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  • 23.08.2011 · IWW-Abrufnummer 112875

    BGH: Urteil vom 20.07.2011 – IV ZR 148/10

    Der Versicherungsnehmer einer Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert kann die Neuwertspanne auch dann verlangen, wenn die tatsächlichen Aufwendungen für die Wiederherstellung des versicherten Gebäudes günstiger als der Neuwert waren.


    Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat
    durch
    die Vorsitzende Richterin Dr. Kessal-Wulf,
    die Richterin Harsdorf-Gebhardt,
    die Richter Dr. Karczewski, Lehmann und
    die Richterin Dr. Brockmöller
    auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juli 2011
    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 16. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 26. November 2009 aufgehoben.

    Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

    Tatbestand

    1

    Die Klägerin verlangt von dem Beklagten aus einer Wohngebäudeversicherung mit gleitender Neuwertklausel den so genannten Neuwertanteil.

    2

    Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Wohngebäude-Versicherungsbedingungen der Beklagten (VGB 88) zugrunde. Zur Neuwertspanne bestimmt § 15 Nr. 4 Satz 1 VGB 88 Folgendes:

    "Der Versicherungsnehmer erwirbt den Anspruch auf Zahlung des Teils der Entschädigung, der den Zeitwertschaden übersteigt, nur, soweit und sobald er innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles sichergestellt hat, dass er die Entschädigung verwenden wird, um versicherte Sachen in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederherzustellen oder wiederzubeschaffen."

    3

    Am 17. Oktober 2003 wurde das versicherte Gebäude durch einen Brand zerstört. Der von dem Beklagten beauftragte Sachverständige veranschlagte den Zeitwertschaden mit 232.931,97 EUR und den Neuwertschaden mit 360.295,03 EUR. Der Beklagte ersetzte der Klägerin 232.111,95 EUR, nicht aber die Differenz zum Neuwert in Höhe von 128.183,08 EUR.

    4

    Die Klägerin baute das Haus wieder auf und erbrachte nach ihrem Vorbringen wesentliche Bauleistungen selbst sowie mit Hilfe von Angehörigen und Nachbarn. Im Erdgeschoss des Gebäudes ist wie vor dem Brand eine Gaststätte eingerichtet; im Obergeschoss befinden sich auf nahezu gleicher Fläche statt der früheren drei Ein-Zimmer-Wohnungen zwei Zwei-Zimmer-Wohnungen. Nach Fertigstellung des Bauvorhabens ermittelte der Gutachter des Beklagten Baukosten von 161.816,67 EUR sowie Aufräum- und Abbruchkosten von 17.097,11 EUR, insgesamt 178.913,78 EUR.

    5

    Der Beklagte lehnt die Zahlung der Neuwertspitze mit der Begründung ab, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die Wiederherstellungskosten den Zeitwert überstiegen. Im Übrigen bleibe der Wiederaufbau nach Art, Qualität und Umfang hinter dem ursprünglichen Gebäude zurück.

    6

    Die Klägerin hat den von ihr geltend gemachten Anspruch auf Zahlung der Neuwertspitze größtenteils an verschiedene Gläubiger abgetreten und klagt die Teilforderungen mit Einverständnis der Zessionare im eigenen Namen ein. Sie trägt vor, der Neubau entspreche nach Art und Zweckbestimmung dem abgebrannten Gebäude. Daher stehe ihr die Neuwertentschädigung zu, ohne dass sie ihre Aufwendungen belegen müsse.

    7

    Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung von insgesamt 128.183,08 EUR nebst Zinsen an die Zessionare und die Klägerin verurteilt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt die Klägerin Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

    Entscheidungsgründe

    8

    Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

    9

    I.

    Dieses hat eine Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung des Neuwertanteils verneint, weil die Klägerin nicht dargelegt und bewiesen habe, dass ihr für den Wiederaufbau Kosten in Höhe des Neuwertschadens entstanden seien. Zwar dürfe der Wiederherstellungsaufwand durchaus niedriger sein als die im Voraus abstrakt berechnete Neuwertentschädigung. Der Versicherungsnehmer könne die Neuwertspitze aber nur verlangen, wenn die Aufwendungen für die Wiederherstellung annähernd dem Neuwertschaden entsprächen.

    10

    II.

    Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

    11

    1.

    Der Versicherungsnehmer einer Wohngebäudeversicherung zum gleitenden Neuwert unter Einbeziehung der VGB 88 kann die Neuwertentschädigung unabhängig davon beanspruchen, ob der tatsächliche Wiederherstellungsaufwand den abstrakt berechneten Neuwertschaden zumindest beinahe erreicht.

    12

    a)

    § 15 Nr. 4 VGB 88 enthält eine so genannte strenge Wiederherstellungsklausel, nach der - gemäß den Anforderungen des § 97 VVG a.F. - die Sicherstellung der Verwendung der Entschädigung zur Wiederherstellung oder Wiederbeschaffung Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf Ersatz des Schadens ist, der über den Zeitwertschaden hinausgeht. Ohne diese Verwendungssicherstellung oder die Wiederherstellung selbst ist der Anspruch auf den Ersatz des Zeitwertschadens beschränkt (Senatsurteile vom 18. Februar 2004 - IV ZR 94/03, VersR 2004, 512 unter II 1 a; vom 13. Dezember 2000 - IV ZR 280/99, VersR 2001, 326 unter I 2 a und b m.w.N.).

    13

    Die Sicherstellung im Streitfall nach den gegebenen Umständen festzustellen, ist Sache des Tatrichters. Sie erfordert eine Prognose in dem Sinne, dass bei vorausschauend-wertender Betrachtungsweise eine bestimmungsgemäße Verwendung der Entschädigung hinreichend sicher angenommen werden kann. Das ist beispielsweise anzunehmen nach verbindlichem Abschluss eines Bauvertrages oder eines Fertighauskaufvertrages mit einem leistungsfähigen Unternehmer (Senatsurteil vom 18. Februar 2004 a.a.O. unter II 1 b m.w.N.). Wurde das zerstörte Gebäude bereits in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederhergestellt, so ist grundsätzlich von einer Verwendung der Entschädigung zur Wiederherstellung auszugehen.

    14

    b)

    § 15 Nr. 4 Satz 1 VGB 88 ist aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers so auszulegen, dass der Versicherer die Neuwertentschädigung hinsichtlich der wiederbeschafften und wiederhergestellten Sachen auch dann zu zahlen hat, wenn die tatsächlichen Aufwendungen günstiger waren als der Neuwert oder sogar den Zeitwert unterschritten (so auch OLG Köln r+s 1994, 146, 147; Staudinger in MünchKomm-VVG § 93 Rn. 17; Armbrüster in Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. § 93 Rn. 21; Kollhosser in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 97 Rn. 10; Langheid in Römer/Langheid, VVG 2. Aufl. § 97 Rn. 18; Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. R IV Rn. 56 ff.; jeweils m.w.N.).

    15

    aa)

    Der durchschnittliche Versicherungsnehmer geht vom Wortlaut der Klausel aus. Danach entsteht der Anspruch auf Zahlung des Teils der Entschädigung, der den Zeitwertschaden übersteigt, nur, soweit und sobald der Versicherungsnehmer innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles sichergestellt hat, dass er die Entschädigung verwenden wird, um versicherte Sachen in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederherzustellen. Die "Sicherstellung" versteht er so, dass der Wille zur Wiederherstellung ernsthaft - etwa durch Vergabe von Bauleistungen - zum Ausdruck kommen muss und daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine bestimmungsgemäße Verwendung der Entschädigung erwartet werden kann (vgl. Senatsurteil vom 18. Februar 2004 a.a.O.). Ob und in welcher Höhe der Anspruch auf Zahlung des den Zeitwertschaden übersteigenden Teils der Entschädigung fällig wird, wenn die zerstörte Sache innerhalb von drei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles bereits wiederhergestellt worden ist, kann der durchschnittliche Versicherungsnehmer nicht dem Wortlaut des § 15 Nr. 4 Satz 1 VGB 88 entnehmen. Dort wird nur die Sicherstellung der Verwendung der Entschädigung, nicht aber die Wiederherstellung erwähnt.

    16

    bb)

    Allerdings wird ein verständiger Versicherungsnehmer annehmen, dass er die Neuwertentschädigung auch dann erhält, wenn er innerhalb der Dreijahresfrist die versicherte Sache in gleicher Art und Zweckbestimmung an der bisherigen Stelle wiederhergestellt hat. Dabei orientiert er sich an dem ihm erkennbaren Zweck der Neuwertversicherung. Mit ihr soll der etwaige Schaden ausgeglichen werden, der dem Versicherungsnehmer dadurch entsteht, dass er einen höheren Betrag als den Zeitwert aufwenden muss, wenn er das zerstörte Gebäude wiederherstellt. Auf diesen tatsächlichen Schaden ist der Umfang des Ersatzanspruches beschränkt. Die Neuwertversicherung soll grundsätzlich nicht auch solche Aufwendungen abdecken, die durch wesentliche Verbesserungen des Gebäudes bei seiner Wiedererrichtung verursacht wurden. Eine derartige Bereicherung des Versicherungsnehmers aus Anlass des Schadenfalles ist zu vermeiden, auch um das Interesse am Abbrennen des versicherten Gebäudes nicht zu fördern. Schon darin, dass der Versicherungsnehmer nach der Wiederherstellung ein neues Gebäude hat, liegt eine Bereicherung, die aber gerechtfertigt ist und deshalb hingenommen werden kann. Zweck der Wiederherstellungsklausel ist es lediglich, die Bereicherung durch die Neuwertentschädigung auf den Teil zu beschränken, der das Bedürfnis für die Neuwertversicherung begründet, also auf die ungeplanten, dem Versicherungsnehmer erst durch den Versicherungsfall aufgezwungenen Ausgaben (Senatsurteil vom 21. Februar 1990 - IV ZR 298/88, VersR 1990, 488 unter 2 m.w.N. zu § 7 Nr. 3 a VGB 62; vgl. Senatsurteil vom 8. Juni 1988 - IVa ZR 100/87, VersR 1988, 925 unter II 1; jeweils m.w.N.). Für den Versicherungsnehmer ersichtlich zielt die Bestimmung auf die Begrenzung des subjektiven Risikos des Versicherers, der davor geschützt werden soll, dass der Versicherungsnehmer - wie bei freier Verwendbarkeit der Versicherungsleistung - in Versuchung geraten könnte, sich durch Vortäuschen eines Versicherungsfalles Vermögensvorteile zu verschaffen (Senatsurteil vom 18. Februar 2004 a.a.O. unter II 1 c m.w.N.; Kollhosser a.a.O. Rn. 8). Diese Gefahr besteht nicht mehr, wenn der Versicherungsnehmer die zerstörte Sache wiederherstellt und damit den Sachwert erhalten hat, der ihm durch die Neuwertentschädigung vergütet werden soll. Allein die Erbringung von Eigenleistungen, die die Baukosten reduzieren, rechtfertigt es aus der Sicht des durchschnittlichen Versicherungsnehmers nicht, ihm die Neuwertentschädigung zu versagen, weil der Zweck der strengen Wiederherstellungsklausel, präventiv Missbrauch zu verhindern und die Versicherungsleistung an den Sachwert zu binden, bereits erreicht ist.

    17

    2.

    Die Sache ist noch nicht zur Entscheidung reif. Das Berufungsgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - nicht festgestellt, ob das von der Klägerin wieder aufgebaute Gebäude nach Art und Zweckbestimmung dem abgebrannten Haus entspricht. Diese Feststellung wird es nachzuholen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass eine Wiederherstellung nur dann angenommen werden kann, wenn das neu errichtete Gebäude etwa dieselbe Größe aufweist wie das zerstörte und gleichartigen Zwecken dient, was allerdings eine modernere Bauweise nicht ausschließt (vgl. Senatsurteile vom 21. Februar 1990 a.a.O.; vom 6. Juni 1984 - IVa ZR 149/82, VersR 1984, 843 unter III m.w.N.).

    Dr. Kessal-Wulf
    Harsdorf-Gebhardt
    Dr. Karczewski
    Lehmann
    Dr. Brockmöller

    Verkündet am: 20. Juli 2011

    Von Rechts wegen

    VorschriftenVGB 88 § 15 Nr. 4 Satz 1