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  • 13.04.2018 · IWW-Abrufnummer 200640

    Finanzgericht Niedersachsen: Urteil vom 13.06.2017 – 8 K 167/16

    Es kann geboten sein, einem Steuerpflichtigen die Kapitalertragsteuer auf Kapitalerträge aus einer Kapitallebensversicherung nach § 227 AO zu erlassen, wenn dies zur Sicherung der Existenzgrundlage des Steuerpflichtigen im Alter erforderlich ist.


    Niedersächsisches Finanzgericht
    8. Senat

    Urteil vom 13.06.2017

    8 K 167/16

    Tatbestand

    1

    Die Beteiligten streiten um den Erlass der Einkommensteuer 2012.

    2

    1. Die 195x geborene Klägerin ist Koreanerin. 197x heiratete sie einen Deutschen und zog nach Deutschland, wo sie seither lebt. Die Ehe wurde geschieden. Die Klägerin erlernte einen Ausbildungsberuf und trat 197x erstmals eine Arbeitsstelle in der Bundesrepublik Deutschland an. Nach damaliger Rechtslage war es für Koreaner nicht möglich, in das deutsche Rentenversicherungssystem einzuzahlen.

    3

    2. Die Klägerin schoss zur privaten Altersvorsorge eine Kapitallebensversicherung bei der V-AG mit einer Laufzeit bis zum 1. Juli 2012 ab, in die sie jährliche Beiträge einzahlte (die Kapitallebensversicherung). Zum 1. September 2009 betrug der Rückkaufswert der Kapitallebensversicherung … €. Mit Erklärung vom 23. November 2009 verpfändete die Klägerin alle gegenwärtigen und künftigen Rechte aus der Kapitallebensversicherung an die X-Bausparkasse zur Besicherung eines Immobilienkredits. Die Kapitallebensversicherung wurde zudem in Zusammenhang mit der Aufnahme eines weiteren Darlehens gegenüber der V-AG i.H.v. 12.000 EUR beliehen. Das Formular der Bausparkasse, das für die Verpfändungserklärung verwendet wurde, enthielt den expliziten Hinweis an die Klägerin, dass die Abtretung von Lebensversicherungen zur Sicherung oder Tilgung von Darlehen zu steuerlichen Nachteilen, insbesondere zur Versteuerung der Erträge aus der abgetretenen Lebensversicherung, führen kann. Die Darlehenssummen verwendete die Klägerin zum Erwerb einer Eigentumswohnung.

    4

    Die Klägerin ist zu 50% schwerbehindert. Seit 200x bezog sie eine Berufsunfähigkeitsrente von der V-AG auf Grundlage des Kapitallebensversicherungsvertrags. Die Rentenzahlungen wurden mit Ende der Vertragslaufzeit zum 1. Juli 2012 eingestellt.

    5

    Am 22. November 2012 wurde die Kapitallebensversicherung ausgezahlt. Nach der Steuer-bescheinigung vom 20. November 2012 betrugen die Kapitalerträge 118.017,67 EUR, Kapi-talertragsteuer wurde in Höhe von 29.504,42 EUR und Solidaritätszuschlag zur Kapitalertrag-steuer in Höhe von 1.622,75 EUR einbehalten.

    6

    Nach einer Bescheinigung der V-AG ist der Auszahlungsbetrag dergestalt verwendet worden, dass

    7
     
    ein Betrag in Höhe von 12.000 EUR zur Tilgung eines offenen Policendarlehens bei der V-AG einbehalten wurde,     

    8
     
    ein Betrag in Höhe von 36.507 EUR an die X-Bausparkasse überwiesen wurde und     
    9

    nach Abzug der abgeführten Kapitalertragsteuer nebst Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer ein Restbetrag von 102.913 EUR auf ein Konto der Klägerin überwiesen wurde.     

    10

    3. Die Klägerin wurde zur Einkommensteuer 2012 veranlagt. Hierbei berücksichtigte das damals Finanzamt die vorgenannten Beträge entsprechend der Steuerbescheinigung. Es ergab sich eine festgesetzte Einkommensteuer in Höhe von 28.707 EUR, ein Solidaritätszuschlag in Höhe von 1.578,88 EUR und Kirchensteuer in Höhe von 2.583,63 EUR. Die Steuerabzugsbeträge wurden auf die festgesetzte Steuer angerechnet, so dass sich ein Erstattungsbetrag zugunsten der Klägerin ergab. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin beim damals zuständigen Finanzamt Einspruch ein. Die Klägerin begründete diesen Einspruch gegen die Festsetzung nicht. Das Finanzamt wies den Einspruch insoweit durch Entscheidung vom 9. Januar 2014 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde bestandskräftig.

    11

    4. Die Klägerin beantragte beim Finanzamt den Erlass der Einkommensteuer 2012 in Höhe von 28.707 EUR. Den Erlassantrag begründete die Klägerin dahingehend, dass die ausgezahlte Lebensversicherung als Grundlage für ihre Rente gedacht gewesen sei. Sie berief sich zudem darauf, dass sie lediglich über geringe Einkünfte aus einer Zusatzrente in Höhe von 389 EUR verfüge. Auf Anforderung des Finanzamts legte sie während des Erlassverfahrens Unterlagen zu ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Situation sowie zur Verwendung des Auszahlungsbetrags aus der Kapitallebensversicherung vor.

    12

    Danach stellte sich die Einkommens- und Vermögenssituation der Klägerin zum Zeitpunkt der Auszahlung der Kapitallebensversicherung und des Einbehalts der Kapitalertragsteuer wie folgt dar: Sie war zu 50% schwerbehindert und war aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sie hatte seit den 2000er Jahren eine private Berufsunfähigkeitsrente aus dem Lebensversicherungsvertrag bezogen; die Zahlungen waren mit Ende der Vertragslaufzeit zum 1. Juli 2012 eingestellt worden. Seit dem 1. Juli 2012 beschränkten sich ihre Einnahmen auf eine betriebliche Zusatzrente (Erwerbsminderungsrente) in Höhe von rd. 370 €. Die Klägerin lebte zum Zeitpunkt der Auszahlung der Kapitallebensversicherung in ihrer Eigentumswohnung. Weiteres Vermögen in nennenswertem Umfang hatte sie nicht. Das Hausgeld für die Wohnung betrug rd. 220 € monatlich. Der Krankenversicherungsbeitrag belief sich auf rd. 150 € monatlich. Ihre weiteren laufenden Kosten ohne Aufwendungen für Nahrung und Kleidung betrugen rd. 170 € monatlich (insbesondere für Telefon, Gas, Wasser, Strom, Haftpflichtversicherung, Unfallversicherung).

    13

    Nach einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung vom 6. August 2013 würde sie aufgrund von Beitragszahlungen, die sie in den 2000er Jahren geleistet hatte, ab Erreichen der Regelaltersgrenze [im Jahr 2017] zusätzlich eine Altersrente in Höhe von voraussichtlich 148,90 € monatlich erhalten. Die Voraussetzungen für eine frühere Auszahlung der Rente wegen voller Erwerbsminderung vor Erreichen der Regelaltersgrenze lagen wegen zu geringer Beitragszeiten vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht vor.

    14

    Mit Kaufvertrag vom 13. August 2013 verkaufte die Klägerin ihre Eigentumswohnung in A-Stadt für 48.000 €. Mit Kaufvertrag vom 29. August 2013 erwarb sie eine Eigentumswohnung in B-Stadt für einen Kaufpreis von 55.000 €, die sie bezog.

    15

    5. Das Finanzamt lehnte den Erlass der Einkommensteuer in Höhe von 28.707 EUR nebst Folgesteuern für das Streitjahr ab und wies den hiergegen eingelegten Einspruch mit Einspruchsbescheid vom 24. März 2015 als unbegründet zurück. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis könnten nach § 227 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen könnten bereits entrichtete Beträge erstattet werden. Die Unbilligkeit könne in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen, insbesondere in dessen wirtschaftlicher Lage, begründet sein. Sachliche Billigkeitsgründe seien weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Zu prüfen gewesen sei deshalb nur ein Erlass aus persönlichen Gründen. Dieser setze die Erlassbedürftigkeit und die Erlasswürdigkeit des Steuerschuldners voraus. Die Klägerin sei zwar erlassbedürftig, weil sich bei Einzahlung eines Betrages von 100.000 EUR in eine Rentenversicherung und unter Berücksichtigung des Alters der Klägerin eine monatliche Rentenzahlung von lediglich ca. 330 € ergeben würde (Stand: 1. August 2014, Ergebnis einer vom Finanzamt durchgeführten Angebotsrecherche im Internet). Bei einer zudem gezahlten monatlichen Rente von 390 € stünden der Klägerin daher lediglich 720 € monatlich, jährlich also 8.640 €, zur Verfügung. Es sei davon auszugehen, dass diese monatlichen Mittel nicht ausreichten, um eine bescheidene Lebensführung zu ermöglichen. Für eine Erlasswürdigkeit sei aber ferner erforderlich, dass sich die anderen Gläubiger (V-AG und X-Bausparkasse) neben der Finanzverwaltung an einer mit dem Abgabenerlass verfolgten Sanierung beteiligten. Da aus dem Ertrag der Kapitallebensversicherung das Bauspardarlehen bei der X-Bausparkasse in Höhe von 36.507 € und ein Darlehen bei der V-AG in Höhe von 12.000 € in voller Höhe abgelöst worden seien, seien diese Gläubiger in voller Höhe befriedigt und gegenüber den Forderungen des Finanzamts bevorzugt worden. Es sei von der Klägerin nicht dargelegt worden, dass auch bei den anderen Gläubigern ein Erlass bzw. Teilerlass der Forderungen beantragt worden sei.

    16

    6. Die hiergegen beim Niedersächsischen Finanzgericht erhobene Klage (Az. 8 K 108/15) begründete die Klägerin im Wesentlichen damit, dass sie lediglich deshalb in die Kapitallebensversicherung eingezahlt habe, weil sie seinerzeit rechtlich nicht die Möglichkeit gehabt habe, in die Deutsche Rentenversicherung einzuzahlen. Eine Auszahlung aus der Rentenversicherung wäre aber nur in Höhe der monatlichen Auszahlungen zu versteuern gewesen, nicht in Höhe der Substanz des angesparten Betrages. Insoweit liege eine Ungleichbehandlung vor, die mittlerweile vom Gesetzgeber ausgeräumt worden sei. Ihr bescheidener Lebensstil befinde sich zwar oberhalb des "ALG II-Niveaus", jedoch unterhalb eines Verbrauches, der dem Einkommen gemäß den Pfändungsfreigrenzen gemäß § 850 c Zivilprozessordnung (ZPO) entspreche. Die Eigentumswohnung habe sich die Klägerin gekauft, um Miete zu sparen. Die Klägerin befinde sich zudem in einem Zustand der beginnenden Demenz, auch wenn sie derzeit noch geschäftsfähig und teilweise arbeitsfähig sei.

    17

    Der erkennende Senat entschied durch Urteil vom 10. März 2016 (FG Niedersachsen, Urteil vom 10. März 2016 8 K 108/15, EFG 2016, 1314) ohne mündliche Verhandlung und verurteilte den Beklagten zur Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts. Der Beklagte sei bei der Frage, ob im Streitfall die Voraussetzungen für einen Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen vorgelegen haben, von ermessensfehlerhaften Erwägungen ausgegangen. Das Finanzamt habe sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt, indem es die Voraussetzung der Erlasswürdigkeit mit nicht sachgerechten Erwägungen verneint habe. Der Senat beanstandete, dass das Finanzamt bei der Prüfung der Erlasswürdigkeit nicht berücksichtigt habe, dass die Forderungen der übrigen Gläubiger (V-AG und X-Bausparkasse) - anders als die Forderung des Beklagten - besichert gewesen seien. Auf die Entscheidungsgründe des Senatsurteils vom 10. März 2016 wird Bezug genommen.

    18

    7. Auf das Bescheidungsurteil hin lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin, die Einkommensteuer 2012 zu erlassen, erneut ab und wies den hiergegen eingelegten Einspruch mit Einspruchsbescheid vom 9. Juni 2016 als unbegründet zurück. Nach der Begründung der Einspruchsentscheidung sei ein Erlass weder aus sachlichen Billigkeitsgründen noch aus persönlichen Billigkeitsgründen zu gewähren.

    19

    Das Beklagte führte zur Begründung im Einspruchsbescheid aus, dass Härten, die der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Regelung bedacht und in Kauf genommen habe, keinen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtfertigten. Der Vortrag der Klägerin, sie sei lediglich durch eine ungünstige gesetzliche Lage, die es ihr nicht ermöglicht habe, in eine Rentenversicherung einzuzahlen, überhaupt für ihre Altersvorsorge steuerpflichtig geworden, entspreche nicht den Tatsachen. Vielmehr beruhe die Steuerpflicht der Erträge aus der Kapitallebensversicherung ausschließlich auf wissentlichem Handeln der Klägerin. Eine Altersversorgung über eine Lebensversicherung hätte grundsätzlich keine Steuerpflicht ausgelöst. Lediglich die Entscheidung der Klägerin, ihre Lebensversicherung zu beleihen, habe zur Steuerpflicht geführt, nicht jedoch die Tatsache, dass die Klägerin nicht in die die Rentenversicherung einzahlen konnte. Auch liege keine Ungleichbehandlung mit Einzahlern in die Rentenversicherung vor, da Rentenanwartschaften nicht beliehen werden könnten. Sinngemäß führt der Beklagte aus, die steuerliche Gleichbehandlung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen und gesetzlichen Rentenansprüchen sei daher bereits dadurch gewährleistet, dass Erträge aus nicht beliehenen Kapitallebensversicherungen grundsätzlich steuerfrei blieben. Die Steuerpflicht bei beliehenen Lebensversicherungen stelle somit eine Härte dar, die der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen habe, um die Altersvorsorge zu gewährleisten und die Versicherungsnehmer zu veranlassen, den Kapitalstamm der Lebensversicherung unangetastet für die Altersvorsorge zu bewahren.

    20

    Ein Erlass aus persönlichen Gründen sei auch abzulehnen. Da die Steuer bereits entrichtet worden sei, komme es für die Billigkeitsprüfung aufgrund persönlicher Gründe auf die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Zeitpunkt der Zahlung - hier also am 20. November 2012 - an (BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl. II 1987, 612). Persönliche Unbilligkeit liege vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen sei wenigstens so viel von ihrem Vermögen zu belassen, dass sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten könnten. Ein Erlass sei in einem solchen Fall in dem Umfang zu gewähren, dass der Steuerpflichtige in der Lage bleibe, eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen und zwar in einer Höhe, die ihm eine bescheidene Lebensführung ermögliche (BFH-Urteil vom 29. April 1984 IV R 23/78, BFHE 133, 489, BStBl. II 1981, 726-729). Es bestehe jedoch nach der Rechtsprechung des BFH keine Erlassbedürftigkeit, wenn die Existenz des Steuerpflichtigen auch nach Erlass der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ernsthaft gefährdet oder vernichtet bliebe (BFH-Urteil vom 24. Oktober 1988 X B 54/88; BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176). So lägen die Umstände im vorliegenden Fall. Bei Einzahlung von 100.000 € in eine Rentenversicherung gegen Einmalzahlung ergebe sich eine monatliche Rentenzahlung von ca. 330 €; unter Berücksichtigung des bestehenden Rentenanspruchs der Klägerin von 390 € monatlich ergebe sich ein monatliches verfügbares Einkommen von insgesamt 565 € (720 € abzüglich 155 € Krankenversicherung) und damit ein Jahreseinkommen von ca. 6.780 €. Nach einem Erlass stünden der Klägerin 130.000 € zur Einzahlung in eine Lebensversicherung gegen Einmalzahlung zur Verfügung. Dann ergebe sich eine monatliche Rentenzahlung von rd. 430 € und ein Gesamtjahreseinkommen von 7.980 €. Das Einkommen der Klägerin bliebe also auch nach einem Erlass - wenn auch geringfügig - unter dem Existenzminimum. Aufgrund steigender Grundfreibeträge sei zu erwarten, dass die Versorgungslücke weiter steigen werde. Die Existenz der Klägerin bliebe demnach auch nach Erlass der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ernsthaft gefährdet, so dass keine Erlassbedürftigkeit bestehe.

    21

    Bezüglich der Erlasswürdigkeit wiederholt der Beklagte im Wesentlichen die oben (4.) dargestellten Gründe, mit denen es eine Erlasswürdigkeit bereit im Einspruchsbescheid vom 24. März 2015 abgelehnt hatte. Erlasswürdigkeit setze voraus, dass der Steuerpflichtige die mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeigeführt und durch sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Seien mehrere Gläubiger vorhanden, müsse erwartet werden, dass sich auch diese neben der Finanzverwaltung an einer mit dem Abgabenerlass verfolgten Sanierung beteiligten. Es sei nicht vertretbar, die privaten Gläubiger des Steuerschuldners auf Kosten der Allgemeinheit zu bevorzugen. Dass die Auszahlung der Lebensversicherung steuerpflichtig geworden sei, liege zudem allein daran, dass die Lebensversicherung zur Absicherung von Darlehen eingesetzt worden sei. Die Klägerin sei von der X-Bausparkasse ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Beleihung eine Steuerpflicht auslösen würde. Die Klägerin habe wissentlich und bewusst eine rechtliche Gestaltung gewählt, die ihr einen wirtschaftlichen Vorteil gewährt habe, die aber gleichzeitig mit der Verpflichtung eines Steuerabzugs behaftet gewesen sei. Das Handeln der Klägerin sei ursächlich für die Entstehung einer Steuerpflicht gewesen. Mit dem begehrten Erlass wolle sich die Klägerin die Vorteile einer Kreditgewährung bewahren, aber die Nachteile ihres Handelns daraus nicht tragen und diesen wirtschaftlichen Nachteil der Allgemeinheit übertragen. Darin sei ein eindeutiger Verstoß gegen die Interessen der Allgemeinheit der Steuerzahler zu sehen.

    22

    Ergänzend macht der Beklagte geltend, er sei wie diejenigen Gläubiger zu behandeln, die über Sicherungsrechte verfügten, da er aufgrund des sog. Fiskusprivilegs (Abzug an der Quelle, Abführung durch die Lebensversicherung an das Finanzamt ohne mögliche Einflussnahme des Versicherungsnehmers) de facto ebenfalls über ein Sicherungsrecht verfüge. Aufgrund der faktischen Gleichstellung aller Gläubiger könne daher auch verlangt werden, dass sich neben der Finanzverwaltung auch die anderen Gläubiger an einem Erlass beteiligten.

    23

    9. Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin macht geltend, der Beklagte habe das Senatsurteil vom 10. März 2016 nicht berücksichtigt. Da das Urteil im Einspruchsbescheid vom 9. Juni 2016 nicht einmal erwähnt werde, liege Ermessensnichtgebrauch vor. Die Klägerin macht sinngemäß geltend, dass der Hinweis der X-Bausparkasse auf die steuerlichen Folgen einer Verpfändung der Kapitallebensversicherung einem Erlass nicht entgegenstehe; dies sei in § 227 AO nicht vorgesehen. Die Klägerin macht weiter sinngemäß geltend, dass sie das Geld aus der Kapitallebensversicherung langsam für den Lebensunterhalt verbrauchen werde und ein Erlass verhindern würde, dass sie „zu früh“ auf Sozialhilfe angewiesen wäre. Die bescheidene Lebensführung sei bereits hinreichend erörtert und festgestellt worden. Der streitbefangene Bescheid lasse hieran keinen Zweifel zu.

    24

    Die Klägerin beantragt,

    25

    den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin unter Aufhebung des ablehnenden Erlassbescheides in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2016 die festgesetzte Einkommensteuer 2012 in vollem Umfang zu erlassen.

    26

    Der Beklagte beantragt,

    27

    die Klage abzuweisen.

    28

    Der Beklagte verweist im Wesentlichen auf die im Verfahren 8 K 108/15 (FG Niedersachsen, Urteil vom 10. März 2016 8 K 108/15, EFG 2016, 1314) abgegebenen Stellungnahmen sowie auf die Einspruchsbegründung und weist besonders darauf hin, dass das Vorbringen der Klägerin, sie habe als Koreanerin nicht die Möglichkeit gehabt in die deutsche Rentenversicherung einzuzahlen und deshalb in eine Lebensversicherung eingezahlt, nicht ursächlich für die in 2012 erfolgte Besteuerung der Kapitalerträge aus der Lebensversicherung sei. Vielmehr habe erst die Verpfändung der Lebensversicherung zur Steuerpflicht der Kapitalerträge aus der Kapitallebensversicherung geführt.

    29

    In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin erklärt, sie habe tatsächlich bei den Banken nachgefragt, ob ein Teilerlass in Betracht komme. Das hätten die Banken aber unter Hinweis auf ihre Ansprüche und die bestehenden Sicherungsrechte verneint. Daraufhin hat die Vertreterin des Beklagten erläutert, dass die Beleihung der Lebensversicherung im Rahmen der Prüfung der Erlasswürdigkeit als vorwerfbares Verhalten der Klägerin zu beurteilen sei.

    30

    Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. Juni 2017 und die Steuerakten verwiesen. Auch auf die Gerichtsakte in dem Verfahren 8 K 108/15, die beigezogen wurde, wird verwiesen.

    Entscheidungsgründe

    31

    I. Die Klage ist zulässig und begründet. Die Ablehnung des Erlassantrags durch das Finanzamt ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, (hierzu 1.); die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr die Einkommensteuer 2012 in voller Höhe erlassen wird (Ermessensreduktion auf null, hierzu 2.), § 101 S. 1 FGO.

    32

    1. Der ablehnende Erlassbescheid des Beklagten in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2016 ist rechtswidrig.

    33

    a) Die Ablehnung des Erlassantrags ist - anders als von der Klägerin geltend gemacht - nicht schon deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte das rechtskräftige Urteil des Senats vom 10. März 2016 (8 K 108/15), mit dem es zur Neubescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt worden war, unberücksichtigt gelassen hätte.

    34

    Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist (§ 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO). Hat das Gericht die Verpflichtung der Finanzbehörde ausgesprochen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO), so ist der Umfang der materiellen Rechtskraft des Bescheidungsurteils den Entscheidungsgründen zu entnehmen. Die zur Neubescheidung verurteilte Finanzbörde darf eine für den Kläger positive Entscheidung nicht aus Gründen ablehnen, die im Widerspruch zu den tragenden Gründen des Bescheidungsurteils stehen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 121 Rn. 21a mwN). Die Entscheidung des Finanzamts im Rahmen der Neubescheidung, den Erlassantrag erneut abzulehnen, berücksichtigt die materielle Rechtskraft des (Bescheidungs-)Urteil des Senats vom 10. März 2016 insofern hinreichend, als das Finanzamt den von der Klägerin begehrten Erlass unter einem rechtlichen Gesichtspunkt abgelehnt hat, zu dem sich der Senat in den tragenden Gründen des (Bescheidungs-)Urteils vom 10. März 2016 nicht geäußert hat. Ein Erlass nach § 227 AO kann aus sachlichen oder aus persönlichen Billigkeitsgründen gewährt werden, wobei ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen voraussetzt (hierzu näher unten). Mit dem Urteil vom 10. März 2016 hat der Senat lediglich die Ermessenserwägungen des Finanzamts zur Erlasswürdigkeit beanstandet. Zur Frage der sachlichen Unbilligkeit oder zur Erlassbedürftigkeit als Voraussetzung der persönlichen Unbilligkeit hat der Senat dem Finanzamt keine Vorgaben gemacht. Da das Finanzamt den Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen im Rahmen der Neubescheidung - anders als bei der ursprünglichen Bescheidung - bereits mit der Erwägung ablehnt hat, die Klägerin sei nicht erlassbedürftig, hat es sich nicht über die materielle Rechtskraft des Senatsurteils vom 10. März 2016 hinweggesetzt. Auf die Erwägungen des Finanzamts zur Erlasswürdigkeit, die es gleichwohl auch im Rahmen der Neubescheidung angestellt hat, und auf die Frage, ob diese Erwägungen inhaltlich den Vorgaben des Senatsurteils vom 10. März 2016 entsprechen, kommt es insofern nicht an.

    35

    b) Die ablehnende Erlassentscheidung in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2016 ist rechtswidrig, weil sie ermessensfehlerhaft ist.

    36

    Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können Beträge, die - wie hier durch Kapitalertragsteuereinbehalt am 22. November 2012 - bereits entrichtet wurden, erstattet werden.

    37

    Ob und in welchem Umfang Steuerrückstände und Nebenleistungen gemäß § 227 AO erlassen werden, ist nach dem Wortlaut der Norm („können“) eine Ermessensentscheidung (BFH-Urteil vom 20. Mai 2010 V R 42/08, BStBl. II 2010, 955). Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer Erlassentscheidung nach § 227 AO die Billigkeit sowohl tatbestandsmäßige Voraussetzung des Erlasses als auch Ermessensschranke ist. Das Gericht prüft gemäß § 102 FGO, ob der Beklagte gemäß § 5 AO die gesetzlichen Grenzen der Ermessensvorschrift eingehalten und das ihm eingeräumte Ermessen unter Beachtung des Gesetzeszwecks fehlerfrei ausgeübt hat. § 102 FGO begrenzt damit bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung die richterlichen Kompetenzen der Rechtmäßigkeitsprüfung. Gleichwohl kann das Gericht ausnahmsweise eine Verpflichtung des Beklagten zum Erlass aussprechen (vgl. § 101 FGO), wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. BFH-Urteil vom 20. Mai 2010 V R 42/08, BStBl. II 2010, 955, hierzu unter II.).

    38

    Ein Erlass kommt gem. § 227 AO aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen in Frage. Im Streitfall kommt zwar ein Erlass aus sachlichen Gründen nicht in Betracht; insoweit begegnet die ablehnende Entscheidung des Finanzamts keinen Bedenken (aa)); einen Erlass aus persönlichen Gründen hat das Finanzamt aber zu Unrecht abgelehnt (bb)).

    39

    aa) Die Einziehung der Steuer, deren Erlass die Klägerin beantragt, ist nicht als sachlich unbillig anzusehen; insofern sind die Ermessenerwägungen des Beklagten nicht zu beanstanden. Eine Unbilligkeit in der Sache kommt nach der Rechtsprechung des BFH in Betracht, wenn die Tatsache der Besteuerung als solche, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen, unbillig ist (Urteil vom 26. Oktober 1972 I R 125/70, BFHE 108, 146, BStBl. II 1973, 271 m.w.N.).

    40

    Die Besteuerung der im November 2012 zugeflossenen Kapitalerträge aus der streitgegenständlichen Versicherung, die 1985 abgeschlossenen wurde, richtet sich nach § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG in der am 31. Dezember 2004 geltenden Fassung (vgl. § 52 Abs. 36 Satz 5 EStG in der am 31. Dezember 2012 geltenden Fassung). Danach sind Zinsen aus den Sparanteilen, die in den Beiträgen zu Versicherungen auf den Erlebens- oder Todesfall enthalten sind, grundsätzlich steuerpflichtig; Kapitalertragsteuer ist nach § 43 Abs. 1 Nr. 2 EStG einzubehalten. Eine Steuerbefreiung gilt jedoch unter den Voraussetzungen des Satzes 2 dieser Vorschrift für Kapitalerträge aus Versicherungen i.S. des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG, wenn die Versicherungsbeiträge die Voraussetzungen für den Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a oder b EStG erfüllen (§ 20 Abs. 1 Nr. 6 Satz 4 EStG). Der Sonderausgabenabzug ist unter den in § 10 Abs. 2 Satz EStG a.F. näher geregelten Voraussetzungen wiederum ausgeschlossen, wenn die Lebensversicherung zur Sicherung eines Darlehens dient.

    41

    Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage sind die Erwägungen des Finanzamts, mit denen es einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen abgelehnt hat, nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, die Steuerbefreiung für Erträge aus Lebensversicherungsverträgen - und damit die steuerliche Gleichstellung mit Renten - für den Fall einzuschränken, dass Ansprüche aus der Kapitallebensversicherung beliehen werden. Diese gesetzgeberische Entscheidung ist aus den vom Finanzamt im Einspruchsbescheid vom 9. Juni 2016 dargelegten Gründen gerechtfertigt. Da der Klägerin die Möglichkeit offenstand, auf die Darlehensaufnahme und damit auf die Beleihung der Kapitallebensversicherung zu verzichten, und sie damit eine steuerliche Gleichstellung gegenüber Rentenbeziehern hätte erreichen können, sind auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles keine Anhaltspunkte für eine sachliche Unbilligkeit ersichtlich.

    42

    Der Beklagte ist auch zutreffend davon ausgegangen, dass ein Erlass nach § 227 AO aus sachlichen Billigkeitsgründen im vorliegenden Fall nicht mit Einwänden gegen die materielle Rechtmäßigkeit der Festsetzung der Einkommensteuer begründet werden kann. Nach gefestigter Rechtsprechung des BFH kann eine bestandskräftige Steuerfestsetzung in einem sachlichen Billigkeitsverfahren nur dann inhaltlich nachgeprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich oder unzumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteil vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512 m. w. N.). Eine offensichtliche und eindeutige Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung ist nicht ersichtlich; die Klägerin macht eine solche Unrichtigkeit auch nicht geltend. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin daran gehindert gewesen wäre, etwaige rechtliche Einwände gegen die Steuerfestsetzung im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid 2012 geltend zu machen.

    43

    bb) Der Beklagte hat indes bei der Frage, ob im Streitfall die Voraussetzungen für einen Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen vorgelegen haben, ermessensfehlerhafte Erwägungen angestellt.

    44

    Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen setzt die Erlassbedürftigkeit und die Erlasswürdigkeit des Antragstellers voraus (BFH-Beschluss vom 20. Juli 2007 XI B 95/06, BFH/NV 2007, 1826). Ist die Steuer, wie hier, bereits entrichtet, kommt es für die Billigkeitsprüfung auf die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer an; für die Erstattung aus persönlichen Billigkeitsgründen ist sonach erforderlich und ausreichend, dass die Einziehung im Zeitpunkt der Zahlung der Steuern - hier also bei Einbehalt der Kapitalertragsteuer im November 2012 - unbillig war (BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl. II 1987, 612).

    45

    Der Beklagte hat sowohl die Erlassbedürftigkeit (dazu aaa)) als auch die Erlasswürdigkeit (dazu bbb)) mit ermessensfehlerhaften Erwägungen abgelehnt.

    46

    aaa) Die Erwägungen des Finanzamts zur Erlassbedürftigkeit sind ermessenfehlerhaft.

    47

    (1) Erlassbedürftigkeit besteht, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde. Das ist der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann. Zum notwendigen Lebensunterhalt gehören die Mittel für Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung und für die sonst erforderlichen Aus-gaben des täglichen Lebens, wie etwa zum Erwerb des notwendigen Hausrats und der sonst erforderlichen Gegenstände des täglichen Bedarfs (vgl. BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl. II 2002, BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl. II 1987, 612; Oellerich in Beermann/Gosch, AO/FGO, 130. Lieferung, § 163 AO Rn. 156). Der notwendige Lebensunterhalt ist nicht gleichzusetzen mit dem bloßen Existenzminimum, sondern bezeichnet darüber hinaus auch diejenigen Mittel, die eine angemessene, d.h. zwar bescheidene, nicht aber ärmliche Lebensführung ermöglichen (BFH-Beschluss vom 10. März 1987 VII B 169/85, BFH/NV 1988, 71; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 18. Lieferung April 2017, § 227 AO Rn. 92). Unabhängig davon, wie der notwendige Lebensunterhalt im Einzelfall zu beziffern und nach oben zu begrenzen ist, ist ein Steuerpflichtiger deshalb jedenfalls insoweit erlassbedürftig, wie ihm ohne Billigkeitsmaßnahme dauerhaft weniger als der monatlichen Betrag zur Verfügung stehen würde, der einem Arbeit-nehmer oder Rentner von seinem Einkommen nach den Pfändungsschutzvorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) als unpfändbarer Betrag verbleiben würde (vgl. BFH-Beschluss vom 10. März 1987 VII B 169/85, BFH/NV 1988, 71; siehe auch FG Baden-Württemberg, Urteil vom 07. Juni 1988 I K 244/84 EFG 1988, 613). Der nach § 850c Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 ZPO unpfändbare Betrag belief sich nach der zum hier maßgeblichen Zeitpunkt - Einbehalt der Kapitalertragsteuer am 20. November 2012 - geltenden Rechtslage auf 1.028,89 € monatlich (Bekanntmachung zu § 850c ZPO vom 9. Mai 2011, BGBl. I, S. 825). Da der unpfändbare Betrag vom Nettoeinkommen eines Arbeitnehmers oder Rentners ausgeht, sind Steuern und Beiträge für die Krankenversicherung hierin noch nicht enthalten.

    48

    Für die Frage, ob ein Steuerpflichtiger erlassbedürftig ist, spielt seine Vermögenslage eine entscheidende Rolle. Grundsätzlich ist der Steuerpflichtige gehalten, zur Zahlung seiner Steuerschulden alle verfügbaren Mittel einzusetzen und auch seine Vermögenssubstanz anzugreifen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFH 149, 216, BStBl. II 1987, 612). Davon ausgenommen sind allerdings die Fälle, in denen die Verwertung der Vermögenssubstanz den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten würde. Daher ist nach der Rechtsprechung des BFH im Rahmen der Billigkeitsprüfung alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen wenigstens so viel von ihrem Vermögen zu belassen, dass sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können. In diesem Zusammenhang hat es der BFH als brauchbare Erwägung angesehen, einem alten und nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen von seinem Vermögen soviel zu belassen, dass er in der Lage ist, eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen, und zwar in einer Höhe, die ihm die Möglichkeit einer bescheidenen Lebensführung gestattet (BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 23/78, BStBl. II 1981, 726, BFHE 133, 489; BFH-Urteil vom 27. Mai 1987 X R 41/81, BFH/NV 1987, 691; BFH-Urteil vom 27. Februar 1991 XI R 23/88, BFH/NV 1991, 430).

    49

    Ein Erlass setzt weiter voraus, dass sich die Billigkeitsmaßnahme auf die wirtschaftliche Existenz des Steuerpflichtigen konkret auswirken kann, seine wirtschaftliche Situation muss sich also durch den Erlass spürbar verbessern. Nach der vom Beklagten angeführten Rechtsprechung des BFH scheidet ein (vollständiger oder teilweiser) Erlass aus persönlichen Gründen daher aus, wenn der Steuerpflichtige unabhängig von einer solchen Billigkeitsmaßnahme in wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, die (wegen des Pfändungsschutzes, den er genießt) eine Durchsetzung der in Frage stehenden Steueransprüche ausschließen, ein Erlass hieran nichts ändern könnte und aus diesem Grunde nicht mit einem wirtschaftlichen Vorteil für den Steuerpflichtigen verbunden wäre (BFH-Beschluss vom 24. Oktober 1988 X B 54/88, BFH/NV 1989, 285; BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl. II 2002, 176). Denn ein Erlass zielt nicht darauf ab, den Steuerschuldner von einer als unangemessen empfundenen Steuerschuld zu befreien oder ihm die Unannehmlichkeiten monatlicher Ratenzahlungen auf seine Abgabenrückstände zu ersparen. Hier bieten die Regelungen über den Vollstreckungsschutz im Allgemeinen ausreichende Möglichkeiten, um Unzuträglichkeiten zu vermeiden und dem Steuerschuldner eine menschenwürdige Lebensführung zu erhalten. Ein auf wirtschaftliche oder existentielle Schwierigkeiten gestützter Erlass muss sich deshalb von solchen Situationen abheben, die bereits durch gesetzlichen Pfändungsschutz oder behördliche Vollstreckungsschutzmaßnahmen angemessen berücksichtigt werden können (FG Düsseldorf, Urteil vom 07. April 2016 16 K 377/16 AO, juris).

    50

    (2) Ausgehend von diesen Voraussetzungen sind die Ermessenerwägungen des Beklagten, mit denen es eine Erlassbedürftigkeit abgelehnt hat, fehlerhaft.

    51

    (i) Der Beklagte hat im Streitfall zu Recht die dargestellte BFH-Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 27. Mai 1987 X R 41/81, BFH/NV 1987, 691) für nicht mehr erwerbstätige Steuerpflichtige angewendet. Der Senat hält dies für sachgerecht und geboten. Denn angesichts der Lebensumstände der Klägerin, die zum maßgeblichen Zeitpunkt 2012 das 60. Lebensjahr bereits vollendet hatte und aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr erwerbstätig war, war schon aufgrund des Alters der Klägerin nicht davon auszugehen, dass sie noch Gelegenheit haben würde, hinreichende Mittel für ihre Altersversorgung zu erwirtschaften, und zwar selbst dann nicht, wenn es ihr trotz ihrer gesundheitlichen Schwierigkeiten tatsächlich wieder wie beabsichtigt gelingen würde, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen und dieser bis zum Erreichen des regulären Renteneintrittsalters einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.

    52

    Auf Grundlage der genannten BFH-Rechtsprechung hat der Beklagte in nicht zu beanstandender Weise auf Basis einer Angebotsrecherche im Internet ermittelt, in welcher Höhe der Klägerin bei Abschluss einer sofort fälligen Leibrente gegen eine Einmalzahlung Leibrenten-bezüge zugestanden hätten. Danach würde die Klägerin bei Einzahlung des Betrags, den sie nach Abzug der Kapitalertragsteuer aus der Kapitallebensversicherung erhalten hat (rd. 100.000 €), eine monatliche Leibrente von rd. 330 € erhalten können. Stünde der Klägerin stattdessen - nach einem Erlass - ein Betrag von rd. 130.000 € zur Einzahlung in eine Leibrente gegen Einmalzahlung zur Verfügung, könnte sie eine monatliche Leibrente von rd. 430 € erzielen.

    53

    Auf dieser Grundlage ist das Finanzamt zu der Erkenntnis gelangt, dass das zur Einzahlung in eine Leibrente gegen Einmalzahlung zur Verfügung stehende Vermögen der Klägerin auch nach dem begehrten Erlass (dann: rd. 130.000 €) nicht ausreichen würde, um eine Leibrente in der zur dauerhaften Existenzsicherung erforderlichen Höhe zu erwerben. Das Finanzamt hat insoweit in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass die Klägerin unter Berücksichtigung ihrer bestehenden Rente (390 € monatlich) und nach Abzug der Krankenversicherung (rd. 154 € monatlich) ein Einkommen von rd. 6.800 € jährlich (ohne Erlass) bzw. rd. 8.000 € jährlich (nach Erlass) hätte. Insoweit ist zwar in tatsächlicher Hinsicht zu beanstanden, dass das Finanzamt zusätzlich den nach der von der Klägerin vorgelegten Rentenauskunft ab dem 21. Juli 2017 bestehenden Anspruch auf eine gesetzliche Altersrente in Höhe von rd. 150 € monatlich hätte berücksichtigen müssen. Im Ergebnis wirkt sich dieses Versäumnis gleichwohl nicht auf die Erwägungen des Finanzamt aus, da das demnach ab 2017 zur Verfügung stehende Einkommen immer noch deutlich unter dem Pfändungsfreibetrag nach § 850c EStG liegt - und damit deutlich unterhalb dessen, was für eine nicht ärmliche, aber bescheidene Lebensführung erforderlich ist (BFH-Beschluss vom 10. März 1987 a.a.O.).

    54

    (ii) Die Erwägungen des Beklagten zur Erlassbedürftigkeit der Klägerin sind aber insofern ermessensfehlerhaft, als der Klägerin die Erlassbedürftigkeit mit dem Argument abgesprochen wird, ihre Existenz bliebe auch nach dem begehrten Erlass ernsthaft gefährdet oder vernichtet.

    55

    Insoweit hat das Finanzamt ermessenfehlerhaft verkannt, dass sich der begehrte Erlass unmittelbar auf die wirtschaftliche Existenz der Klägerin auswirken würde. Ihre wirtschaftliche Situation würde sich deutlich verbessern, da ihr mit dem Erlassbetrag in Höhe von 30.000 € jedenfalls für einige (weitere) Jahre Mittel für eine bescheidene Lebensführung zur Verfügung stünden. Ihre wirtschaftliche Existenz wäre also vollkommen unabhängig davon, in welcher Höhe ihr neben dem Erlassbetrag Einnahmen und Vermögen zur Verfügung stehen, jedenfalls für einige (weitere) Jahre gesichert.

    56

    Anders als in den Überschuldungssachverhalten, die der vom Finanzamt angeführten Rechtsprechung zugrunde liegen (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Oktober 1988 X B 54/88, BFH/NV 1989, 285; BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl. II 2002, 176), befindet sich die Klägerin nicht in einer Situation, in der sie bereits durch die gesetzlichen Pfändungsschutzvorschriften hinreichend geschützt wäre und sich ein Erlass insoweit nicht wirtschaftlich auswirken würde. Vielmehr droht der Klägerin überhaupt keine Zwangsvollstreckung, da die streitgegenständliche Steuerschuld bereits beglichen ist und die Klägerin mit ihrem Antrag nach § 227 AO eine Erstattung der beglichenen Steuerschuld begehrt. Da die Klägerin auch keine weiteren Schulden hat, würde der Erlass- (bzw. Erstattungs-)betrag auch nicht etwa lediglich anderen Gläubigern zu Gute kommen, sondern der Klägerin tatsächlich zur Verfügung stehen.

    57

    Der Ermessenfehler beruht darauf, dass der Beklagte den Grundsatz, nach dem einem nicht mehr erwerbstätigen Steuerpflichtigen zur Sicherung seiner Existenz der erforderliche Betrag für eine Versicherung gegen Einmalprämie über sofort fällige Leibrentenbezüge in entsprechender Höhe zu belassen sind, nicht zugunsten der Klägerin, sondern - insoweit ermessensfehlerhaft - zu ihren Lasten angewendet hat. Dem genannten Grundsatz liegt der Gedanke zugrunde, dass für die Beurteilung der Bedürftigkeit eines Steuerpflichtigen nach dem alters- oder gesundheitsbedingtem Ende seiner Erwerbstätigkeit der Zeitraum bis zu seinem tatsächlichen Lebensende einzubeziehen ist - und nicht etwa bloß der Zeitraum bis zum Ablauf der statistischen Durchschnittslebensdauer, wie sie sich anhand der Sterbetafeln ermitteln ließe. Da der tatsächliche Zeitpunkt des Lebensendes naturgemäß genauso wenig vorhersehbar ist wie der exakte Betrag, den der Steuerpflichtige bis dahin für eine bescheidene Lebensführung ausgeben müsste, wird dem Steuerpflichtigen die erforderliche Summe für eine existenzsichernde Leibrente gegen Einmalzahlung belassen. Es handelt sich dabei um eine besonders sichere, deshalb aber auch vergleichsweise teure Art, Kapital zur Existenzsicherung im Alter einzusetzen. Denn der Sicherheit einer Leibrente bis zum Lebensende steht das Risiko des Versicherers gegenüber, zu Zahlungen an den Versicherungsnehmer verpflichtet zu sein, auch wenn dieser ein Lebensalter weit oberhalb der statistischen Lebenserwartung erreicht und selbst dann, wenn der Einzahlungsbetrag durch Auszahlungen rechnerisch „aufgebraucht“ ist. Dieses Risiko lässt sich der Versicherer in Form eines Aufschlags beim einzuzahlenden Betrag vergüten.

    58

    Nach Auffassung des Senats kann der Grundsatz, dass für die Existenzsicherung im Alter eine Leibrente bis zum Lebensende erforderlich ist, aber nur zugunsten eines Steuerpflichtigen gelten, der - nach einer Billigkeitsmaßnahme - über ausreichende Mittel verfügt, seine Existenz auf diese Weise bis zum Lebensende abzusichern. Im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung kann hieraus hingegen nicht der Umkehrschluss zu Lasten des Steuerpflichtigen gezogen werden, dass die wirtschaftliche Existenz eines Steuerpflichtigen nach Beendigung des Erwerbslebens schon deshalb ernsthaft gefährdet bliebe, weil sein Vermögen - auch nach der begehrten Billigkeitsmaßnahme - nicht für eine Leibrente gegen Einmalzahlung in ausreichender Höhe genügen würden. Reicht das Vermögen des Steuerpflichtigen nicht für eine solche Leibrente gegen Einmalzahlung aus, ist ihm der begehrte Erlass auch zu gewähren, wenn aufgrund der Billigkeitsmaßnahme das Existenzminimum jedenfalls für einen beträchtlichen Zeitraum, wenn auch nicht notwendigerweise bis zum Lebensende, gesichert werden kann.

    59

    Dies ist vorliegend der Fall. Ein Betrag von rd. 30.000 €, wie er vorliegend in Rede steht, reicht aus, um der Klägerin ihre wirtschaftliche Existenz bei bescheidener Lebensführung jedenfalls für einige (weitere) Jahre zu sichern. Als denkbare Möglichkeit kommt z.B. in Betracht, dass die Klägerin ihr während des Erwerbslebens in Form der Lebensversicherung angespartes Kapital vollständig und unmittelbar durch monatliche Entnahmen für die Lebensführung einsetzen könnte (ggf. bis der Kapitalstamm aufgebraucht ist). Ausgehend von einem notwendigen Lebensunterhalt in Höhe des Pfändungsfreibetrags von rd. 12.336 € (1.028 € monatlich) und einer Jahresrente von 4.680 € besteht eine Versorgungslücke von rd. 7.656 € (638 € monatlich) und einem unterstellten Zinssatz von 1% würde das Kapitalvermögen der Klägerin in Höhe von 100.000 € bei monatliche Entnahmen in dieser Höhe nach 14 Jahren - ausgehend vom Betrachtungszeitpunkt 2012 also im 75. Lebensjahr der Klägerin - aufgebraucht sein. Stehen der Klägerin stattdessen 130.000 € zur Verfügung dauert es fast 19 Jahre - also bis ins 79. Lebensjahr der Klägerin -, bis der Kapitalstock aufgebraucht ist. Berücksichtigt man zusätzlich den vom Finanzamt unberücksichtigt gelassenen Anspruch der Klägerin auf Altersrente, der ihr ab 2017 in Höhe von voraussichtlich rd. 150 € monatlich zusteht, ist die Existenz der Klägerin bis über ihr 80. Lebensjahr hinaus gesichert.

    60

    bbb) Der Beklagte hat sein Ermessen darüber hinaus fehlerhaft ausgeübt, indem er die Voraussetzung der Erlasswürdigkeit mit nicht sachgerechten Erwägungen verneint hat. Die von der Rechtsprechung des BFH (z. B. Urteil vom 14. November 1957 IV 418/56 U, BStBl. III 1958, 153) als Voraussetzung für einen Billigkeitserlass geforderte Erlasswürdigkeit des Steuerpflichtigen ist nicht gegeben, wenn dieser die mangelnde Leistungsfähigkeit selbst herbeigeführt oder durch sein Verhalten in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen hat. So kann z.B. die schuldhafte Herbeiführung einer wirtschaftlichen Notlage (etwa durch zu hohen Verbrauch) einem Erlass entgegenstehen.

    61

    Der Beklagte verneint die Erlasswürdigkeit in der Einspruchsentscheidung vom 9. Juni 2016 im Wesentlichen mit den Erwägungen, die bereits dem Einspruchsbescheid vom 24. März 2015 zugrunde lagen und zu denen sich der Senat mit Urteil vom 10. März 2016 (8 K 108/15) geäußert hat: Seien mehrere Gläubiger vorhanden, müsse erwartet werden, dass sich auch diese neben der Finanzverwaltung an einer mit dem Abgabenerlass verfolgten Sanierung beteiligen. Dies sei im Streitfall nicht der Fall, da das Bauspardarlehen bei der X-Bausparkasse und das Darlehen bei der V-AG in voller Höhe durch die Auszahlung aus der Kapitallebensversicherung abgelöst worden sein. Die Klägerin habe nicht dargelegt, dass auch bei den anderen Gläubigern ein Erlass bzw. Teilerlass der Forderungen beantragt worden sei. Dass die Auszahlung der Lebensversicherung steuerpflichtig geworden sei, liege allein daran, dass die Lebensversicherung zur Absicherung für das Bauspardarlehen bei der eingesetzt worden sei.

    62

    Grundsätzlich muss zwar davon ausgegangen werden, dass ein Steuerpflichtiger sein Vermögen zu einer gleichmäßigen Schuldentilgung verwendet. Die Steuerschulden dürfen dabei gegenüber den übrigen Schulden nicht vernachlässigt werden. Für die Frage der Erlasswürdigkeit kommt es allerdings auch insoweit auf die Umstände des Einzelfalls an (BFH-Urteil vom 29. April 1981 IV R 23/78, BStBl. II 1981, 726-729, BFHE 133, 489; vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 10. Aufl., Tz. 54 zu § 227 AO 1977).

    63

    Nach Sinn und Zweck des § 227 AO ist eine uneingeschränkte Gleichbehandlung aller Gläubiger aber nicht ermessensgerecht, wenn die anderen Gläubiger über - nicht anfechtbare - Sicherheiten verfügen, die eine vollständige Befriedigung für diese erwarten lassen. Denn ein vollständig besicherter Gläubiger wird sich nicht auf einen Vergleich bzw. einen Teilverzicht einlassen (so bereits Niedersächsisches FG, Urteil vom 10. März 2016 8 K 108/15, EFG 2016, 1314).

    64

    Eine derartige Besicherung lag im Streitfall vor. Die Klägerin erhielt einen nach Abzug eines Betrages in Höhe von 12.000 EUR für das offene Policendarlehen bei der V-AG und eines Betrags in Höhe von 36.507 EUR an die Bausparkasse nach Abzug der Kapitalertragsteuer zzgl. Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer einen Restbetrag von 102.913 EUR auf die angegebene Bankverbindung ausgezahlt. Zum Zeitpunkt der Auszahlung der Lebensversicherung (November 2012) lag der Wert der abgetretenen Versicherung somit um ein Mehrfaches über den Ansprüchen der anderen Gläubiger. Diese mussten angesichts der zu erwartenden Versicherungsleistung in keiner Weise befürchten, nicht insgesamt Befriedigung zu erlangen. Im vorliegenden Fall haben die anderen Gläubiger einen (Teil-)Erlass auf Nachfrage der Klägerin sogar unter Verweis auf die bestehenden Sicherheiten verweigert.

    65

    Auch die ergänzende Erwägung des Beklagten, er könne die uneingeschränkte Gleichbehandlung mit den besicherten Gläubigern aufgrund des „Fiskusprivilegs“ (Abzug an der Quelle, Abführung durch die Lebensversicherung an das Finanzamt ohne mögliche Einflussnahme des Versicherungsnehmers) einfordern, trägt die Ablehnung der Erlasswürdigkeit nicht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die Form der Steuererhebung - hier: durch Kapitalertragsteuereinbehalt - der Erlasswürdigkeit eines Steuerpflichtigen entgegenstehen soll. Die in § 227 AO normierte Pflicht der Finanzbehörden gilt grundsätzlich unabhängig von der Steuerart, dies muss auch für die unterschiedlichen Erhebungsformen der Einkommensteuer gelten. Eine Unterscheidung nach der Erhebungsform würde zu nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen im Hinblick auf verschiedene Formen der Kapitalanlage führen. Während nach der Argumentation des Beklagten einem Steuerpflichtigen in der Situation der Klägerin ein Erlass der Einkommensteuer auf kapitalertragsteuerpflichtige Erträge verweigert werden müsste, käme ein Erlass der Einkommensteuer auf z.B. Mieteinkünfte oder auch auf Zinseinkünfte oder ausländische Kapitaleinkünfte, die grundsätzlich nicht der Kapitalertragsteuer unterliegen, ggf. weiter in Betracht. Im Hinblick auf den Zweck des § 227 AO, dem Steuerpflichtigen die zum notwendigen Lebensunterhalt erforderlichen Mittel zu belassen, ist eine solche Unterscheidung nicht zu rechtfertigen.

    66

    Gegen die Erlasswürdigkeit spricht im Übrigen auch nicht bereits, dass die Klägerin ihre Kapitallebensversicherung beliehen hat, obwohl sie von der V-AG über die möglichen steuerlichen Folgen einer Beleihung der Kapitallebensversicherung aufgeklärt worden war. Die Erlasswürdigkeit eines Steuerpflichtigen ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil er den Steuertatbestand, insbesondere einen Einkünfteerzielungstatbestand des EStG, wissentlich und willentlich ausgelöst hat. Die Erzielung von Einkünften ist kein vorwerfbares gemeinschädliches Verhalten.

    67

    2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf den begehrten Erlass. Die Sache ist spruchreif. Es ist eine Verpflichtung des Finanzamts zum Erlass auszusprechen (vgl. § 101 FGO), da der Ermessensspielraum im Streitfall derart eingeengt ist, dass nur diese Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (vgl. BFH-Urteil vom 20. Mai 2010 V R 42/08, BStBl. II 2010, 955).

    68

    Der Klägerin ist die Einkommensteuer 2012 nach § 227 AO aus persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen.

    69

    Auf Grundlage der persönlichen und wirtschaftlichen Umstände der Klägerin im streiterheblichen Zeitpunkt des Kapitalertragsteuereinbehalts im November 2012 ergibt sich ein Anspruch der Klägerin auf Erlass der Einkommensteuer. Sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen des Beklagten sind auf null reduziert.

    70

    a) Das Entschließungsermessen des Beklagten ist auf null reduziert. Die Ablehnung des Erlasses kommt nicht in Betracht, weil sowohl die Erlassbedürftigkeit als auch die Erlasswürdigkeit feststehen.

    71

    aa) Dies gilt zunächst für die Erlassbedürftigkeit.

    72

    Der Senat vertritt unter Berufung auf die oben dargelegte Rechtsprechung des BFH die Auffassung, dass für eine nicht ärmliche, aber bescheidene Lebensführung, die einem Steuerpflichtigen ggf. durch Billigkeitsmaßnahmen zu gewährleisten ist, jedenfalls ein Einkommen in Höhe der nach § 850 ZPO pfändungsfreien Beträge erforderlich ist (BFH-Beschluss vom 10. März 1987 VII B 169/85, a.a.O., siehe oben unter I.1.b) bb) aaa)). Im vorliegenden Fall hält der Senat es zudem aus den oben (I.1.b) bb) aaa) (2)) dargelegten Gründen für geboten, bei der Ermittlung der Bedürftigkeit der Klägerin den Grundsatz anzuwenden, dass einem alten und nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen von seinem Vermögen soviel zu belassen ist, dass er in der Lage ist, eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen, und zwar in einer Höhe, die ihm die Möglichkeit einer bescheidenen Lebensführung gestattet.

    73

    In dem für die Beurteilung der Erlassbedürftigkeit maßgeblichen Zeitpunkt der Steuerentrichtung (Kapitalertragsteuereinbehalt im November 2012) war davon auszugehen, dass die Klägerin ohne Erlass dauerhaft ein Einkommen unterhalb des Pfändungsfreibetrags für Arbeitnehmer und Rentner nach § 850c EStG erzielen würde. Der Senat macht sich insoweit die Berechnungen des Finanzamts zu eigen, nach denen der Klägerin ohne den begehrten Erlass und bei Einzahlung ihres dann verfügbaren Vermögens in Höhe von rd. 100.000 € im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (November 2012), bis zum Lebensende ein Einkommen von nicht mehr als 6.800 € zur Verfügung stehen würde. Zusätzlich berücksichtigt der Senat, dass im entscheidungserheblichen Zeitpunkt aufgrund der von der Klägerin vorgelegten Rentenauskunft damit zu rechnen war, dass sie ab Erreichen der Regelaltersgrenze im Jahr 2017 eine Altersrente in Höhe von voraussichtlich rd. 150 € erzielen würde. Es war damit davon auszugehen, dass die Klägerin dauerhaft ein Einkommen von rd. 8.000 € p.a. erzielen würde.

    74

    Das einzige vom Finanzamt gegen eine Erlassbedürftigkeit vorgebrachte Argument, an der Erlassbedürftigkeit fehle es, weil die Klägerin auch durch einen Erlass nicht in der Lage versetzt werde, ihre Lebensführung aus eigenen Mitteln zu bestreiten, ist aus den oben genannten Gründen fehlerhaft. Andere Gründe, die gegen eine Erlassbedürftigkeit sprechen könnten, sind nicht ersichtlich.

    75

    Damit war der dem Beklagten nach § 227 AO gegebene Ermessenspielraum insofern eingeschränkt, als dass von einer Erlassbedürftigkeit der Klägerin auszugehen war.

    76

    bb) Auch bezüglich der Erlasswürdigkeit ist Spruchreife gegeben.

    77

    Umstände, die eine Erlasswürdigkeit der Klägerin ausschließen könnten, sind nicht ersichtlich.

    78

    Nach der oben dargelegten Rechtsauffassung des Senats steht der Erlasswürdigkeit der Klägerin insbesondere nicht der Umstand entgegen, dass private Gläubiger (V-AG und X-Bausparkasse), die anders als der Beklagte über Sicherungsrechte bezüglich der Kapitallebensversicherung verfügten, aus der fälligen Versicherungssumme befriedigt worden sind. Hervorzuheben ist insoweit, dass sich die Entscheidungsgrundlage gegenüber dem Zeitpunkt des (Bescheidungs-)Urteils vom 10. März 2016 insofern verändert hat, als dass nunmehr zur Überzeugung des Senats feststeht, dass die Banken, zu deren Gunsten die fällige Lebensversicherungssumme verpfändet bzw. zur Sicherheit abgetreten war, nicht bereit waren, der Klägerin ihre Darlehensschulden (teilweise) zu erlassen. Die Erklärung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, sich erfolglos um einen (Teil-)Erlass bei den Banken bemüht zu haben, ist aus Sicht des Senats glaubhaft. Sie deckt sich mit der Einschätzung des Senats, dass ein voll besicherter privater Gläubiger kaum einen Anreiz hat, auf seine Forderung zu verzichten. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung hält der Senat insbesondere deshalb nicht mehr für erforderlich.

    79

    Es sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin aus anderen Gründen nicht erlasswürdig sein könnte. Dementsprechend war der Ermessenspielraum der Beklagten dahingehend eingeschränkt, dass die Klägerin als erlasswürdig gilt.

    80

    b) Auch das Auswahlermessen der Beklagten bezüglich der Höhe des Erlassbetrags ist auf null reduziert. Ein Teilerlass der Einkommensteuerschuld 2012 kommt aufgrund der Vermögenssituation der Klägerin nicht in Betracht, da nach den Berechnungen des Beklagten, die sich der Senat zu eigen macht, der Klägerin selbst bei einem vollständigen Erlass der Einkommensteuer 2012 kein ausreichender Betrag zur Verfügung steht, um gegen Einmalzahlung eine Leibrente in der zur Existenzsicherung erforderlichen Höhe, d.h. mindestens in Höhe des nach § 850c EStG pfändungsfreien Betrags, zu erwerben. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung der voraussichtlichen Altersrente der Klägerin in Höhe von voraussichtlich 150 € ab 2017, die der Beklagte noch nicht in seine Berechnungen einbezogen hatte.

    81

    II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

    82

    III. Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

    RechtsgebieteAO, EStG 2002, ZPO EStG VZ 2012Vorschriften§ 227 AO, § 20 Abs 1 Nr 6 EStG 2002 vom 31.12.2004, § 5 AO, § 850c ZPO, EStG VZ 2012