwei Konstellationen sinnvoll sein: Zum einen kann die Frage nach einer Verletzungsprognose sinnvoll sein, wenn eine Untersuchung aus physikalischen und/oder medizinischen Gründen zum sicheren Ausschluss einer Verursachung bestimmter Gesundheitsschäden durch einen bestimmten Unfall führen kann (beispielsweise bei schweren Knochenbrüchen nach einem Kleinstunfall). Zum anderen kann die Frage nach einer Verletzungsprognose sinnvoll werden, wenn mehrere alternative Ursachen in Betracht kommen (z.B. zwei Unfälle innerhalb eines kurzen Zeitraums). In diesem Fall kann es sinnvoll sein, zwei verschiedene Prognosewahrscheinlichkeiten (für den Primärschaden im Rahmen von § 286 ZPO, für Folgewirkungen im Rahmen von § 287 ZPO) miteinander zu vergleichen. Beide Sonderkonstellationen, für die eine Betrachtung nach dem Konzept von Mazzotti und Castro sinnvoll sein könnte, sind vorliegend nicht gegeben.

    Eine methodisch korrekte Wahrscheinlichkeitsbetrachtung zur Frage der Kausalität (vgl. dazu die Ausführungen bei Risse, a.a.O.) müsste im vorliegenden Fall - abweichend vom Konzept von Mazzotti und Castro - wie folgt formuliert werden: Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist eine Verursachung der Beschwerden durch den streitgegenständlichen Unfall anzunehmen, wenn man dabei berücksichtigt

    - (erstens) die vom Sachverständigen Dr. H. festgestellten Verletzungen und Beschwerden, einschließlich der Diagnosen Hohlrundrücken und chronisches Schmerzsyndrom,

    - (zweitens) die Tatsache eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und dem Beginn der Beschwerden des Klägers,

    - (drittens) das Fehlen erkennbarer anderer Ursachen bzw. Auslöser für die Beschwerden und

    - (viertens) die Tatsache, dass das Unfallereignis physikalisch und medizinisch grundsätzlich zur Verursachung der Verletzungen und Beeinträchtigungen geeignet war.

    Diese Betrachtung führt zur Feststellung der Kausalität (siehe oben).

    6. Es gibt kein mitwirkendes Verschulden des Klägers bei der Entstehung und beim Fortbestand der Beschwerden, welches gemäß § 254 Abs. 1 BGB oder § 254 Abs. 2 BGB zu seinen Lasten zu berücksichtigen wäre. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. besteht die Möglichkeit, dass eine gezielte Schmerztherapie Schmerzen und Funktionseinschränkungen verringern könnte. Entsprechendes gilt für bestimmte physiotherapeutische Behandlungen. Möglicherweise wären entsprechende Behandlungen für den Kläger auch in der Vergangenheit bereits hilfreich gewesen. Daraus kann dem Kläger jedoch kein Vorwurf erwachsen; denn es ist nicht zu widerlegen, dass der Kläger in der Vergangenheit von keinem der behandelnden Ärzte auf solche möglicherweise sinnvollen Behandlungen hingewiesen wurde.

    7. Dem Kläger steht - über den vom Landgericht zuerkannten Betrag in Höhe von 84,78 EUR hinaus, der im Tenor I. Ziff. 1 enthalten ist - ein weiterer materieller Schadensersatz in Höhe von 1.145,84 EUR zu. Dieser Betrag setzt sich aus folgenden Positionen zusammen:


    Arztrechnung Dr. M. (Anlage K 11) 238,85 EUR
    Physiotherapie V. (Anlage K 13) 345,00 EUR
    Rechnung Dr. K. 561,99 EUR
    Summe: 1.145,84 EUR

    Dem Kläger sind die genannten Unkosten entstanden durch ärztliche Behandlungen und durch Physiotherapie in der Zeit zwischen Oktober 2015 und Februar 2016. Das Landgericht hat die Schadenspositionen nicht berücksichtigt, weil Behandlungen in dem entsprechenden Zeitraum durch gesundheitliche Beeinträchtigungen verursacht worden seien, für welche der Unfall vom 18.05.2015 nicht ursächlich gewesen sei, denn die unfallursächlichen Beschwerden des Klägers seien schon früher abgeklungen. Aus dem zweitinstanzlich eingeholten Gutachten des Sachverständigen Dr. H. ergibt sich, dass die orthopädischen Beschwerden des Klägers auch im fraglichen Zeitraum durch den Unfall verursacht waren. Daher stellen auch die angegebenen Rechnungen einen ersatzfähigen materiellen Schaden dar.

    Hingegen sind die weiteren im Berufungsverfahren geltend gemachten materiellen Schadenspositionen nicht ersatzfähig. Entsprechend der Entscheidung des Landgerichts sind 23,00 EUR Reisekosten bereits durch die an den Kläger von der Beklagten Ziff. 2 vorgerichtlich gezahlte Schadenspauschale abgegolten. Zu den weiteren Fahrtkosten in Höhe von 189,20 EUR fehlt eine nachvollziehbare Konkretisierung. Auch aus der Berufungsbegründung ergeben sich keine Gesichtspunkte zur Korrektur der erstinstanzlichen Entscheidung in diesen beiden Punkten.

    8. Der Feststellungsantrag des Klägers ist teilweise begründet, und zwar insoweit, als er sich auf materielle Zukunftsschäden bezieht.

    a) Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. steht fest, dass die gegenwärtigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers im Sinne eines Dauerschadens durch den Unfall verursacht wurden (siehe oben). Daraus ergibt sich, dass dem Kläger möglicherweise in der Zukunft weitere Behandlungskosten (Arztkosten und/oder Physiotherapie) wegen der durch den Unfall verursachten Beschwerden entstehen. Dies rechtfertigt die Feststellung eines Ersatzanspruchs für materielle Schäden in der Zukunft. Die nicht auszuschließende Möglichkeit, dass sich die Beeinträchtigungen des Klägers in der Zukunft verringern, ändert daran nichts.

    b) Hingegen ist der Feststellungsantrag des Klägers nicht begründet, soweit es um einen Ersatz zukünftiger immaterieller Schäden geht. Der Kläger hat klargestellt, dass das geltend gemachte - und zuerkannte - Schmerzensgeld auch zukünftige immaterielle Beeinträchtigungen abgelten soll, soweit mit einem Persistieren der gegenwärtigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen in der Zukunft zu rechnen ist (vgl. zu den in Betracht kommenden Möglichkeiten bei der Abgrenzung zwischen beziffertem Schmerzensgeldantrag und der Feststellung eines Zukunftsschadens Senat, NJW-RR 2017, 278, 280, 281 [OLG Karlsruhe 30.05.2016 - 9 U 115/15]). Für die Feststellung der Ersatzfähigkeit zukünftiger immaterieller Beeinträchtigungen des Klägers wäre daher nur dann Raum, wenn die Möglichkeit einer erheblichen Verschlimmerung der durch den Unfall verursachten Beeinträchtigungen in Betracht käme. Damit ist nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. jedoch nicht zu rechnen.

    9. Dem Kläger stehen außerdem restliche vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 10,23 EUR zu. Für die gemäß § 249 BGB ersatzfähigen Anwaltskosten ist von folgendem vorgerichtlichen Streitwert auszugehen:


    materieller Schaden Teilbetrag LG: 84,78 EUR
    weiterer materieller Schaden Teilbetrag OLG: 1.145,84 EUR
    Schmerzensgeld: 5,000,00 EUR
    Feststellung materieller Schaden: 2.500,00 EUR
    Summe: 8,730,62 EUR

    Für die vorgerichtliche Schmerzensgeldforderung setzt der Senat (insoweit abweichend von der Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren) einen Wert von 5.000,00 EUR an; denn die vorgerichtliche Korrespondenz ist so zu verstehen, dass dem Kläger bei einer vorgerichtlichen Zahlung der Beklagten ein Betrag von 5.000,00 EUR ausgereicht hätte. Die anwaltlichen Gebühren sind ausgehend von dem angegebenen Streitwert vorgerichtlich wie folgt entstanden:


    1,3-Gebühr VV Nr. 2003 659,10 EUR
    Postpauschale VV Nr. 7002 20,00 EUR
    Mehrwertsteuer 19% 129,03 EUR
    Summe: 808,13 EUR

    Nach Abzug der unstreitigen Zahlungen der Beklagten Ziff. 2 auf die Anwaltskosten in Höhe von insgesamt 797,90 EUR (vgl. die Abrechnung Seite 18 der Klageschrift) verbleibt ein Restbetrag für die Anwaltsgebühren in Höhe von 10,23 EUR. Zu den weiteren Positionen in der Berechnung der Anwaltskosten in der Klageschrift (Seite 18) fehlen ausreichende Darlegungen des Klägers.

    10. Dem Kläger stehen aus den ausgeurteilten Beträgen Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz zu gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1, 291 BGB. Soweit die Beklagten vorgerichtlich vom Kläger gemahnt wurden, ist als Zinsdatum der 20.01.2016 maßgeblich (vgl. das Schreiben des Kläger-Vertreters vom 09.12.2015, Anlage K 17). Das Schreiben des Kläger-Vertreters vom 09.12.2015 ist im Hinblick auf das Schmerzensgeld lediglich in Höhe des Betrags von 5.000,00 EUR als unbedingte Zahlungsaufforderung gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 BGB zu verstehen. Soweit das im Berufungsverfahren zuerkannte Schmerzensgeld den Teilbetrag von 5.000,00 EUR übersteigt, besteht eine Verzinsungspflicht daher erst ab der Rechtshängigkeit.

    11. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708, Ziff. 10, 713 ZPO.

    12. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Rechtsfragen sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt.

    RechtsgebieteZPO, StVG, VVGVorschriften§ 286 Abs. 1 ZPO, § 287 Abs. 1 ZPO, § 253 Abs. 2 ZPO, § 7 Abs. 1 StVG, § 18 Abs. 1 StVG, § 17 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 VVG