Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Betriebswirtschaft

    Fachkräftemangel durch Selbstzahlerleistungen lösen ‒ eine Milchmädchenrechnung

    von Dipl.-Volkswirt / Sportwissenschaftler (M. A.) Uwe Schiessel, Uwe Schiessel Consulting, www.USConline.de

    | Aufgrund der Schwierigkeiten, offene Stellen umgehend wieder mit Therapeuten besetzen zu können, werden immer wieder kreative Ideen zur Lösung des Fachkräftemangels vorgeschlagen. In einem Online-Diskussionsforum wurde von einem Therapeutenverband folgende Lösung präsentiert: Indem eine Therapiepraxis ihr Angebot an Selbstzahlerleistungen erweitert, kann sie ihr Problem des Fachkräftemangels mildern bzw. lösen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist dieser Vorschlag nicht zielführend. |

    Idee: Selbstzahlerleistungen gegen Fachkräftemangel

    Die Idee hinter der Annahme beruht darauf, dass dem Fachkräftemangel durch höhere Löhne der Therapeuten entgegengewirkt werden kann. Diese höheren Löhne sollen sich durch das Anbieten von Selbstzahlerleistungen erzielen lassen. Als Beispiele werden vorgeschlagen:

     

    • Gruppenkurse nach § 20 SGB V Primärprävention
    • Betriebliches Gesundheitsmanagement
    • Gerätezirkel
    • Heilpraktiker/sektorale Heilpraktiker Leistungen
    • Reha-Sport

    Die Situation in den Praxen

    Die derzeitige Situation in den Heilmittelpraxen stellt sich bundesweit ähnlich dar: Aufgrund zahlreicher Gründe (z. B. Renteneintritt, Schwangerschaften, Umzug, bessere Arbeitsbedingungen in anderen Praxen, höhere Lohnangebote) verlieren Heilmittelpraxen regelmäßig Therapeuten. Die offenen Stellen können oftmals über viele Monate nicht wieder neu besetzt werden. Dies bewirkt, dass die verbleibenden Therapeuten kurzfristig durch Überstunden versuchen, die Nachfrage nach Therapieleistungen bewältigen zu können. Mittelfristig entstehen lange Wartelisten und es entsteht zwangsweise eine Selektierung der Patienten. Hausbesuche werden nur noch in geringem Umfang neu vergeben und schlecht bezahlte Leistungen (z. B. Lymphdrainage) werden, soweit möglich, nicht mehr angeboten.

     

    Wer nun in dieser Situation versucht, dem Fachkräftemangel durch das Angebot von Selbstzahlerleistungen entgegenzuwirken, verschlimmert die vorliegende Situation noch zusätzlich. Es führt dazu, dass Therapiemöglichkeiten für Leistungen auf ärztliche Verordnung (Rezeptumsatz) reduziert werden und die Wartelisten noch weiter ansteigen. Das ganze Thema wird dann auf dem Rücken der Patienten ausgetragen, die nur noch Therapieleistungen bekommen, wenn sie Selbstzahlerleistungen dazubuchen.

     

    MERKE | Dieses Phänomen ist uns von den Ärzten her bekannt. Viele Ärzte streben höher bezahlte Behandlungen wie Operationen vermehrt an und reduzieren dadurch die Behandlungszeiten für weniger lukrative Patienten deutlich. So entstehen z. B. bei Orthopäden Wartezeiten von mehreren Monaten, weil sich die Ärzte auf Operationen spezialisiert haben.

     

    Lohnsteigerungspotenzial von Selbstzahlerleistungen

    Um eine betriebswirtschaftliche Analyse durchzuführen, inwieweit Selbstzahlerleistungen wirklich zu höheren Umsätzen und Gewinnen beitragen, ist in Zeiten des Fachkräftemangels von begrenzten Kapazitäten auszugehen. Das bedeutet: Was Sie in Ihrer Praxis an Ressourcen aufwenden, um Selbstzahlerleistungen zu erbringen, fehlt Ihnen für die Erbringung regulärer Therapieleistungen. Somit sinkt der Umsatz der normalen Therapienachfrager. Der Umsatz aus dem Selbstzahlerangebot kommt also nicht zusätzlich zum Gesamtumsatz hinzu, sondern der Umsatzzuwachs bei den Selbstzahlerleistungen geht zulasten des Umsatzes aus dem regulären Therapieangebot ‒ letztlich also ein Nullsummenspiel.

     

    • Beispiel: 10 Prozent mehr Selbstzahlerleistungen = 70 Euro mehr Monatslohn

    Angenommen, Sie möchten 10 Prozent des Angebots eines Therapeuten durch Selbstzahlerleistungen ersetzen (= 4 Stunden pro Woche bei einer Vollzeitkraft). Bei einem geschätzten Jahresumsatz eines Therapeuten von 70.000 Euro (ca. 50 Euro pro Stunde bei ca. 15 Prozent Privatanteil) würden damit 7.000 Euro an normalen Rezeptleistungen (gesetzlich und privat) wegfallen. Diese würden ersetzt durch ein deutlich teureres Selbstzahlerangebot. Dieses liegt 30 Prozent höher als der Durchschnitt aus dem bisherigen Rezeptumsatz: statt 50 Euro pro Stunde nun 65 Euro pro Stunde.

     

    Dadurch würden Sie eine Umsatzsteigerung von 30 Prozent erreichen: Auf 7.000 Euro Umsatz pro Jahr gewinnen Sie 2.100 Euro Umsatz pro Jahr hinzu. Unter Einhaltung der 50/50-Regel (s. u.) können Sie davon 1.050 Euro pro Jahr an den Therapeuten ausschütten. Allerdings müssen Sie noch den Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung (ca. 25 Prozent) berücksichtigen. Somit können Sie das Jahresbruttogehalt um 840 Euro (= 1.050 Euro - 210 Euro Arbeitgeberanteil) erhöhen. Macht also eine Lohnsteigerung pro Monat von 70 Euro aus.

     

    Merke | Die 50/50-Regel besagt, dass ein Therapeut mindestens doppelt so viel Umsatz erwirtschaften muss, wie er Sie als Arbeitgeber kostet. D. h., ein Therapeut, der 2.500 Euro brutto verdienen möchte, kostet inkl. Arbeitgeberanteil 3.125 Euro. Somit müsste Ihr Therapeut mindestens einen durchschnittlichen monatlichen Umsatz von 6.250 Euro erwirtschaften (= Jahresumsatz von 75.000 Euro).

     

    In diesem Rechenbeispiel ist noch nicht berücksichtigt, dass sich Selbstzahlerleistungen nur mit zusätzlichem Aufwand anbieten lassen. Neben eventuellen Investitionen (z. B. Geräte, Ausstattungen, Lizenzen, Fortbildungen) und damit verbundenen monatlichen Abschreibungen, muss ein Selbstzahlerangebot auch entwickelt werden. Hier kann nochmals ein größerer Aufwand an Zeit dazukommen, in der Sie auch keine Therapien durchführen können. Betriebswirtschaftlich müssen diese Kosten und Zeitaufwendungen auch mitkalkuliert werden. Und wenn Sie, wie im Beispiel dargestellt, den Umsatz nur um ca. 2.100 Euro pro Jahr und Therapeut steigern können, wird deutlich, dass sich das nicht immer rentiert und das Anbieten von Selbstzahlerleistungen schnell zur Milchmädchenrechnung verkommen kann.

    Hier lohnt sich die Einführung von Selbstzahlerangeboten

    Im betriebswirtschaftlichen Handeln gibt es verschiedene Instrumente, die Sie situationsbezogen sinnvoll einsetzen können. Aber nicht jedes Instrument bringt Sie in allen Situationen und bei allen Rahmenbedingungen weiter. Darum steht vor jeder betriebswirtschaftlichen Handlung immer erst die betriebswirtschaftliche Analyse. Somit ist betriebswirtschaftliches Handeln im Idealfall problemlösungsorientiertes Handeln:

     

    • Welches Problem liegt vor?
    • Welche Rahmenbedingungen liegen vor?
    • Wie kann das Problem gelöst werden?
    • Welche Handlungsalternativen kommen für mich infrage?

     

    Die Einführung von Selbstzahlerleistungen ist i. d. R. dann sinnvoll, wenn Sie freie Kapazitäten haben. Dies können räumliche Kapazitäten, aber auch personelle Kapazitäten sein. Dies ist deshalb wichtig, weil dann das Zusatzangebot nicht mit sowieso möglichen Nachfragen konkurriert. Das Problem begrenzter Personalkapazitäten können Sie umgehen, indem Sie Selbstzahlerleistungen ohne Personaleinsatz anbieten (z. B. Unterwassermassagegeräte, elektrische Massageliegen, unbetreute Gerätezirkel). Wenn Sie die Möglichkeit dazu haben, dann müssen Sie die Mehrumsätze nicht mit den nicht durchgeführten Therapien gegenrechnen. Sie brauchen dann nur die Anschaffungskosten und die laufenden Kosten zu kalkulieren. Eventuell kommt noch der Aufwand für Marketingmaßnahmen und Verkaufsaktionen hinzu, denn auch diese Selbstzahlerangebote verkaufen sich nicht von selbst.

     

    PRAXISHINWEIS | Als Praxisinhaber gehen Sie allerdings das Risiko einer Investition in ein Angebot ohne Personaleinsatz ein. Das bedeutet, dass der Umsatz des einzelnen Therapeuten durch das zusätzliche Angebot nicht steigt. Inwieweit Sie als Arbeitgeber Ihre Angestellten an dem Mehrumsatz teilhaben lassen, der durch die Investition erzielt wird, bleibt Ihnen überlassen.

     

    Volkswirtschaftlich nur langfristig eine Lösung

    Die Idee, den Fachkräftemangel durch Lohnsteigerungen zu lösen, kann langfristig eine Lösung sein, weil dadurch der Beruf des Therapeuten wieder attraktiver wird: Höhere Löhne, besserer Sozialstatus und die Hoffnung darauf, im Alter nicht wegen eines über die Arbeitsjahre viel zu schlecht bezahlten Berufs in Altersarmut zu geraten, können dazu führen, dass sich wieder mehr Schulabgänger für diese Berufe entscheiden.

     

    Allerdings gilt auch hier für die langfristige Betrachtung das Zitat von John Maynard Keynes: „In the long run, we are all dead.“ („Auf lange Sicht sind wir alle tot.“) Und kurzfristig ist ein Ausbau der Selbstzahlerleistungen keine Lösung: Der Wettbewerb um Arbeitskräfte wird über höhere Löhne auf dem Rücken der Praxisinhaber ausgetragen, solange sich die Erstattungssituation nicht deutlich ändert. Ohne Optimierungsmaßnahmen werden höhere Lohnforderungen die Rentabilität vieler Praxen gefährden.

    Lösungsansätze für Fachkräftemangel

    Lösungsansätze für Fachkräftemangel gibt es aber trotzdem einige. In vielen Physiotherapiepraxen wird immer noch im uneffektiven Zeittakt behandelt. Selbst Praxen mit drei bis vier Therapeuten arbeiten ohne Rezeptionskräfte im 30-Minuten-Takt, was eine Vergeudung von Therapiemöglichkeiten ist. Gerade Logopäden bieten immer noch Arbeitsverträge an, bei denen 40 Therapien in 40 Wochenstunden vereinbart werden. Das bedeutet 30 Stunden Therapiezeit und 10 Stunden Orgazeit pro Woche. Dass das nicht wirtschaftlich sein kann und auch ein Brachliegen von Therapiepotenzial bewirkt, muss jedem klar sein. Aber selbst die Arbeitsvertragsvorlage des Deutschen Bundesverbands für Logopädie e. V. propagiert dieses Modell.

     

    Zudem liegt die umsatzrelevante Arbeitszeit von Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden deutschlandweit immer noch bei nur ca. 80 Prozent der Arbeitszeit. Allein durch eine Optimierung der umsatzrelevanten Arbeitszeit wäre eine Ausdehnung des Therapieangebots um 12,5 Prozent kurzfristig möglich. Und das bei deutlich höheren Umsätzen pro Therapeut und damit auch deutlichem Lohnsteigerungspotenzial.

     

    • Beispiel: Optimierung umsatzrelevanter Arbeitszeit = 291 Euro mehr Monatslohn

    Eine Erhöhung der umsatzrelevanten Arbeitszeit von 80 Prozent auf 90 Prozent würde eine Umsatzsteigerung von 8.750 Euro pro Vollzeittherapeut und Jahr bewirken. Somit könnten Sie unter Beachtung der 50/50-Regel 4.375 Euro ausschütten. Nach Abzug des Arbeitgeberanteils von ca. 25 Prozent wäre das eine Steigerung des Bruttogehalts von 3.500 Euro pro Jahr und somit eine Erhöhung des Bruttolohns von 291,67 Euro pro Monat. Und eine durchschnittliche Lohnsteigerung um knapp 300 Euro kann den Beruf der Heilmittelerbringer wieder attraktiver machen.

     

    Selbstzahlerangebote nur in Einzelfällen sinnvoll

    Den Fachkräftemangel durch das Einführen von Selbstzahlerleistungen in Heilmittelpraxen lösen zu wollen, ist wohl eher eine Milchmädchenrechnung. Der Ausbau von Selbstzahlerleistungen zulasten regulärer Therapieangebote verschlimmert nur den Therapeutenmangel und würde das Angebot von Therapieleistungen auf Rezept sogar noch verknappen. Allerdings können Selbstzahlerleistungen für bestimmte Praxen zielorientierte Lösungen bieten. Hier kommt es aber genau auf die Problembereiche der Praxen an. Individuell auszuwählen ist, welches Selbstzahlerangebot zur Praxis und zum Patientenstamm passt.

     

    Weiterführende Hinweise

    • „Aus dem Beratungsalltag in Heilmittelpraxen: Verlust einer Therapeutin und keine Bewerbungen“ (PP 01/2017, Seite 3)
    • „Fachkräftemangel in der Heilmittelbranche: Ursachen und Lösungsansätze“ (PP 08/2016, Seite 5)
    Quelle: Ausgabe 01 / 2018 | Seite 4 | ID 45038233