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  • · Fachbeitrag · Unfallversicherung

    So müssen Sie bei Bewusstseinsstörung und fehlender Erinnerung des VN vorgehen

    von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte

    • 1. Eine Bewusstseinsstörung (Nr. 5.1.1 AUB 2008) setzt nicht den Eintritt völliger Bewusstlosigkeit voraus. Es genügen vielmehr solche gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit des Versicherten, die die gebotene und erforderliche Reaktion auf die vorhandene Gefahrenlage nicht mehr zulassen, die also den Versicherten außerstande setzen, den Sicherheitsanforderungen seiner Umwelt zu genügen.
    • 2. Beweispflichtig ist der VR. Den VN trifft die Darlegungslast, wie es zu dem Unfall kommen konnte.

    (OLG Düsseldorf 31.8.12, 4 U 218/11, Abruf-Nr. 123357)

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Die VN war nachts aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster gefallen und hatte sich dabei erheblich verletzt. Die Höhe der verbliebenen Invalidität war streitig. Der VR ging von einer Invalidität von 20 Prozent aus und hat die entsprechenden Leistungen erbracht. Die VN macht Leistungen nach einer Invalidität von 80 Prozent geltend. Sie behauptet, sie sei aufgrund der wetterbedingten Hitze im Bett aufgewacht, habe Übelkeit verspürt und sich benommen gefühlt. Sie habe sich dann entschlossen, an das lediglich gekippte Fenster zu gehen, um es zu öffnen. Was nach dem Öffnen des Fensters passiert sei, wisse sie nicht mehr. Die Klage ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben.

     

    Das OLG hat die Voraussetzungen der Bewusstseinsstörung wie in LS 1 ersichtlich aufgezeigt. Ob eine Bewusstseinsstörung in diesem Sinne vorgelegen hat, hängt damit sowohl vom Ausmaß der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit, als auch von der konkreten Gefahrerhöhung ab, in der sich die VN befunden hat. Um dies zu beurteilen ist eine fallbezogene Betrachtung erforderlich. Dabei ist eine Bewusstseinsstörung im vorbeschriebenen Sinne nicht von vornherein dadurch ausgeschlossen, dass der entsprechende Zustand nur einige Sekunden gedauert hat. Denn auch eine solche nur kurzzeitige gesundheitsbedingte Störung der Aufnahme- und Gegenwirkungsmöglichkeit kann geeignet sein, dem Versicherten die Fähigkeit zu nehmen, die konkrete Gefahrenlage, in der er sich befindet, zu beherrschen (BGH NJW 08, 3644; OLG Hamm VK 09, 46). Damit ist unter einer Bewusstseinsstörung auch eine kurzfristig aufgetretene gesundheitliche Beeinträchtigung, die eine gebotene und erforderliche Reaktion auf eine Gefahrenlage nicht mehr zulässt, zu verstehen, wie eine vorübergehende Kreislaufreaktion („Schwarz vor Augen werden“) oder ein plötzlicher Schwindelanfall (OLG Hamburg r+s 07, 386). Ob hiernach eine Bewusstseinsstörung vorliegt, ist aus dem Verhalten des Versicherten vor dem Unfall, seiner allgemeinen konstitutionellen Veranlagung und auch aus dem Unfallhergang selbst zu folgern.

     

    Der Senat ist überzeugt, dass die VN aufgrund einer Kreislaufschwäche oder eines plötzlichen Schwindelanfalls aus dem Fenster gestürzt ist. Ein anderer Grund für den Sturz wird von ihr nicht genannt. Sie trägt im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast (vgl. OLG Hamburg r+s 07, 386; OLG Hamm VK 09, 46) auch keine Umstände vor, die eine äußere Ursache für den Sturz plausibel erscheinen lassen. Es ist einzig lebensnah, dass sie wegen kurzzeitiger Kreislaufprobleme aus dem Fenster gefallen ist. Für die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugungsbildung reicht der hier vorliegende für das praktische Leben brauchbare Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Eine jede andere Möglichkeit ausschließende absolute Gewissheit ist nicht erforderlich.

     

    Praxishinweis

    Für den Anwalt sind Prozesse wie der vorliegende stets besonders heikel. Zwar muss der VR den Ausschlusstatbestand der Bewusstseinsstörung beweisen. Den VN trifft aber die Darlegungslast, wie es zu dem Unfall, der als solcher sich von selbst beweist, kommen konnte. Hier entscheidet sich regelmäßig der Prozess. Der VN, den die sekundäre Darlegungslast trifft, muss nicht spekulieren. Er hat sich wahrheitsgemäß zum Geschehen zu äußern. Kann er das nicht, genügt zunächst der Hinweis, sich an den Unfall nicht erinnern zu können. Das ändert an der Beweislast des VR überhaupt nichts.

     

    Im Streitfall hat die VN sich auf fehlende Erinnerung an den Unfall berufen. Dies hilft aber nur weiter, wenn das Sichnichterinnern nicht seinerseits als Indiz für eine Bewusstseinsstörung angesehen werden kann. So hat es das OLG hier mit dem Hinweis, ein anderer Grund (als Bewusstseinsstörung) für den Fenstersturz sei nicht genannt worden, offensichtlich gemacht. Diese Deduktion wäre wegen der Beweislast des VR nicht möglich gewesen, wenn ein anderer Grund aufgezeigt worden wäre, der erklärt, warum keine Angaben zum Unfallhergang gemacht werden können. Ein solcher Grund kann insbesondere in der Art oder Schwere des Unfalls liegen (retrograde Amnesie). Diese Frage muss der Mediziner beurteilen, sie kann auch ein Versicherungssenat nicht aus eigener Kenntnis entscheiden. Die Vorlage eines ärztlichen Attests zu dem wegen der sekundären Darlegungslast stets erforderlichen Sachvortrag ist daher nicht erforderlich, aber natürlich hilfreich.

     

    Nur wenn ernsthaft möglich bleibt, dass andere Gründe als das Unwohlsein den Unfall verursacht haben, wird die Klage Erfolg haben. Solche Gründe können z.B. in einer niedrigen Fensterbrüstung, rutschigen Teppichen, anlassbezogenem Hinauslehnen aus dem Fenster o.Ä. liegen. Dass muss geklärt und entsprechend vorgetragen werden. Dabei muss es sich nicht notwendig um tatsächlich Erinnertes handeln. Kann sich der VN belegbar nicht an das Unfallgeschehen erinnern, darf er auch ihm günstige andere Behauptungen aufstellen. Anderenfalls besteht stets die Gefahr, dass das Gericht - wie hier - wegen Vorerkrankungen i.V.m. geschildertem Unwohlsein sich von dem Vorliegen des Ausschlusses überzeugt zeigt. Die Erfolgsaussichten einer Nichtzulassungsbeschwerde sind in einem solchen Fall gering.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Ausführlich zum Thema mit umfangreicher Checkliste: Lücke, VK 09, 46
    Quelle: Ausgabe 01 / 2013 | Seite 8 | ID 37131980