Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Unfallversicherung

    Maßgeblicher Zeitpunkt für die Erstbemessung

    von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte

    • 1. Bei einem Rechtsstreit um die Erstbemessung des Invaliditätsgrads kommt es nur dann auf den Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfallereignis an, wenn bei Klageerhebung bedingungsgemäß noch eine Nachprüfung möglich ist. Ansonsten ist der Zeitpunkt ein Jahr nach dem Unfallereignis bzw. der Zeitpunkt einer einvernehmlichen Begutachtung nach Abschluss des Heilverfahrens maßgeblich.
    • 2. Auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der dieser zugrunde liegenden gutachterlichen Untersuchung, die außerhalb der 3-Jahresfrist liegt, kommt es nicht an (entgegen OLG Düsseldorf VersR 13, 1573).
    • 3. Der Bemessung des Invaliditätsgrads sind alle zum maßgeblichen Zeitpunkt vorliegenden Tatsachen und Erkenntnisse zugrunde zu legen.
    • 4. Eine später vorgenommene Sprunggelenksversteifung bleibt unberücksichtigt, wenn sie zum maßgeblichen Stichtag erörtert oder in Betracht gezogen wurde, die spätere Notwendigkeit aber noch nicht absehbar war.

    (OLG Hamm 25.6.14, 20 U 61/14, Abruf-Nr. 144307)

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der VN hatte eine Unfallversicherung unter Geltung der AUB 2002 genommen. Bei einem Leitersturz vom 5.5.08 hatte er sich am rechten Sprunggelenk verletzt. Nach einer abschließenden Untersuchung vom 9.2.11 setzte der VR entsprechend dem insoweit erstatteten Gutachten die Invalidität auf ¼ Beinwert fest und zahlte die dafür geschuldete Entschädigung aus. Der VN hat am 21.6.11 eine höhere Invaliditätsentschädigung mit der Begründung verlangt, der Entscheidung liege ein falscher Zeitpunkt für die Bemessung der Invalidität zugrunde: Insoweit komme es auf den Ablauf des Dreijahreszeitraums nach dem Unfall an. Ferner sei eine höhere Invalidität auch deshalb geschuldet, weil im November 2012 das Sprunggelenk unfallbedingt habe versteift werden müssen.

     

    Die Klage ist in beiden Instanzen erfolglos geblieben. Nach dem Hinweisbeschluss des OLG hat der VN die Berufung zurückgenommen. Dem Hinweisbeschluss lagen folgende Argumente zugrunde:

     

    • Auf den Stichtag drei Jahre nach dem Unfall (Ziff. 9.4 AUB) kommt es nicht an. Dieser Stichtag ist allenfalls relevant, wenn die Klage erhoben wird, solange bedingungsgemäß noch eine Nachprüfung der Invaliditätsfeststellung möglich ist. Eine solche Nachprüfung des Invaliditätsgrads ist bis zu drei Jahre nach dem Unfall möglich, wenn der VR sie sich bei der Erstfeststellung vorbehalten hat, bzw. wenn der VN sie drei Monate vor Fristablauf geltend macht. Streiten die Parteien über die Erstfestsetzung der Invalidität und ist eine Nachprüfung bedingungsgemäß noch möglich, so sind sie im Hinblick auf Gesundheitsveränderungen bis zum Ablauf der 3-Jahresfrist nicht auf ein außerprozessuales Nachprüfungsverfahren angewiesen. Vielmehr können sie den Streit über den Invaliditätsgrad aus prozessökonomischen Gründen insgesamt im laufenden Verfahren austragen. Es kommt dann für die Frage der Invaliditätsbemessung auf den Gesundheitszustand am Ende der 3-Jahresfrist an (vgl. BGH VK 09, 147 = VersR 09, 1213; VersR 08, 527; Jacob, VersR 14, 291, 292).

     

    • So liegt der Fall hier allerdings nicht. Der VN hat sich nur gegen die Erstfestsetzung gewandt und hat auch nicht fristgerecht auf eine Neufestsetzung angetragen. Maßgeblich ist deshalb allein der Zeitpunkt der letzten sachverständigen Untersuchung des Klägers durch den Sachverständigen am 9.2.11. Zwar schreibt Ziffer 2.1.1.1 AUB vor, dass die Invalidität binnen eines Jahres eingetreten sein muss. Deshalb ist für die Erstfeststellung grundsätzlich auf diesen Zeitpunkt abzustellen (BGH VersR 94, 971). Dies ist allerdings nur praktikabel, wenn sich der Gesundheitszustand des Versicherten innerhalb der Jahresfrist so verfestigt hat, dass die Bestimmung eines konkreten Invaliditätsgrads möglich ist. Angesichts langwieriger Heilverläufe ist dies häufig aber nicht der Fall. Wartet der VR in einem solchen Fall gem. Ziffer 9.1 AUB den Abschluss des Heilverfahrens ab und stützt seine Invaliditätserklärung auf ein danach im Einvernehmen mit dem Versicherten eingeholtes Gutachten, so ist davon auszugehen, dass sich beide Parteien mit dem Untersuchungszeitpunkt als maßgeblichem Stichtag einverstanden erklären (BGH a.a.O.; OLG Hamm VersR 01, 1549; VersR 98, 1273).

     

    • Unabhängig vom richtigen Stichtag für die Erstfeststellung verkennt der Kläger außerdem, dass der Bemessung des Invaliditätsgrads zu diesem Zeitpunkt nicht sämtliche Tatsachen zugrunde zu legen sind, die danach bzw. im anhängig gemachten Rechtsstreit bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorgetragen sind. Maßgeblich für die zum Stichtag vorzunehmende Invaliditätsbemessung ist, welche objektiv vorliegenden Beeinträchtigungen dem Versicherten voraussichtlich dauerhaft verbleiben. Es handelt sich insofern um eine auf die zum Stichtag vorliegenden Tatsachen gestützte, aber in die Zukunft gerichtete Prognoseentscheidung. Nach dem Stichtag eingetretene Tatsachen bleiben unberücksichtigt, denn der VR haftet bedingungsgemäß nicht für Spätschäden, sondern nur für die Invalidität, die innerhalb der Jahresfrist bzw. bis zur einvernehmlichen gutachterlichen Untersuchung (s. o.) eingetreten ist.

     

    • Die Invaliditätsbemessung zum maßgeblichen Stichtag wird durch später eintretende Tatsachen nur ausnahmsweise in Frage gestellt. Dann müssen die späteren Gesundheitsveränderungen Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zulassen, wie er zum Stichtag bereits vorlag und wie er demgemäß im Rahmen der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen ist. Nur insoweit können - entgegen OLG Düsseldorf VK 14, 45 - bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung eingetretene Gesundheitsveränderungen in die Erstbemessung einfließen. Zu berücksichtigen sind aber nur die Gesundheitsveränderungen, mit deren Eintreten aus medizinisch-sachverständiger Sicht zu rechnen ist. Das ist in Bezug auf die Gelenksversteifung nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht der Fall gewesen.

     

    Praxishinweis

    Für das Ergebnis von großer Bedeutung ist wegen der vielfachen Möglichkeiten einer gesundheitlichen Verbesserung oder Verschlechterung der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Invalidität. Streng zu unterscheiden sind gem. nachfolgendem Schema die Erst- und die Neufestsetzung, wobei Letztere je nach Vertragswerk einen fristgerechten Vorbehalt oder fristgerechte Geltendmachung voraussetzt.

     

     

    Sind nach einer Erstbemessung gesundheitliche Verschlechterungen eingetreten, muss stets eine Neubemessung rechtzeitig verlangt werden. Nur so kann erzwungen werden, dass die Verschlechterungen berücksichtigt werden. Sind weitere Verschlechterungen zwar zu befürchten, aber noch nicht eingetreten, können diese nur dann berücksichtigt werden, wenn der Sachverständige sie schon im Zeitpunkt des Fristablaufs (3 Jahre nach dem Unfall) erwartet hat und deshalb bei seiner Prognoseentscheidung berücksichtigen konnte. Unerwartete Verschlechterungen können nicht, auch nicht bei einer Neufestsetzung, berücksichtigt werden.

     

    MERKE | Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Parteien individualvertraglich einen späteren Termin für die Prognoseentscheidung vereinbart haben. Eine solche Vereinbarung hat nach § 305b BGB stets Vorrang. Sie sollte, etwa bei weiterlaufenden Reha-Maßnahmen, angestrebt werden, auch wenn darauf gegenüber dem VR kein Anspruch besteht.

     

    Geht es zunächst nur um die Überprüfung der Erstfestsetzung, muss der Streit über den Invaliditätsgrad im laufenden Verfahren erfolgen. Nach Auffassung des OLG Hamm kommt ein späterer Zeitpunkt als ein Jahr nach dem Unfall nur bei abweichender Vereinbarung oder, begrenzt auf drei Jahre, dann in Betracht, wenn eine Neufestsetzung bedingungsgemäß noch möglich war. Danach ist es wichtig, diese Frist nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei kann die fristgerechte Geltendmachung einer Verschlechterung gegenüber der Erstfestsetzung wohl schon als Ausübung des Nachprüfungsrechts angesehen werden.

     

    MERKE | Gleichwohl empfiehlt es sich dringend, eine etwa gegenteilige Auffassung des Gerichts nicht erst aus dem Urteil zu erfahren und deshalb ausdrücklich auf Neufestsetzung anzutragen. Ob der BGH diese - auch von mir vertretene - Auffassung vom Zeitpunkt der Erstbemessung wirklich teilt, ist noch unklar.

     

    Kommt der VR bei der Erstfestsetzung seiner Hinweispflicht auf die Möglichkeit einer Neubemessung der Invalidität nicht nach, kann er sich gem. § 188 Abs. 2 S. 2 VVG auf eine Fristversäumnis des VN nicht berufen. Beweispflichtig für berücksichtigungsfähige Verschlechterungen im Gesundheitszustand gegenüber der Erstfestsetzung ist der VN, für eingetretene Verbesserungen der VR.

    Quelle: Ausgabe 05 / 2015 | Seite 80 | ID 43327340