19.06.2020 · IWW-Abrufnummer 216339
Anwaltsgerichtshof Niedersachsen: Urteil vom 08.11.2019 – AGH 38/16
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Anwaltsgerichtshof Celle 1. Senat
08.11.2019
AGH 38/16 (I 12)
Tenor
1. Der mit Schreiben der Beklagten vom 23. September 2015 und 31. März 2016 - VB/254/14-A -, gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO erteilte belehrende Hinweis wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
1
Der Kläger ist im Bezirk der Beklagten zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Er wendet sich gegen einen ihm durch die Beklagte mit Schreiben vom 23. September 2015 und 31. März 2016 erteilten belehrenden Hinweis wegen Nichtherausgabe verschiedener Vollstreckungstitel an eine ehemalige Auftraggeberin. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
2
Der Kläger vertrat Frau ### ### als Antragstellerin gegen ihren Vater ### ### als Antragsgegner zweitinstanzlich in einem Nachabfindungsansprüche gemäß § 13 HöfeO betreffenden Rechtsstreit vor dem Senat für Landwirtschaftssachen des Oberlandesgerichts ###. Das Oberlandesgericht sprach der Antragstellerin durch Beschluss vom 2. Februar 2012 ‒ 10 W 22/10 - einen Betrag in Höhe von 156.772,77 € nebst Zinsen zu.
Durch Beschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012 wurden die erst- und zweitinstanzlichen Kostenerstattungsansprüche der Antragstellerin gegen den Antragsgegner auf 4.274,85 € bzw. 5.561,58 € jeweils nebst Zinsen festgesetzt. Am 21. Mai 2012, 26. Juni 2012 und 25. Juni 2013 leitete der Kläger für die Antragstellerin verschiedene Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Antragsgegner ein. Dieser gab im Jahr 2013 durch seinen durch Beschluss des Amtsgerichts ### vom 3. Januar 2013 ‒ 61 XVII (R) 5154 - zum Betreuer bestellten Sohn ### ### die eidesstattliche Versicherung ab.
Laut Vermögensprotokoll verfügte der Antragsgegner lediglich über eine landwirtschaftliche Altersrente in Höhe von 499,90 € monatlich. Über den Verbleib des vom Antragsgegner durch die Hofveräußerung im Jahr 2008 erzielten Kaufpreises von 837.380,87 € wurde keine Auskunft erteilt. Der Kläger stellte deswegen am 26. August 2013 und erneut am 18. Oktober 2013 im Auftrag von Frau ### Strafantrag und erstattete Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft ### gegen die beiden Herren ### wegen Vereitelung der Zwangsvollstreckung. Mit Schreiben vom 21. März 2014 kündigte Frau ### das mit dem Kläger bestehende Mandat. Am 19. Mai 2014 stellte der Kläger eine Kostenrechnung für die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Höhe von 790,74 € und am 20. Mai 2014 eine weitere für das Verfahren vor der Staatsanwaltschaft ### in Höhe von 202,30 €. Nach Ablauf der vom Kläger bis zum 4. Juni 2014 gesetzten Zahlungsfrist forderte die Mandantin von ihm mit Schreiben vom 5. Juni 2014 (u.a.) die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigungen des Beschlusses des Oberlandesgerichts ### vom 2. Februar 2012 und der beiden Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012.
Mit Schreiben vom 23. Juni 2014 antwortete der Kläger ihr, dass ihr die Unterlagen nach Ausgleich der Kostenrechnungen übersandt werden. Auf eine Zahlungserinnerung des Klägers vom 15. Juli 2014 leugnete die Mandantin, die Kostenrechnungen erhalten zu haben, weshalb ihr der Kläger die beiden Rechnungen per Einschreiben/Rückschein am 28. Juli 2014 noch einmal übermittelte.
Auch anschließend beglich die ehemalige Mandantin die Rechnungen des Klägers nicht, sondern erhob mit Schreiben vom 6. Oktober 2014 gegen ihn Beschwerde bei der Beklagten.
5
In seiner Stellungnahme vom 11. Dezember 2014 vertrat der Kläger die Auffassung, dass kein Verstoß gegen § 50 Abs. 3 BRAO vorliege. Er sei bereit, die Vollstreckungsunterlagen etc. an Frau ### auszuhändigen, sobald diese ihren Zahlungsverpflichtungen nachkomme.
6
Die Beklagte erteilte dem Kläger durch Schreiben des Vorsitzenden der Abteilung für Berufsrecht ‒ A - vom 23. September 2015, das dem Kläger am 29. September 2015 zugestellt worden ist, den Hinweis, dass er sich nicht auf ein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO berufen dürfe. Vollstreckungstitel unterlägen nicht dem Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO, da es sich hierbei um Vermögenswerte und zwar um geldwerte Urkunden im Sinne von § 4 Abs. 2 BORA handele. Diese Urkunden müssten daher gemäß § 43a Abs. 5 BRAO i.V.m. § 4 Abs. 2 BORA unverzüglich an den Berechtigten ausgehändigt werden. Da diese Rechtsfrage indes in der Kommentarliteratur umstritten sei, reiche ein Hinweis auf die Auffassung der Beklagten aus. Eine Rüge sei nicht erforderlich.
7
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2015 bat der Kläger die Beklagte um Klarstellung, ob es sich bei ihrem Schreiben vom 23. September 2015 um eine missbilligende Belehrung handele. Ferner wiederholte und vertiefte er seine Auffassung, dass ihm ein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO zustehe und wiederholte seine Bereitschaft zur Herausgabe der Titel nach Ausgleich der offenen Kostenrechnungen.
8
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2015 antwortete die Beklagte, „dass es sich bei dem Schreiben vom 23. September 2015 um eine Belehrung handelt, die unterhalb der Rüge anzusiedeln ist.“ Hiergegen sei als Rechtsmittel ein an den Vorstand der Beklagten zu richtender Einspruch binnen eines Monats ab Zustellung möglich. Der Kläger möge klarstellen, ob sein Schreiben vom 14. Oktober 2015 als Einspruch gewertet werden soll.
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2015 legte der Kläger daraufhin Einspruch ein, den er mit Schreiben vom 1. Februar 2016 begründete. Darin vertrat er die Ansicht, dass es sich bei Vollstreckungstiteln, die der Rechtsanwalt durch seine Tätigkeit für den Mandanten erwirkt habe, nicht um im Sinne des § 43a Abs. 5 BRAO anvertraute Vermögenswerte handele.
Die Zurückbehaltung der Vollstreckungstitel sei auch nicht unverhältnismäßig, da der Schuldner die eidesstattliche Versicherung abgegeben habe und nur über Renteneinkommen verfüge. Er ‒ der Kläger ‒ sei im Übrigen bereit, die Vollstreckungstitel herauszugeben, sofern Frau ### sich bereit erkläre, die offenen Rechnungsbeträge bei der Beklagten oder der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts ### zu hinterlegen.
9
Mit Bescheid vom 31. März 2016 wies der Vorstand der Beklagten den Einspruch des Klägers gegen den Hinweisbescheid vom 23. September 2015 zurück und wiederholte zur Begründung die Rechtsauffassung, dass ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 50 Abs. 3 BRAO in Bezug auf Vollstreckungstitel nicht bestehe. Die Vollstreckungstitel stellten Vermögenswerte im Sinne von § 43a Abs. 5 BRAO und § 4 Abs. 2 BORA dar und seien demgemäß an den Berechtigten weiterzuleiten. Diese Weiterleitungspflicht gehe regelmäßig der Aufnahme in die Handakten vor, soweit nicht vertraglich ausdrücklich oder konkludent etwas anderes vereinbart worden sei. Der Bescheid endete mit der Rechtsmittelbelehrung, dass der Kläger dagegen innerhalb eines Monats nach Zustellung die Entscheidung des Anwaltsgerichts beantragen könne. Der Antrag sei an das Anwaltsgericht für den Bezirk der Beklagten zu richten.
10
Mit Schriftsatz an das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer ### vom 4. Mai 2016 beantragte der Kläger, den Hinweisbescheid der Beklagten vom 23. September 2015 in der Form des ihm am 4. April 2016 zustellten Bescheides vom 31. März 2016 aufzuheben.
11
Die zweite Kammer des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer ### verwies das Verfahren nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 21. November 2016 ‒ 2 AnwG 6/16 ‒ an den Niedersächsischen Anwaltsgerichtshof, da es sich um eine verwaltungsrechtliche Anwaltssache handele, über die im ersten Rechtszug gemäß § 112a BRAO der Anwaltsgerichtshof zu entscheiden habe.
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Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
13
Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 112a Abs. 1, § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 42 VwGO) statthaft.
14
Nach § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO obliegt es dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer, die Kammermitglieder in Fragen der Berufspflichten zu beraten und zu belehren. Gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 4 BRAO hat er die Erfüllung der den Kammermitgliedern obliegenden Pflichten zu überwachen und das Recht der Rüge zu handhaben. Stellt der Vorstand einer Rechtsanwaltskammer in Wahrnehmung seiner Aufgaben fest, dass sich ein Rechtsanwalt berufswidrig verhalten hat, so kann er diesen auf die Rechtsauffassung der Kammer hinweisen und über den Inhalt seiner Berufspflichten belehren; er kann ihm auch aufgeben, das beanstandete Verhalten zu unterlassen. Auf der Grundlage des § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO ergangene belehrende Hinweise beziehungsweise missbilligende Belehrungen bei berufsrechtswidrigem Verhalten des Rechtsanwalts sind als in dessen Rechtsstellung eingreifende Verwaltungsakte anzusehen. Erteilt der Vorstand der Rechtsanwaltskammer einem Kammermitglied eine derartige missbilligende Belehrung, so stellt diese eine hoheitliche Maßnahme dar, die geeignet ist, den Rechtsanwalt in seinen Rechten zu beeinträchtigen; als solche ist sie anfechtbar (BGH, Beschluss vom 25. November 2002 - AnwZ (B) 41/02, BGHZ 153, 61, 62 f.; Urteile vom 2. Juli 2018 ‒ AnwZ (Brfg) 24/17 -, juris Rn. 11; 18. Juli 2016 ‒ AnwZ (Brfg) 22/15 ‒ juris Rn. 10; vom 26. Oktober 2015 ‒ AnwZ (Brfg) 25/15 ‒, juris Rn. 9; vom 6. Juli 2015 - AnwZ (Brfg) 24/14 -, juris Rn. 11 und vom 23. April 2012 - AnwZ (Brfg) 35/11, NJW 2012, 3039 Rn. 5).
15
Als Gesichtspunkte, die im Rahmen der insoweit vorzunehmenden Auslegung für das Vorliegen eines belehrenden Hinweises beziehungsweise einer missbilligenden Belehrung sprechen, hat der BGH insbesondere angesehen, dass der Bescheid der Rechtsanwaltskammer mit einer Entscheidungsformel versehen ist und in dieser - oder sonst im Bescheid - die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens festgestellt und ein konkretes Verbot ausgesprochen wird und der Bescheid insgesamt erkennen lässt, dass die Rechtsanwaltskammer sich bereits auf eine verbindliche Regelung der aufgeworfenen Fragen festgelegt hat. Darüber hinaus spricht es nach der Rechtsprechung des BGH für das Vorliegen eines Verwaltungsakts, wenn der Bescheid mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen und dem Rechtsanwalt förmlich zugestellt worden ist (BGH, Urteile 3. Juli 2017 ‒ AnwZ (Brfg) 45/15 ‒ Rn. 21; vom 7. November 2016 - AnwZ (Brfg) 47/15 -, Rn. 10 und vom 27. Oktober 2014 - AnwZ (Brfg) 67/13 -, jeweils juris mwN).
16
Bei den verfahrensgegenständlichen Schreiben der Beklagten vom 23. September 2015 und vom 31. März 2016 handelt es sich um einen Verwaltungsakt (§ 32 Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 35 Satz 1 VwVfG) in Gestalt eines belehrenden Hinweises beziehungsweise einer missbilligenden Belehrung.
17
Die beiden Schreiben der Beklagten sind zwar nicht ausdrücklich als „missbilligende“ Belehrung bezeichnet. Ihr Inhalt entspricht aber dem, was eine missbilligende von einer einfachen Belehrung beziehungsweise einem präventiven Hinweis unterscheidet. Die Schreiben der Beklagten gehen nach ihrem bei der Auslegung maßgebenden objektiven Erklärungswert aus Sicht des Empfängerhorizonts über eine einfache Belehrung beziehungsweise einen präventiven Hinweis hinaus. Solche auf der Grundlage des § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO ergangenen belehrenden Hinweise beziehungsweise missbilligenden Belehrungen sind namentlich dann, wenn sie ein Handlungsverbot oder ein Handlungs- oder Unterlassungsgebot aussprechen, als in die Rechtsstellung des Rechtsanwalts eingreifende Verwaltungsakte anzusehen, die dementsprechend mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können (vgl. BGH, Urteile vom 27. Oktober 2014 - AnwZ (Brfg) 67/13 -, juris Rn. 7; vom 7. November 2016 - AnwZ (Brfg) 47/15 -, NJW 2017, 407 Rn. 10, 12; jeweils mwN).
18
Von diesen Grundsätzen ausgehend handelt es sich bei den im vorliegenden Fall zu beurteilenden Schreiben der Beklagten um einen belehrenden Hinweis.
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In dem Ausspruch eines konkreten Handlungsverbots oder -gebots oder eines konkreten Unterlassungsgebots liegt grundsätzlich der Kern einer über eine einfache Belehrung beziehungsweise einen präventiven Hinweis ohne Regelungscharakter hinausgehenden "verbindlichen Regelung der aufgeworfenen Fragen" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die sich die Rechtsanwaltskammer festgelegt haben muss, damit vom Vorliegen eines Verwaltungsakts ausgegangen werden kann.
20
In den Schreiben nimmt die Beklagte zu § 50 Abs. 3 BRAO a.F. abschließend Stellung und bewertet die Zurückbehaltung der Vollstreckungstitel als unzulässig. Der Inhalt der Schreiben macht deutlich, dass sich die Beklagte bereits auf eine verbindliche Regelung der aufgeworfenen Frage festgelegt hat. Auch ist das Schreiben vom 31. März 2016 mit einer förmlichen ‒ wenngleich unzutreffenden - Rechtsmittelbelehrung versehen und dem Kläger zugestellt worden. Es handelt sich mithin um einen Verwaltungsakt (vgl. BGH, Urteile vom 3. Juli 2017 - AnwZ (Brfg) 45/15, NJW 2017, 2556 Rn. 18 ff. mwN und vom 29. Januar 2018 ‒ AnwZ (Brfg) 32/17 ‒, juris Rn. 4 f).
21 Die Klage ist zudem zulässig. Die Klagefrist (§ 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. § 74 Abs. 1 VwGO) ist durch den Schriftsatz des Klägers vom 4. Mai 2016 eingehalten. Die Einreichung beim unzuständigen Anwaltsgericht ist aufgrund der unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung der Beklagten unschädlich.
22
Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
23
Denn der Kläger hat nicht gegen berufsrechtliche Pflichten verstoßen, indem er die drei Vollstreckungstitel wegen Nichtzahlung der Kostenrechnungen vom 19. und 20. Mai 2014 zurückbehalten hat.
24
Das Verhalten des Klägers verstieß insbesondere nicht gegen § 50 Abs. 3 BRAO in der bis zum 17. Mai 2017 gültigen Fassung oder gegen § 43a Abs. 5 BRAO i.V.m. § 4 Abs. 2 BORA.
25
Unabhängig von der Frage, aus welcher Bestimmung der BRAO eine berufsrechtliche Pflicht des Rechtsanwalts zur Herausgabe von Handakten vor der ab dem 18. Mai 2017 gültigen Neufassung des § 50 BRAO herzuleiten war (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. November 2014 ‒ AnwZ (Brfg) 72/13 ‒, juris), hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs schon mit Urteil vom 3. Juli 1997 ‒ IX ZR 244/96 ‒ juris entschieden, dass sich das bis zum 8. September 1994 in § 50 Abs. 1 BRAO a.F. geregelte Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts auch auf Geschäftsunterlagen wie vollstreckbare Ausfertigungen von Grundschuldbestellungsurkunden bezieht. Zwar bestehe an vollstreckbaren Urkunden in aller Regel kein Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts nach § 273 BGB. Das Zurückbehaltungsrecht nach § 50 BRAO ist aber ein Sonderrecht des Rechtsanwalts, das weiter geht als das allgemeine Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB und es dem Anwalt ermöglichen soll, seine berechtigten Ansprüche gegen den Auftraggeber auch ohne Prozess und ohne Anrufung der Gerichte durchzusetzen. Damit ist insoweit dem Rechtsanwalt gestattet, was nach der allgemeinen Regel des § 273 BGB dem Auftraggeber nicht erlaubt ist: Er darf, sofern das nicht ausnahmsweise zu einer besonders schweren Beeinträchtigung des Auftraggebers führt, auch dessen Geschäftsunterlagen als Druckmittel zur Begleichung seiner Honoraransprüche verwenden. Der damit verbundene weitgehende Eingriff in die Geschäftstätigkeit des Mandanten erfordert jedoch zum Ausgleich insofern eine enge Auslegung, als Honorarforderungen aus anderen Aufträgen desselben Mandanten grundsätzlich nicht miteinbezogen werden dürfen. Das Zurückbehaltungsrecht besteht vielmehr in aller Regel nur wegen der Forderungen, die sich aus der konkreten Angelegenheit ergeben, auf die sich die zurückbehaltene Handakte bezieht (BGH, Urteil vom 3. Juni 1997 ‒ IX ZR 244/96 ‒ a.a.O. Rn. 21).
26
Dass die vollstreckbaren Urkunden, deren Herausgabe Frau ### vom Kläger verlangt, vorliegend zu dessen Handakten gehören, folgt aus § 50 Abs. 4 BRAO in der bis zum 17. Mai 2017 gültigen Fassung. Danach sind Handakten im Sinne der Absätze 2 und 3 dieser Bestimmung „die Schriftstücke, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat“. Bei den drei im vorliegenden Fall heraus verlangten vollstreckbaren Ausfertigungen des Beschlusses des Oberlandesgerichts ### vom 2. Februar 2012 und der Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012 handelt es sich unzweifelhaft um Schriftstücke, die der Kläger für seine (vormalige) Auftraggeberin erhalten hat. Dass es sich dabei gleichzeitig um geldwerte Urkunden im Sinne von § 4 Abs. 2 BORA gehandelt haben mag, ändert daran nichts. Nach dem konkreten Mandatsverhältnis musste der Kläger die Titel auch nicht etwa unverzüglich an Frau ### als Auftraggeberin weiterleiten, denn er sollte auftragsgemäß Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner einleiten, wozu er die vollstreckbaren Ausfertigungen benötigte.
27
Da die offenen Gebühren des Klägers für seine Tätigkeit im Zusammenhang mit den Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gerade auch aus diesen Titeln angefallen sind, kann er darauf sein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO a.F. stützen. Die Honorarforderungen resultieren aus der konkreten Angelegenheit, auf die sich die zurückbehaltene Handakte bezieht.
28
Das abweichende Verständnis der Beklagten würde das sich aus § 50 Abs. 3 BRAO a.F. ergebende Sonderrecht des Rechtsanwalts in vielen Fällen quasi leerlaufen lassen.
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Dass sich ein Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts bis zur Befriedigung der ihm vom Auftraggeber geschuldeten Gebühren und Auslagen auch auf vollstreckbare Ausfertigungen von gerichtlichen Titeln erstreckt, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit für seinen Auftraggeber erhalten hat, folgt auch aus der zum 18. Mai 2017 in Kraft getretenen Neufassung von § 50 BRAO. Der Gesetzgeber hat in § 50 Abs. 2 Satz 1 BRAO n.F. erstmalig eine berufsrechtliche Herausgabepflicht des Rechtsanwalts in Bezug auf „Dokumente, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat“, ausdrücklich geregelt. In Kenntnis der unterschiedlichen Auffassungen in der Kommentarliteratur zur Frage, ob sich das Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts nach § 50 Abs. 3 BRAO a.F. auch auf vollstreckbare Urkunden im Besitz des Rechtsanwalts bezieht oder nicht, hat der Gesetzgeber davon abgesehen, insoweit in § 50 Abs. 3 BRAO n.F. eine Ausnahme zu normieren. Auch und gerade in Anbetracht des vorzitierten Urteils des IX. Zivilsenats des BGH spricht das dafür, dass der Gesetzgeber keinen Regelungsbedarf sah und als selbstverständlich davon ausging, dass der Rechtsanwalt die Herausgabe jeglicher „Dokumente“ die er aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat, also auch mit Vollstreckungsklauseln versehener gerichtlicher Titel, solange verweigern kann, bis er wegen der ihm vom Auftraggeber geschuldeten Gebühren und Auslagen befriedigt ist.
30
Ausreichend geschützt ist der Auftraggeber insoweit durch § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO a.F. bzw. die inhaltlich weitgehend gleiche Bestimmung in § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO n.F..
31
Im vorliegenden Fall ist die Vorenthaltung bzw. das Vorenthalten der Titel nach den Umständen nicht unangemessen im Sinne von § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO. Die Gebührenforderungen des Klägers resultieren aus derselben Angelegenheit. Angesichts der vom Betreuer des Schuldners für diesen im Jahr 2013 abgegebenen eidesstattlichen Versicherung und der Vermögensauskunft, aus der sich lediglich eine geringe landwirtschaftliche Rente des ansonsten vermögenslosen Schuldners ergab, konnte der Kläger zudem davon ausgehen, dass seine vormalige Mandantin ohnehin keine erfolgversprechenden neuen Vollstreckungsversuche unternehmen würde, zumal die Voraussetzungen für eine erneute Vermögensauskunft gemäß § 802d ZPO offensichtlich nicht hätten glaubhaft gemacht werden können.
32
Der Kläger hat die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigungen der Beschlüsse somit weder ohne rechtfertigenden Grund verweigert noch das Zurückbehaltungsrecht rücksichtslos für geringfügige Rückstände geltend gemacht (vgl. auch BGH, Urteil vom 3. November 2014 ‒ AnwZ (Brfg) 72/13 ‒, aaO Rn. 16).
33
Der Kläger hat das Zurückbehaltungsrecht auch erst geltend gemacht, nachdem er ordnungsgemäß abgerechnet hat. Zum Zeitpunkt der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts war die Honorarforderung des Klägers nach § 10 RVG einforderbar, was Voraussetzung für ein Zurückbehaltungsrecht des Klägers gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 BRAO a.F. war.
34
Die Beklagte war daher mangels Verstoßes des Klägers gegen § 50 Abs. 3 BRAO a.F. nicht gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO berechtigt, dem Kläger eine missbilligende Belehrung zu erteilen.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 154 Abs. 1 VwGO.
36
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
37
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 194 Abs. 1 BRAO, § 52 GKG.
38
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung gemäß § 112e BRAO, 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 VwGO sind nicht erfüllt. Die Rechtssache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung (mehr), nachdem der Gesetzgeber bei Neufassung des § 50 BRAO zum 18. Mai 2017 davon abgesehen hat, das Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts speziell für vollstreckbare Ausfertigungen gerichtlicher Titel auszuschließen oder einzuschränken.
08.11.2019
AGH 38/16 (I 12)
Tenor
1. Der mit Schreiben der Beklagten vom 23. September 2015 und 31. März 2016 - VB/254/14-A -, gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO erteilte belehrende Hinweis wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger ist im Bezirk der Beklagten zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Er wendet sich gegen einen ihm durch die Beklagte mit Schreiben vom 23. September 2015 und 31. März 2016 erteilten belehrenden Hinweis wegen Nichtherausgabe verschiedener Vollstreckungstitel an eine ehemalige Auftraggeberin. Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Der Kläger vertrat Frau ### ### als Antragstellerin gegen ihren Vater ### ### als Antragsgegner zweitinstanzlich in einem Nachabfindungsansprüche gemäß § 13 HöfeO betreffenden Rechtsstreit vor dem Senat für Landwirtschaftssachen des Oberlandesgerichts ###. Das Oberlandesgericht sprach der Antragstellerin durch Beschluss vom 2. Februar 2012 ‒ 10 W 22/10 - einen Betrag in Höhe von 156.772,77 € nebst Zinsen zu.
Durch Beschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012 wurden die erst- und zweitinstanzlichen Kostenerstattungsansprüche der Antragstellerin gegen den Antragsgegner auf 4.274,85 € bzw. 5.561,58 € jeweils nebst Zinsen festgesetzt. Am 21. Mai 2012, 26. Juni 2012 und 25. Juni 2013 leitete der Kläger für die Antragstellerin verschiedene Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Antragsgegner ein. Dieser gab im Jahr 2013 durch seinen durch Beschluss des Amtsgerichts ### vom 3. Januar 2013 ‒ 61 XVII (R) 5154 - zum Betreuer bestellten Sohn ### ### die eidesstattliche Versicherung ab.
Laut Vermögensprotokoll verfügte der Antragsgegner lediglich über eine landwirtschaftliche Altersrente in Höhe von 499,90 € monatlich. Über den Verbleib des vom Antragsgegner durch die Hofveräußerung im Jahr 2008 erzielten Kaufpreises von 837.380,87 € wurde keine Auskunft erteilt. Der Kläger stellte deswegen am 26. August 2013 und erneut am 18. Oktober 2013 im Auftrag von Frau ### Strafantrag und erstattete Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft ### gegen die beiden Herren ### wegen Vereitelung der Zwangsvollstreckung. Mit Schreiben vom 21. März 2014 kündigte Frau ### das mit dem Kläger bestehende Mandat. Am 19. Mai 2014 stellte der Kläger eine Kostenrechnung für die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Höhe von 790,74 € und am 20. Mai 2014 eine weitere für das Verfahren vor der Staatsanwaltschaft ### in Höhe von 202,30 €. Nach Ablauf der vom Kläger bis zum 4. Juni 2014 gesetzten Zahlungsfrist forderte die Mandantin von ihm mit Schreiben vom 5. Juni 2014 (u.a.) die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigungen des Beschlusses des Oberlandesgerichts ### vom 2. Februar 2012 und der beiden Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012.
Mit Schreiben vom 23. Juni 2014 antwortete der Kläger ihr, dass ihr die Unterlagen nach Ausgleich der Kostenrechnungen übersandt werden. Auf eine Zahlungserinnerung des Klägers vom 15. Juli 2014 leugnete die Mandantin, die Kostenrechnungen erhalten zu haben, weshalb ihr der Kläger die beiden Rechnungen per Einschreiben/Rückschein am 28. Juli 2014 noch einmal übermittelte.
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Diese forderte den Kläger mit Schreiben vom 4. November 2014 auf, zur Eingabe der Frau ### Stellung zu nehmen, insbesondere zu dem Verdacht des Verstoßes gegen § 50 Abs. 3 BRAO und § 11 BORA.
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In seiner Stellungnahme vom 11. Dezember 2014 vertrat der Kläger die Auffassung, dass kein Verstoß gegen § 50 Abs. 3 BRAO vorliege. Er sei bereit, die Vollstreckungsunterlagen etc. an Frau ### auszuhändigen, sobald diese ihren Zahlungsverpflichtungen nachkomme.
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Die Beklagte erteilte dem Kläger durch Schreiben des Vorsitzenden der Abteilung für Berufsrecht ‒ A - vom 23. September 2015, das dem Kläger am 29. September 2015 zugestellt worden ist, den Hinweis, dass er sich nicht auf ein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO berufen dürfe. Vollstreckungstitel unterlägen nicht dem Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO, da es sich hierbei um Vermögenswerte und zwar um geldwerte Urkunden im Sinne von § 4 Abs. 2 BORA handele. Diese Urkunden müssten daher gemäß § 43a Abs. 5 BRAO i.V.m. § 4 Abs. 2 BORA unverzüglich an den Berechtigten ausgehändigt werden. Da diese Rechtsfrage indes in der Kommentarliteratur umstritten sei, reiche ein Hinweis auf die Auffassung der Beklagten aus. Eine Rüge sei nicht erforderlich.
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Mit Schreiben vom 14. Oktober 2015 bat der Kläger die Beklagte um Klarstellung, ob es sich bei ihrem Schreiben vom 23. September 2015 um eine missbilligende Belehrung handele. Ferner wiederholte und vertiefte er seine Auffassung, dass ihm ein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO zustehe und wiederholte seine Bereitschaft zur Herausgabe der Titel nach Ausgleich der offenen Kostenrechnungen.
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Mit Schreiben vom 19. Oktober 2015 antwortete die Beklagte, „dass es sich bei dem Schreiben vom 23. September 2015 um eine Belehrung handelt, die unterhalb der Rüge anzusiedeln ist.“ Hiergegen sei als Rechtsmittel ein an den Vorstand der Beklagten zu richtender Einspruch binnen eines Monats ab Zustellung möglich. Der Kläger möge klarstellen, ob sein Schreiben vom 14. Oktober 2015 als Einspruch gewertet werden soll.
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2015 legte der Kläger daraufhin Einspruch ein, den er mit Schreiben vom 1. Februar 2016 begründete. Darin vertrat er die Ansicht, dass es sich bei Vollstreckungstiteln, die der Rechtsanwalt durch seine Tätigkeit für den Mandanten erwirkt habe, nicht um im Sinne des § 43a Abs. 5 BRAO anvertraute Vermögenswerte handele.
Die Zurückbehaltung der Vollstreckungstitel sei auch nicht unverhältnismäßig, da der Schuldner die eidesstattliche Versicherung abgegeben habe und nur über Renteneinkommen verfüge. Er ‒ der Kläger ‒ sei im Übrigen bereit, die Vollstreckungstitel herauszugeben, sofern Frau ### sich bereit erkläre, die offenen Rechnungsbeträge bei der Beklagten oder der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts ### zu hinterlegen.
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Mit Bescheid vom 31. März 2016 wies der Vorstand der Beklagten den Einspruch des Klägers gegen den Hinweisbescheid vom 23. September 2015 zurück und wiederholte zur Begründung die Rechtsauffassung, dass ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 50 Abs. 3 BRAO in Bezug auf Vollstreckungstitel nicht bestehe. Die Vollstreckungstitel stellten Vermögenswerte im Sinne von § 43a Abs. 5 BRAO und § 4 Abs. 2 BORA dar und seien demgemäß an den Berechtigten weiterzuleiten. Diese Weiterleitungspflicht gehe regelmäßig der Aufnahme in die Handakten vor, soweit nicht vertraglich ausdrücklich oder konkludent etwas anderes vereinbart worden sei. Der Bescheid endete mit der Rechtsmittelbelehrung, dass der Kläger dagegen innerhalb eines Monats nach Zustellung die Entscheidung des Anwaltsgerichts beantragen könne. Der Antrag sei an das Anwaltsgericht für den Bezirk der Beklagten zu richten.
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Mit Schriftsatz an das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer ### vom 4. Mai 2016 beantragte der Kläger, den Hinweisbescheid der Beklagten vom 23. September 2015 in der Form des ihm am 4. April 2016 zustellten Bescheides vom 31. März 2016 aufzuheben.
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Die zweite Kammer des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer ### verwies das Verfahren nach Anhörung der Parteien mit Beschluss vom 21. November 2016 ‒ 2 AnwG 6/16 ‒ an den Niedersächsischen Anwaltsgerichtshof, da es sich um eine verwaltungsrechtliche Anwaltssache handele, über die im ersten Rechtszug gemäß § 112a BRAO der Anwaltsgerichtshof zu entscheiden habe.
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Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 112a Abs. 1, § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 42 VwGO) statthaft.
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Nach § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO obliegt es dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer, die Kammermitglieder in Fragen der Berufspflichten zu beraten und zu belehren. Gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 4 BRAO hat er die Erfüllung der den Kammermitgliedern obliegenden Pflichten zu überwachen und das Recht der Rüge zu handhaben. Stellt der Vorstand einer Rechtsanwaltskammer in Wahrnehmung seiner Aufgaben fest, dass sich ein Rechtsanwalt berufswidrig verhalten hat, so kann er diesen auf die Rechtsauffassung der Kammer hinweisen und über den Inhalt seiner Berufspflichten belehren; er kann ihm auch aufgeben, das beanstandete Verhalten zu unterlassen. Auf der Grundlage des § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO ergangene belehrende Hinweise beziehungsweise missbilligende Belehrungen bei berufsrechtswidrigem Verhalten des Rechtsanwalts sind als in dessen Rechtsstellung eingreifende Verwaltungsakte anzusehen. Erteilt der Vorstand der Rechtsanwaltskammer einem Kammermitglied eine derartige missbilligende Belehrung, so stellt diese eine hoheitliche Maßnahme dar, die geeignet ist, den Rechtsanwalt in seinen Rechten zu beeinträchtigen; als solche ist sie anfechtbar (BGH, Beschluss vom 25. November 2002 - AnwZ (B) 41/02, BGHZ 153, 61, 62 f.; Urteile vom 2. Juli 2018 ‒ AnwZ (Brfg) 24/17 -, juris Rn. 11; 18. Juli 2016 ‒ AnwZ (Brfg) 22/15 ‒ juris Rn. 10; vom 26. Oktober 2015 ‒ AnwZ (Brfg) 25/15 ‒, juris Rn. 9; vom 6. Juli 2015 - AnwZ (Brfg) 24/14 -, juris Rn. 11 und vom 23. April 2012 - AnwZ (Brfg) 35/11, NJW 2012, 3039 Rn. 5).
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Als Gesichtspunkte, die im Rahmen der insoweit vorzunehmenden Auslegung für das Vorliegen eines belehrenden Hinweises beziehungsweise einer missbilligenden Belehrung sprechen, hat der BGH insbesondere angesehen, dass der Bescheid der Rechtsanwaltskammer mit einer Entscheidungsformel versehen ist und in dieser - oder sonst im Bescheid - die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens festgestellt und ein konkretes Verbot ausgesprochen wird und der Bescheid insgesamt erkennen lässt, dass die Rechtsanwaltskammer sich bereits auf eine verbindliche Regelung der aufgeworfenen Fragen festgelegt hat. Darüber hinaus spricht es nach der Rechtsprechung des BGH für das Vorliegen eines Verwaltungsakts, wenn der Bescheid mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen und dem Rechtsanwalt förmlich zugestellt worden ist (BGH, Urteile 3. Juli 2017 ‒ AnwZ (Brfg) 45/15 ‒ Rn. 21; vom 7. November 2016 - AnwZ (Brfg) 47/15 -, Rn. 10 und vom 27. Oktober 2014 - AnwZ (Brfg) 67/13 -, jeweils juris mwN).
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Bei den verfahrensgegenständlichen Schreiben der Beklagten vom 23. September 2015 und vom 31. März 2016 handelt es sich um einen Verwaltungsakt (§ 32 Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 35 Satz 1 VwVfG) in Gestalt eines belehrenden Hinweises beziehungsweise einer missbilligenden Belehrung.
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Die beiden Schreiben der Beklagten sind zwar nicht ausdrücklich als „missbilligende“ Belehrung bezeichnet. Ihr Inhalt entspricht aber dem, was eine missbilligende von einer einfachen Belehrung beziehungsweise einem präventiven Hinweis unterscheidet. Die Schreiben der Beklagten gehen nach ihrem bei der Auslegung maßgebenden objektiven Erklärungswert aus Sicht des Empfängerhorizonts über eine einfache Belehrung beziehungsweise einen präventiven Hinweis hinaus. Solche auf der Grundlage des § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO ergangenen belehrenden Hinweise beziehungsweise missbilligenden Belehrungen sind namentlich dann, wenn sie ein Handlungsverbot oder ein Handlungs- oder Unterlassungsgebot aussprechen, als in die Rechtsstellung des Rechtsanwalts eingreifende Verwaltungsakte anzusehen, die dementsprechend mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können (vgl. BGH, Urteile vom 27. Oktober 2014 - AnwZ (Brfg) 67/13 -, juris Rn. 7; vom 7. November 2016 - AnwZ (Brfg) 47/15 -, NJW 2017, 407 Rn. 10, 12; jeweils mwN).
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Von diesen Grundsätzen ausgehend handelt es sich bei den im vorliegenden Fall zu beurteilenden Schreiben der Beklagten um einen belehrenden Hinweis.
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In dem Ausspruch eines konkreten Handlungsverbots oder -gebots oder eines konkreten Unterlassungsgebots liegt grundsätzlich der Kern einer über eine einfache Belehrung beziehungsweise einen präventiven Hinweis ohne Regelungscharakter hinausgehenden "verbindlichen Regelung der aufgeworfenen Fragen" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die sich die Rechtsanwaltskammer festgelegt haben muss, damit vom Vorliegen eines Verwaltungsakts ausgegangen werden kann.
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In den Schreiben nimmt die Beklagte zu § 50 Abs. 3 BRAO a.F. abschließend Stellung und bewertet die Zurückbehaltung der Vollstreckungstitel als unzulässig. Der Inhalt der Schreiben macht deutlich, dass sich die Beklagte bereits auf eine verbindliche Regelung der aufgeworfenen Frage festgelegt hat. Auch ist das Schreiben vom 31. März 2016 mit einer förmlichen ‒ wenngleich unzutreffenden - Rechtsmittelbelehrung versehen und dem Kläger zugestellt worden. Es handelt sich mithin um einen Verwaltungsakt (vgl. BGH, Urteile vom 3. Juli 2017 - AnwZ (Brfg) 45/15, NJW 2017, 2556 Rn. 18 ff. mwN und vom 29. Januar 2018 ‒ AnwZ (Brfg) 32/17 ‒, juris Rn. 4 f).
21 Die Klage ist zudem zulässig. Die Klagefrist (§ 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO i.V.m. § 74 Abs. 1 VwGO) ist durch den Schriftsatz des Klägers vom 4. Mai 2016 eingehalten. Die Einreichung beim unzuständigen Anwaltsgericht ist aufgrund der unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung der Beklagten unschädlich.
22
Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
23
Denn der Kläger hat nicht gegen berufsrechtliche Pflichten verstoßen, indem er die drei Vollstreckungstitel wegen Nichtzahlung der Kostenrechnungen vom 19. und 20. Mai 2014 zurückbehalten hat.
24
Das Verhalten des Klägers verstieß insbesondere nicht gegen § 50 Abs. 3 BRAO in der bis zum 17. Mai 2017 gültigen Fassung oder gegen § 43a Abs. 5 BRAO i.V.m. § 4 Abs. 2 BORA.
25
Unabhängig von der Frage, aus welcher Bestimmung der BRAO eine berufsrechtliche Pflicht des Rechtsanwalts zur Herausgabe von Handakten vor der ab dem 18. Mai 2017 gültigen Neufassung des § 50 BRAO herzuleiten war (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. November 2014 ‒ AnwZ (Brfg) 72/13 ‒, juris), hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs schon mit Urteil vom 3. Juli 1997 ‒ IX ZR 244/96 ‒ juris entschieden, dass sich das bis zum 8. September 1994 in § 50 Abs. 1 BRAO a.F. geregelte Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts auch auf Geschäftsunterlagen wie vollstreckbare Ausfertigungen von Grundschuldbestellungsurkunden bezieht. Zwar bestehe an vollstreckbaren Urkunden in aller Regel kein Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts nach § 273 BGB. Das Zurückbehaltungsrecht nach § 50 BRAO ist aber ein Sonderrecht des Rechtsanwalts, das weiter geht als das allgemeine Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB und es dem Anwalt ermöglichen soll, seine berechtigten Ansprüche gegen den Auftraggeber auch ohne Prozess und ohne Anrufung der Gerichte durchzusetzen. Damit ist insoweit dem Rechtsanwalt gestattet, was nach der allgemeinen Regel des § 273 BGB dem Auftraggeber nicht erlaubt ist: Er darf, sofern das nicht ausnahmsweise zu einer besonders schweren Beeinträchtigung des Auftraggebers führt, auch dessen Geschäftsunterlagen als Druckmittel zur Begleichung seiner Honoraransprüche verwenden. Der damit verbundene weitgehende Eingriff in die Geschäftstätigkeit des Mandanten erfordert jedoch zum Ausgleich insofern eine enge Auslegung, als Honorarforderungen aus anderen Aufträgen desselben Mandanten grundsätzlich nicht miteinbezogen werden dürfen. Das Zurückbehaltungsrecht besteht vielmehr in aller Regel nur wegen der Forderungen, die sich aus der konkreten Angelegenheit ergeben, auf die sich die zurückbehaltene Handakte bezieht (BGH, Urteil vom 3. Juni 1997 ‒ IX ZR 244/96 ‒ a.a.O. Rn. 21).
26
Dass die vollstreckbaren Urkunden, deren Herausgabe Frau ### vom Kläger verlangt, vorliegend zu dessen Handakten gehören, folgt aus § 50 Abs. 4 BRAO in der bis zum 17. Mai 2017 gültigen Fassung. Danach sind Handakten im Sinne der Absätze 2 und 3 dieser Bestimmung „die Schriftstücke, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat“. Bei den drei im vorliegenden Fall heraus verlangten vollstreckbaren Ausfertigungen des Beschlusses des Oberlandesgerichts ### vom 2. Februar 2012 und der Kostenfestsetzungsbeschlüsse des Amtsgerichts ### vom 26. Juni 2012 handelt es sich unzweifelhaft um Schriftstücke, die der Kläger für seine (vormalige) Auftraggeberin erhalten hat. Dass es sich dabei gleichzeitig um geldwerte Urkunden im Sinne von § 4 Abs. 2 BORA gehandelt haben mag, ändert daran nichts. Nach dem konkreten Mandatsverhältnis musste der Kläger die Titel auch nicht etwa unverzüglich an Frau ### als Auftraggeberin weiterleiten, denn er sollte auftragsgemäß Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner einleiten, wozu er die vollstreckbaren Ausfertigungen benötigte.
27
Da die offenen Gebühren des Klägers für seine Tätigkeit im Zusammenhang mit den Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gerade auch aus diesen Titeln angefallen sind, kann er darauf sein Zurückbehaltungsrecht nach § 50 Abs. 3 BRAO a.F. stützen. Die Honorarforderungen resultieren aus der konkreten Angelegenheit, auf die sich die zurückbehaltene Handakte bezieht.
28
Das abweichende Verständnis der Beklagten würde das sich aus § 50 Abs. 3 BRAO a.F. ergebende Sonderrecht des Rechtsanwalts in vielen Fällen quasi leerlaufen lassen.
29
Dass sich ein Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts bis zur Befriedigung der ihm vom Auftraggeber geschuldeten Gebühren und Auslagen auch auf vollstreckbare Ausfertigungen von gerichtlichen Titeln erstreckt, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit für seinen Auftraggeber erhalten hat, folgt auch aus der zum 18. Mai 2017 in Kraft getretenen Neufassung von § 50 BRAO. Der Gesetzgeber hat in § 50 Abs. 2 Satz 1 BRAO n.F. erstmalig eine berufsrechtliche Herausgabepflicht des Rechtsanwalts in Bezug auf „Dokumente, die der Rechtsanwalt aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat“, ausdrücklich geregelt. In Kenntnis der unterschiedlichen Auffassungen in der Kommentarliteratur zur Frage, ob sich das Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts nach § 50 Abs. 3 BRAO a.F. auch auf vollstreckbare Urkunden im Besitz des Rechtsanwalts bezieht oder nicht, hat der Gesetzgeber davon abgesehen, insoweit in § 50 Abs. 3 BRAO n.F. eine Ausnahme zu normieren. Auch und gerade in Anbetracht des vorzitierten Urteils des IX. Zivilsenats des BGH spricht das dafür, dass der Gesetzgeber keinen Regelungsbedarf sah und als selbstverständlich davon ausging, dass der Rechtsanwalt die Herausgabe jeglicher „Dokumente“ die er aus Anlass seiner beruflichen Tätigkeit von dem Auftraggeber oder für ihn erhalten hat, also auch mit Vollstreckungsklauseln versehener gerichtlicher Titel, solange verweigern kann, bis er wegen der ihm vom Auftraggeber geschuldeten Gebühren und Auslagen befriedigt ist.
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Ausreichend geschützt ist der Auftraggeber insoweit durch § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO a.F. bzw. die inhaltlich weitgehend gleiche Bestimmung in § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO n.F..
31
Im vorliegenden Fall ist die Vorenthaltung bzw. das Vorenthalten der Titel nach den Umständen nicht unangemessen im Sinne von § 50 Abs. 3 Satz 2 BRAO. Die Gebührenforderungen des Klägers resultieren aus derselben Angelegenheit. Angesichts der vom Betreuer des Schuldners für diesen im Jahr 2013 abgegebenen eidesstattlichen Versicherung und der Vermögensauskunft, aus der sich lediglich eine geringe landwirtschaftliche Rente des ansonsten vermögenslosen Schuldners ergab, konnte der Kläger zudem davon ausgehen, dass seine vormalige Mandantin ohnehin keine erfolgversprechenden neuen Vollstreckungsversuche unternehmen würde, zumal die Voraussetzungen für eine erneute Vermögensauskunft gemäß § 802d ZPO offensichtlich nicht hätten glaubhaft gemacht werden können.
32
Der Kläger hat die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigungen der Beschlüsse somit weder ohne rechtfertigenden Grund verweigert noch das Zurückbehaltungsrecht rücksichtslos für geringfügige Rückstände geltend gemacht (vgl. auch BGH, Urteil vom 3. November 2014 ‒ AnwZ (Brfg) 72/13 ‒, aaO Rn. 16).
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Der Kläger hat das Zurückbehaltungsrecht auch erst geltend gemacht, nachdem er ordnungsgemäß abgerechnet hat. Zum Zeitpunkt der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts war die Honorarforderung des Klägers nach § 10 RVG einforderbar, was Voraussetzung für ein Zurückbehaltungsrecht des Klägers gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 BRAO a.F. war.
34
Die Beklagte war daher mangels Verstoßes des Klägers gegen § 50 Abs. 3 BRAO a.F. nicht gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO berechtigt, dem Kläger eine missbilligende Belehrung zu erteilen.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 154 Abs. 1 VwGO.
36
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 112c Abs. 1 Satz 1 BRAO, § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
37
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 194 Abs. 1 BRAO, § 52 GKG.
38
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung gemäß § 112e BRAO, 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 VwGO sind nicht erfüllt. Die Rechtssache hat insbesondere keine grundsätzliche Bedeutung (mehr), nachdem der Gesetzgeber bei Neufassung des § 50 BRAO zum 18. Mai 2017 davon abgesehen hat, das Zurückbehaltungsrecht des Rechtsanwalts speziell für vollstreckbare Ausfertigungen gerichtlicher Titel auszuschließen oder einzuschränken.