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  • · Fachbeitrag · Gesetzliche Unfallversicherung

    Haftung bei Schulunfällen (§§ 104, 105 SGB VII): Wann greift der Haftungsausschluss?

    von RA Marc O. Melzer, FA für Medizin-, Sozial- und VersR, Bad Lippspringe

    Erleidet ein Schüler in der Schule durch zwei Schläge eines Mitschülers eine schwerwiegende Augenverletzung, kann der Geschädigte vom Schädiger ein Schmerzensgeld verlangen, das den vom Schädiger billigend in Kauf genommenen Verletzungen Rechnung trägt. Weitergehende, vom Vorsatz des Schädigers nicht umfasste Verletzungsfolgen sind bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht zu berücksichtigen (OLG Hamm 8.11.13, I-26 U 31/13, Abruf-Nr. 140850).

     

    Sachverhalt

    Bei einer Rangelei unter Schülern an einer Hauptschule fühlte sich der 14-jährige Beklagte so sehr provoziert, dass ihm die „Sicherungen durchbrannten“. Er drängte den Kläger in eine Ecke und schlug ihm aus reiner Wut zweimal gegen das rechte Auge. Der Kläger erlitt dadurch eine schwere Gehirnerschütterung, eine Orbitalbodenfraktur (Bruch des Augenhöhlenbodens zur Kieferhöhle), eine Contusio bulbi beidseits (Augapfelprellung) und ein ausgeprägtes Hämatom am rechten Auge. Wegen eines eingeklemmten Augenmuskels musste der Kläger operiert und stationär behandelt werden.

     

    Mit der Behauptung, er leide seit dem Vorfall unter Doppelbildern, Einschlafstörungen sowie wiederkehrenden Kopfschmerzen, hat der Kläger u.a. ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 20.000 EUR sowie die Feststellung der Ersatzverpflichtung materieller und immaterieller Schäden verlangt.

     

    Das LG Siegen hat die Strafakte beigezogen und dem Kläger unter Abweisung der weitergehenden Klage ein Schmerzensgeld in Höhe von 500 EUR zugesprochen. Das OLG Hamm hat ihm ein weitergehendes Schmerzensgeld in Höhe von 500 EUR gemäß § 823, § 253 Abs. 2 BGB, § 223 StGB zugesprochen.

     

    Entscheidungsgründe

    Im weitergehenden Umfang scheitern die geltend gemachten Ansprüche an dem Haftungsausschluss der §§ 104, 105 SGB VII.

     

    Es ist unstreitig, dass der Beklagte dem Kläger aus reiner Wut zwei Schläge ins Gesicht versetzt hat. Nach seinen eigenen Angaben vor dem LG fühlte er sich vom Kläger provoziert, hat ihn in eine Ecke gedrängt und zweimal zugeschlagen, weil ihm „die Sicherungen durchgebrannt” sind. Eine vorsätzliche und rechtswidrige Körperverletzung lag mithin vor. Dies reicht aber bei einem Schulunfall wegen der anzuwendenden Vorschriften der §§ 104, 105 SGB VII (BGH VersR 77, 129; VersR 78, 441) nicht aus, um Ersatzansprüche zu begründen. Erforderlich ist vielmehr ein doppelter Vorsatz, der nicht nur die vorsätzliche Handlung, sondern auch die vorsätzlich herbeigeführte Schadensfolge erfordert (BGH VersR 03, 595).

     

    Ebenso wie das LG geht auch der Senat nicht davon aus, dass der Beklagte die hier tatsächlich eingetretene schwere Folge beabsichtigt oder dies auch nur annähernd für möglich gehalten hat. Wegen seiner übergroßen Wut ist der Senat aber durchaus davon überzeugt, dass er dem Kläger ernstlich wehtun wollte und dabei nicht nur das erheblich blaue Auge, sondern auch die Gehirnerschütterung mindestens billigend in Kauf genommen hat. Wer nämlich mit solch einer heftigen Wucht auf den Kopf zuschlägt, weiß auch mit 14 Jahren, dass dies nicht völlig ohne Folgen bleiben wird.

     

    Aufgrund des noch sehr jungen Alters und des entsprechenden Bildungsstands hat der Beklagte aber sicherlich nicht die tatsächlich eingetretene Folge auch nur annähernd vor Augen gehabt. Der Senat hat auch keine Bedenken, für die vorsätzlich zugefügten Verletzungen in Form des blauen Auges und der Gehirnerschütterung ein Schmerzensgeld zuzusprechen; denn es handelt sich dabei nicht um eine unzulässige Aufspaltung eines Schmerzensgeldes, sondern um ein einheitliches Schmerzensgeld für eine bestimmte zurechenbare Folge einer Körperverletzung. Es wäre auch nicht einsichtig, warum der Kläger schlechter gestellt werden sollte als ein Opfer, das bei einer Auseinandersetzung tatsächlich nur diese leichteren Verletzungen erlitten hat und dementsprechend nicht durch den Haftungsausschluss in seinen Ansprüchen begrenzt wird.

     

    Vor diesem Hintergrund hält der Senat ein Schmerzensgeld von 1.000 EUR für angemessen, aber auch ausreichend um den tatsächlich zurechenbaren Teil der Verletzungen zu entschädigen. Dabei ist nämlich auch zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Beklagten um ein Kind handelt, das wirtschaftlich noch nicht auf eigenen Beinen steht und über kein eigenes Einkommen verfügt. Es kommt hinzu, dass eine gewisse Genugtuungsfunktion auch schon über die strafrechtliche Verurteilung eingetreten ist.

     

    Praxishinweis

    An die - sozialrechtliche - Haftungsbeschränkung der §§ 104 ff. SGB VII wird in der Haftpflichtregulierung von Personenschäden oftmals gar nicht oder zu wenig gedacht. Dabei besteht aufgrund der Bindungswirkung (§ 108 Abs. 1 SGB VII) sogar ein weitgehender Vorrang der Sozialgerichtsbarkeit, sodass die Zivilgerichte selbst an inhaltlich unrichtige (unanfechtbare) Entscheidungen des Unfallversicherungsträgers bzw. des Sozialgerichts gebunden sind (BGH NJW 08, 1877).

     

    Der praktisch bedeutsamste Ausschluss betrifft den Anspruch auf Schmerzensgeld wegen eines Personenschadens. Dazu zählen auch die Kosten der Heilbehandlung, der Erwerbsschaden, die zukünftigen materiellen Schäden wegen des Arbeitsunfalls und selbst der Anspruch auf Ersatz der Beerdigungskosten.

     

    In diesen Fällen wird die zivilrechtliche Haftung durch den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung „abgelöst“, d.h. im Versicherungsfall beschränkt § 104 SGB VII die zivilrechtliche Haftung des Unternehmers gegenüber Ansprüchen des Versicherten. Und die §§ 105 bis 107 SGB VII erweitern den Kreis der in ihrer Haftung privilegierten Personen.

     

    Wer Versicherter in der gesetzlichen Unfallversicherung ist, richtet sich nach den §§ 2, 3 und 5 SGB VII. Dazu zählen auch Schüler. Die Einbeziehung der Schüler in die Unfallversicherung soll zum einen den verletzten Schüler schützen, zum anderen aber auch den an der Verletzung schuldigen Mitschüler von seiner zivilrechtlichen Haftung freistellen, um ihn vor unter Umständen langzeitigen finanziellen Belastungen zu bewahren.

     

    Die Haftungsbeschränkung greift nicht bei Wegeunfällen (§ 8 Abs. 2 SGB VII) vom oder zum versicherten Ort. Hier soll - anders als bei Betriebswegen - nicht für das (allgemeine) Verkehrsrisiko des Versicherten gehaftet werden.

     

    Anderseits entfällt die Haftungsbeschränkung, wenn der Schädiger den Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat (§ 104 Abs. 1, § 105 Abs. 1 SGB VII i.V. mit § 106 Abs. 1 Nr. 1 und § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII). Für die sozialrechtliche Entsperrung muss der Vorsatz des Schädigers - anders als bei § 823 BGB - auch den Eintritt und Umfang des Schadens umfassen (BGHZ 75, 328 ff.). Hintergrund ist, dass der Schädiger den Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht schon verlieren soll, wenn er überhaupt eine Verletzungshandlung begangen hat, sondern nur, wenn er mit der Herbeiführung des Unfalls den Schaden in besonders vorwerfbarer Weise angerichtet hat, sodass eine Schadensabnahme durch die Versichertengemeinschaft als nicht mehr vertretbar erscheint. Das ist der Fall, wenn der Schädiger mit dem Eintritt eines größeren Schadens gerechnet und diesen billigend in Kauf genommen hat.

     

    Speziell für den Bereich der Schulunfälle hat der BGH zwar wiederholt entschieden, dass Spielereien und Raufereien von Kindern und Jugendlichen, bei denen die Zufügung von Schmerzen häufig gewollt ist oder zumindest billigend in Kauf genommen wird, zu den typischen durch die Schulsituation bedingten Verhaltensweisen gehören. Die Beteiligten beabsichtigen dabei in der Regel nicht, einander ernsthafte und dauerhafte Verletzungen zuzufügen, zu denen es gleichwohl gelegentlich kommen kann. Die Folgen solch typischer Schulunfälle sollen dem jeweiligen Schädiger aber durch die Unfallversicherung gerade abgenommen werden, nicht zuletzt im Interesse des Schulfriedens und des ungestörten Zusammenlebens von Lehrern und Schülern in der Schule.

     

    Der Senat war hier einerseits davon überzeugt, dass der Kläger dem Beklagten ernstlich wehtun wollte und dabei nicht nur das blaue Auge, sondern auch die Gehirnerschütterung mindestens billigend in Kauf genommen hat. Nach diesen Feststellungen hätte der Senat eigentlich zur weitergehenden Haftung des Beklagten kommen müssen, da die - vom Vorsatz umfasste - Gehirnerschütterung sicherlich keinen kleinen Schaden darstellt. Auf der anderen Seite hätte der Senat die Klage aber auch gänzlich abweisen können. Denn wenn der Beklagte die schweren Folgen gleichzeitig nicht annähernd für möglich hielt, dann lag keinesfalls bedingter Vorsatz vor. So oder so wäre eine höchstrichterliche Entscheidung zur Frage der teilweisen Entsperrung sehr zu begrüßen gewesen.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Zum Vorsatz bei der Verletzung eines Mitschülers: OLG Koblenz r+s 14, 154.
    Quelle: Ausgabe 04 / 2014 | Seite 66 | ID 42571835