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  • · Fachbeitrag · Berufsunfähigkeitszusatzversicherung

    Geld und Freizeit allein können Qualifikation und Wertschätzung nicht ausgleichen

    von RA Marc O. Melzer, FA für Medizinrecht, Sozialrecht und Versicherungsrecht, Bad Lippspringe

    • 1. In der Berufsunfähigkeitsversicherung mit abstrakter Verweisung kann der Versicherte nicht auf eine Tätigkeit als Angestellter verwiesen werden, die gegenüber der früheren selbstständigen Tätigkeit bei geringeren Anforderungen an die Qualifikation und geringerer gesellschaftlicher Wertschätzung eine kürzere Arbeitszeit, ein höheres Entgelt und eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung bietet.
    • 2. Hat der Versicherte neue berufliche Fähigkeiten freiwillig erworben, darf der VR wegen einer neuen Berufstätigkeit von seinem Recht zur Leistungseinstellung erst dann Gebrauch machen, wenn der Versicherte eine Festanstellung gefunden hat.

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Der VN war selbstständiger Gas- und Wasserinstallateur-Meister (ohne Angestellte). Weil er an einer Depression mit schweren depressiven Episoden erkrankte, musste er seinen Betrieb einstellen. Der VR erkannte den Eintritt der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit an und erbrachte rückwirkend die vereinbarten Leistungen (Rente und Beitragsbefreiung). In der Folge schulte der VN zum medizinisch-technischen Laborassistenten (MTLA) um. Seit Mai 2008 ist er in einem befristeten Arbeitsverhältnis bei einer Universitätsklinik beschäftigt. Er verdient dort ca. 2.450 EUR bei täglich acht Arbeitsstunden.

     

    Im Juli 2010 teilte der VR dem VN mit, dass er seine Leistungen einstellen werde. Der VN habe ab diesem Zeitpunkt wieder die Beiträge zu zahlen. Er könne mit dem jetzt erzielten Einkommen die bisherige Lebensstellung wahren. Der VN hat in erster Instanz behauptet, er könne auf keine andere Tätigkeit verwiesen werden. Die neue Tätigkeit als angestellter MTLA komme nicht als Verweisberuf in Betracht. Es sei nur ein befristetes Arbeitsverhältnis.

     

    Der VR meint, dass allein die Tatsache der Selbstständigkeit nicht geeignet sei, einen „Bonus“ für den bisher ausgeübten Beruf zu gewähren. Von einem spürbaren Abfallen der Tätigkeit in der sozialen Wertschätzung gegenüber dem bisher ausgeübten Meisterberuf könne nicht gesprochen werden. Die Einkommenseinbuße betrage nicht einmal drei Prozent. Zudem würden bei einem Selbstständigen von dem Einkommen die gesamten Sozialversicherungsleistungen abgezogen. Die jetzige Tätigkeit unterfordere den VN nicht.

     

    Das LG Heidelberg hat der Klage nach Einholung eines berufskundlichen Gutachtens stattgegeben. Der Sachverständige hat festgestellt, dass die frühere Tätigkeit als selbstständiger Gas- und Wasserinstallateur hinsichtlich der Qualifikation und der gesellschaftlichen Wertschätzung über dem Niveau der Beschäftigung als angestellter medizinisch-technischer Laborassistent liege, die Weiterbildungsmöglichkeiten in beiden Berufen vergleichbar seien und die jetzige Vergütung sogar spürbar über dem bisherigen Einkommen liege. Nicht gefolgt ist das LG dem Gutachten, wonach das Mehr an Qualifikation und gesellschaftlicher Wertschätzung in der früheren selbstständigen Tätigkeit durch die jetzige kürzere Arbeitszeit, das höhere Entgelt und die sozialversicherungsrechtliche Absicherung abgeschmolzen und ausgeglichen werde.

     

    Hiergegen wendet sich die Berufung des VR. In der Sache rügt er, dass das LG von der Einschätzung des Sachverständigen abgerückt sei. Die alte und neue Berufstätigkeit des VN sei unter Einbeziehung der Einkommensseite und der nunmehr deutlich geringeren Arbeitszeit als gleichwertig anzusehen.

    Das OLG Karlsruhe hat bestätigt, dass der VN nicht auf seine derzeit ausgeübte Berufstätigkeit verwiesen werden kann. Den „bilanzierenden Erwägungen“ des Sachverständigen sei das LG zu Recht nicht gefolgt. Qualifikation und Wertschätzung sind keine Faktoren, die allein durch Geld und Freizeit ausgeglichen werden können. Schließlich wählen die Menschen aus den ihnen zugänglichen Berufen auch nicht stets den, der höchsten Lohn und geringste Arbeitszeit verspricht.

     

    Praxishinweis

    Die Berufsunfähigkeitsversicherung kann insbesondere bei der hier vereinbarten Möglichkeit der abstrakten Verweisung zumindest in den Randbereichen deutliche Gerechtigkeitsdefizite aufweisen. So kann ein aus gesundheitlichen Gründen einkommensloser Versicherter keine Leistungen erhalten, weil er auf einen anderen Beruf verwiesen werden kann, in dem er aus Gründen des Arbeitsmarkts keine Stelle findet, während ein anderer Versicherter Leistungen bezieht, obwohl er gar keine finanziellen Einbußen hinnehmen muss. Derartige Missverhältnisse kann die Rechtsprechung aber weder in die eine noch die andere Richtung korrigieren.

     

    Die jetzige Berufstätigkeit war dem VN nur möglich, weil er nach Eintritt des Versicherungsfalls neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe. Setzt aber erst der freiwillige Erwerb neuer beruflicher Fähigkeiten den Versicherten in den Stand, eine andere Tätigkeit im Sinne der Bedingungen auszuüben, darf der VR von seinem Recht zur Leistungseinstellung erst dann Gebrauch machen, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz in einem Vergleichsberuf erlangt hat oder sich um einen solchen nicht in zumutbarer Weise bemüht (Senat VersR 06, 59; BGH VersR 00, 171).

     

    Der VN konnte aufgrund seiner gesundheitlichen Vorgeschichte bislang noch kein unbefristetes Arbeitsverhältnis eingehen und war - wohl auch im Hinblick auf seine gesundheitsbedingten Ausfälle bei seiner derzeitigen Tätigkeit - auf das Wohlwollen Dritter und die Genehmigung von Fördermitteln angewiesen. Schon dieser Umstand steht der Annahme entgegen, der VN übe jetzt einen Verweisberuf aus.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Zum letzten Punkt vgl. auch Lücke in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., § 2 BU Rn. 73; Voit/Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 2. Aufl., J Rn. 28 ff.
    Quelle: Ausgabe 02 / 2013 | Seite 30 | ID 37672930