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  • · Fachbeitrag · Vertragsarztrecht

    Konsultation am Empfangstresen reicht zur Abrechnung der Versichertenpauschale aus

    von RA, FA MedR, Wirtschaftsmediator Dr. Tobias Scholl-Eickmann, Dortmund und RA Jonas Kaufhold, Münster, kanzlei-am-aerztehaus.de

    | Das Sozialgericht (SG) Berlin hatte sich mit der Frage zu befassen, ob sich die erheblichen Überschreitungen der Zeitauffälligkeitsgrenzen im Quartalszeitprofil eines Facharztes für Allgemeinmedizin durch die Darlegung besonders kurzer persönlicher Arzt-Patienten-Kontakte (APK) plausibilisieren lassen. Im Ergebnis gelang dem Arzt ein beachtlicher Erfolg (Urteil vom 29.07.2020, Az. S 83 KA 101/18). |

    Sachverhalt

    Die Quartalszeitprofile des Allgemeinmediziners waren im Rahmen einer Prüfung der vertragsärztlichen Abrechnung nach § 106d SGB V aufgefallen. Der klagende Arzt hatte die hausärztliche Versichertenpauschale weit überdurchschnittlich häufig und bis zu 218 Mal an einem Tag abgerechnet. In elf Quartalen ergaben sich Überschreitungen der Zeitauffälligkeitsgrenzen in den Quartalszeitprofilen des Arztes. Nach den Berechnungen der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV) hätten ihm zum Teil durchschnittlich lediglich 2,5 Minuten je Patient zur Verfügung gestanden.

     

    Aus den Patientenakten ging hervor, dass der Arzt dabei überwiegend Krankschreibungen vorgenommen hatte. Der Arzt erklärte, dass er bis zu 14 Stunden täglich ‒ ohne Pause und ohne Praxispersonal ‒ gearbeitet habe. Die Patienten hätten ohne Termin zu ihm kommen können. Der für die Abrechnung der Versichertenpauschale erforderliche persönliche APK hätte zum Teil am Anmeldetresen stattgefunden.

    Entscheidungsgründe

    Nach Auffassung des Gerichts spricht die Überschreitung der Zeitauffälligkeitsgrenzen der Quartalszeitprofile nicht für eine nicht-sachgemäße Abrechnung durch den Arzt.

     

    Sonderstellung von EBM-Pauschalen

    Die Erklärungen des Arztes führten zu seiner Entlastung und ließen das erhöhte Stundenaufkommen wegen der überdurchschnittlich häufigen Abrechnung der Versichertenpauschale plausibel erscheinen.

     

    MERKE | Die höchstrichterliche Vorgabe des Bundessozialgerichts (BSG), dass die in Anhang 3 zum EBM hinterlegten Prüfzeiten so bemessen sind, dass sie auch von erfahrenen und zügig arbeitenden Ärzten für eine ordnungsgemäße Abrechnung benötigt werden, greift im Fall der Versichertenpauschale nach Ansicht des SG Berlin nicht!

     

    Von dieser Vorgabe des BSG sei nämlich nur dann auszugehen, wenn die Prüfzeit die für die Ermittlung der Punktzahlen im EBM zugrunde gelegte Kalkulationszeit unterschreite. Dabei sei maßgebend, dass die Kalkulationszeit die zeitliche Beanspruchung im Durchschnitt abbilde, während die Prüfzeiten die Leistungsfähigkeit auch eines besonders erfahrenen und geübten Arztes berücksichtigten (vgl. BSG, Urteil vom 24.10.2018, Az. B 6 KA 42/17). Für die Versichertenpauschale sei jedoch keine Kalkulationszeit im EBM vorgesehen. Der Prüfungsmaßstab des BSG sei deshalb auf die Versichertenpauschale nicht anwendbar.

     

    Zudem seien, so das Gericht weiter, die Besonderheiten ausschließlich quartalsbezogener Pauschalen zu berücksichtigen. In deren Kalkulation seien diverse Leistungen einbezogen, die nicht alle im selben Zeitpunkt erbracht werden müssten. Im Fall der Versichertenpauschale sei darüber hinaus

    • neben lediglich fakultativen Leistungsinhalten
    • der persönliche APK der einzig obligate Leistungsinhalt

     

    und damit die einzige Voraussetzung für die Abrechnung. Aufgrund der Vielzahl der fakultativen Leistungsinhalte müsse nicht jeder Abrechnung der Versichertenpauschale ein gleicher Umfang der Leistungserbringung zugrunde liegen.

     

    MERKE | Die Quartalsprofilzeiten hinsichtlich quartalsbezogener Pauschalen stoßen nach Ansicht des SG Berlin deshalb als Indiz für eine Falschabrechnung an ihre Grenzen.

     

    Anforderungen an den obligaten APK

    Nach den weiteren Feststellungen des Gerichts hatte der Arzt die für die Abrechnung der Versichertenpauschale erforderliche Leistung auch erbracht.

     

    Für die Dauer des obligaten persönlichen APK seien keine Mindestzeiten vorgeschrieben. Der EBM schreibe lediglich eine

    • räumliche und
    • zeitgleiche Anwesenheit von Arzt und Patient sowie
    • die direkte Interaktion derselben vor.

     

    Diese Interaktion könne sich wiederum nicht auf eine bloße Begrüßung und das Durchziehen der Versichertenkarte beschränken. Es müsse auch ein kuratives Tätigwerden des abrechnenden Arztes erfolgen. Allerdings könnten die Befragung eines Patienten sowie die daran geknüpfte Einschätzung, ob eine Arbeitsunfähigkeit gegeben ist oder Befreiungen für den Schulunterricht auszusprechen sind, auch innerhalb weniger Minuten erfolgen.

     

    Daran, dass die erforderlichen APK stattgefunden hatten, bestanden im vorliegenden Fall für das Gericht keine Zweifel.

     

    MERKE | Nach Auffassung des SG Berlin genügt auch eine direkte Intervention zwischen Arzt und Patient am Anmeldetresen den Anforderungen des EBM an den APK.

     

    Keine Vermischung von EBM-Vorgaben mit anderen Pflichten

    Dass der Arzt bei seiner Vorgehensweise im Rahmen des APK und der Interaktion mit den Patienten möglicherweise

    • gegen Dokumentationspflichten aus
      • dem Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) oder
      • der Berufsordnung (BO) verstoßen habe oder
    • er die nach der Arbeitsunfähigkeits-Richtline des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit erforderlichen ärztlichen Untersuchungen unter Umständen nicht vorgenommen habe,

     

    führe jeweils nicht dazu, dass die Versichertenpauschale gemäß EBM nicht abrechenbar sei. Denn weder die Dokumentation noch die ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit seien Voraussetzung für die Abrechnung der Versichertenpauschale.

     

    MERKE | Für die unterschiedlichen Pflichtverletzungen sehe das Gesetz differenzierte Regelungen vor, die nicht mit den Vorgaben zur Prüfung der Abrechnung nach dem EBM zu vermischen seien, so das SG Berlin.

     

     

    FAZIT | Die Entscheidung des SG Berlin ist zu begrüßen und erweist sich angesichts der überwiegend arztkritischen Urteile zu Plausibilitätszeiten als wertvolle Argumentationslinie.

     

    • Das Gericht stellt zutreffend allein auf den nach den Vorgaben des EBM für die Abrechnung der Versichertenpauschale notwendigen Leistungsinhalt ab und bestimmt diesen ebenfalls strikt anhand der Vorgaben des EBM. Eine Vermengung mit anderen, außerhalb des EBM liegenden Vorgaben vermeidet es.

     

    • Zudem überzeugen die Erwägungen zur Indizwirkung von Quartalsprofilzeiten quartalsbezogener Pauschalen sowie die Ausführungen zur Nichtanwendbarkeit der Vorgaben des BSG zur Berücksichtigung der in Anhang 3 zum EBM hinterlegten Prüfzeiten, soweit nicht auch Kalkulationszeiten angegeben sind.

     

    • Inwieweit sich die Entscheidung auf die Verwaltungspraxis der KVen im Rahmen der Abrechnungsprüfungen auswirken und ob die Entscheidung in den folgenden Instanzen bestätigt werden wird, wird sich zeigen müssen. Auch ist zu bedenken, dass der zugrunde liegende Fall einer Hausarztpraxis ohne Sprechstundenhilfe oder sonstiges Personal nachhaltige Besonderheiten aufweist.

     

    • Angesichts der Tendenzen in der Rechtsprechung, nahezu unerfüllbare Anforderungen an eine Plausibilisierung zeitauffälliger Abrechnungen durch betroffene Ärzte zu stellen, stellt das Urteil des SG Berlin eine erfreuliche und zugleich überzeugend begründete Ausnahme dar.
     

    Weiterführender Hinweis

    Quelle: Ausgabe 12 / 2020 | Seite 13 | ID 46957081