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  • · Fachbeitrag · Unfallversicherung

    Das gilt bei der Berücksichtigung von Vorschäden

    von VRiOLG a.D. Werner Lücke, Telgte

    • 1.Die vollständige Versteifung des Handgelenks steht der vollen Gebrauchsuntüchtigkeit gleich.
    • 2.Tragen Vorschäden zum Unfallereignis bei und begründen sie zugleich Vorinvalidität, ist eine doppelte Kürzung der Invalidität vorzunehmen, wobei der Abzug der Vorinvalidität vorrangig ist.
    • 3.Dies gilt auch in den Fällen des erweiterten Unfallbegriffs.

    (OLG Frankfurt a.M. 14.6.13, 7 U 98/12, Abruf-Nr. 133261)

     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    In den Bedingungen zur Unfallversicherung war vereinbart, dass bei der Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk ein Invaliditätsgrad von 70 Prozent anzunehmen war, der ggf. um die Höhe der Vorinvalidität zu kürzen war (wie Nr. 2.1.2.2.3 AUB 2008). Ferner war eine Kürzungsmöglichkeit vereinbart, wenn Krankheiten oder Gebrechen zu mindestens 50 Prozent an dem Unfallereignis oder dessen Folgen mitgewirkt haben (ähnlich Nr. 3 AUB 2008, dort jedoch 25 Prozent). Anfang 2003 hatte sich der VN am rechten Handgelenk verletzt. Der VR erbrachte unter Ablehnung einer Entschädigung eine Kulanzleistung. Ende 2003 hatte sich der VN beim Transport einer überschweren Tür beim Umgreifen erneut die Bänder im rechten Handgelenk abgerissen. Dieses musste deswegen später vollständig versteift werden. Daraufhin hat der VN die für eine Invalidität von 70 Prozent vereinbarte Invaliditätsentschädigung geltend gemacht. Das LG hat die Klage abgewiesen, weil die Invalidität nach Meinung des Sachverständigen 4/10 Handwert betrage. Davon sei die Vorschädigung, eine Bänderschwäche, in Höhe von 1/10 Handwert abzusetzen und der Rest um 50 Prozent zu kürzen, weil dieselbe Bänderschwäche um etwa diesen Betrag zum Unfall beigetragen habe.

     

    Das OLG hat der Berufung teilweise stattgegeben. Das Tragen der Tür sei eine erhöhte Kraftanstrengung i.S. des erweiterten Unfallbegriffs (wie Nr. 1.4 AUB 2008). Dadurch, wenn auch nur im Zusammenwirken mit der vorliegenden Bänderschwäche, ist der Schaden eingetreten. Mitursächlichkeit reiche aus. Nach der BGH-Rechtsprechung (VersR 03, 1163) sei bei dem vollständig versteiften Handgelenk von dem für die vollständige Funktionsuntüchtigkeit des Handgelenks vereinbarten Invaliditätsgrad, hier 70 Prozent, auszugehen.

     

    Hiervon sei vorrangig vor weiteren Kürzungsmöglichkeiten ein Abzug in Höhe von 1/10 Handwert zu machen, weil eine dauerhafte Schwäche der Bänder der Hand vorgelegen habe. Der Sachverständige habe die Vorinvalidität auf 1/10 Handwert eingestuft, was plausibel sei. Der so errechnete Handwert von 9/10 sei um 50 Prozent zu kürzen. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen habe die Degeneration der Bänder bereits vor dem ersten Unfall vorgelegen und zu 50 Prozent zum Zustand nach dem zweiten Unfall beigetragen. Von der sich danach errechnenden Invaliditätsentschädigung sei der [für den ersten Unfall] kulanzweise gezahlte Betrag abzusetzen.

     

    Praxishinweis

    Fehlt es an den Voraussetzungen des Unfallbegriffs, nämlich der dazu erforderlichen Einwirkung von außen, ist bei Schädigungen von Muskeln, Sehnen, Bändern oder Kapseln (nur dann, keine analoge Anwendung auf Knochen oder andere Gewebe!) stets an den erweiterten Unfallbegriff der Nr. 1.4 AUB 2008 zu denken. Bei der dort geforderten erhöhten Kraftanstrengung muss es sich nicht um etwas ganz Außergewöhnliches handeln. Die Anstrengung muss nur über das normale Maß des täglichen Lebens hinausgehen. Dabei ist umstritten, ob dafür die konkrete Konstitution zu berücksichtigen, also ein subjektiver Maßstab anzulegen ist, oder ob es auf den Durchschnittsmenschen ankommt (vgl. Grimm, Unfallversicherung, 5. Aufl., Nr. 1 AUB Rn. 53). Das Anheben und Schleppen einer 200 kg schweren Tür erfüllt die Voraussetzungen von Nr. 1.4 AUB aber in jedem Fall.

     

    Die vom Gericht vorgenommene Gleichstellung der Gelenksversteifung mit der völligen Funktionsuntüchtigkeit der Hand entspricht der ständigen Rechtsprechung auch des BGH (VersR 03, 1163, vgl. auch VK 11, 190), an der dieser trotz gelegentlicher Einwände festhält.

     

    Problematisch sind die vom Gericht vorgenommenen Abzüge.

     

    • Der Abzug wegen Vorinvalidität setzt voraus (Nr. 2.1.2.2.3 AUB), dass die Vorschäden den Invaliditätsbegriff erfüllen. Dieser setzt definitionsgemäß aber unfallbedingt dauerhafte Beeinträchtigungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit voraus (Nr. 2.1.1.1 AUB). Bei Degeneration liegen die Voraussetzungen, weil nicht unfallbedingt, schon von vornherein nicht vor. Dasselbe gilt, wenn die Vorschädigungen noch altersgerecht waren. Die Voraussetzungen für den Abzug muss der VR darlegen und beweisen und dafür auch den Vollbeweis führen (BGH VK 12, 59). Fast immer fehlt es schon an den entsprechenden Darlegungen. Auf diese Zusammenhänge sollte im Prozess unbedingt hingewiesen werden. Hinzuweisen ist auch darauf, dass Vorschädigungen (auch dauerhafte) nicht automatisch Invalidität begründen. Hat der Sachverständige Dauerfolgen festgestellt, bedürfen sie daher stets einer rechtlichen Würdigung.

     

    • Noch bedenklicher ist, wenn das OLG ohne weiteres Nachdenken wegen derselben Bänderschwäche zusätzlich zum Abzug wegen Vorinvalidität auch eine Kürzung entsprechend Nr. 3 AUB 2008 vorgenommen und damit denselben Umstand doppelt berücksichtigt hat. Zum Problem vgl. VK 12, 4, 5.

     

    • Kann eine Kürzung nur bei einem Mitwirkungsanteil von mindestens 50 Prozent vorgenommen werden, muss dies vom VR voll bewiesen werden (BGH VK 12, 59). Weil die Höhe sachverständiger Beurteilung bedarf, sollte stets die mündliche Anhörung des Sachverständigen beantragt werden. Tatsächlich kann ein Mediziner die Höhe des Mitwirkungsanteils nur grob (gering/gleichwertig/überwiegend) einschätzen. Auch wenn er im schriftlichen Gutachten den Mitwirkungsanteil mit 50 Prozent eingeschätzt hat, wird er deshalb auf Befragen einräumen müssen, dass es auch 40 Prozent oder 60 Prozent sein können. Ein Abzug scheidet dann aus. Allerdings ist zu beachten, dass die Grenze in den Musterbedingungen bei 25 Prozent liegt, sodass dort dann die Schwankungsbreite um 25 Prozent liegen muss.

     

    • Für den Mediziner ohne Bedeutung, für die rechtliche Beurteilung aber entscheidend, ist weiterhin, dass ein Abzug über die Erfüllung der Quote hinaus voraussetzt, dass der Vorschaden eine Krankheit oder ein Gebrechen ist. Ein Gebrechen wird als dauernder abnormer Gesundheitszustand definiert, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen (teilweise) nicht mehr zulässt. Demgegenüber sind Zustände, die noch im Rahmen der medizinischen Norm liegen, selbst dann keine Gebrechen, wenn sie eine gewisse Disposition für Gesundheitsstörungen bedeuten (BGH VersR 09, 1525). Dass die Bänderschwäche so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr als altersgerecht bezeichnet werden konnte, und dass der VN auch im normalen Leben (und nicht nur bei Extrembelastungen!) damit nennenswerte Probleme hatte, muss der darlegungs- und beweispflichtige VR dartun. Aufgrund der ihm bedingungsgemäß eingeräumten Prüfungsmöglichkeiten kann er das auch. An solchem Sachvortrag fehlt es fast immer. Weil es oft nicht auffällt, sollten auch diese Zusammenhänge dem Gericht aufgezeigt werden.

     

    • Zudem hätte sich das Gericht fragen müssen, ob in den Fällen des erweiterten Unfallbegriffs unabhängig von den vorstehenden Überlegungen ein derartiger Abzug überhaupt in Betracht kommen kann. Der Versicherungsfall konnte nur eintreten, weil die Bänderschwäche für den eingetretenen Schaden mitursächlich war. Völlig intakte Bänder reißen auch bei größeren Belastungen nicht. Kann der durchschnittliche VN den Bedingungen wirklich entnehmen, dass der zugesagte Versicherungsschutz wegen desselben Umstands, der den Versicherungsfall begründet, wieder weitgehend entzogen werden kann? Das hat das OLG Düsseldorf mit guten Gründen verneint (r+s 05, 168). Hinzu kommt noch, dass nach dem Wortlaut des Kürzungstatbestands Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt haben müssen. Unfallereignis ist definitionsgemäß aber ausschließlich ein plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis. Das typische Merkmal des hier einschlägigen erweiterten Unfallbegriffs liegt aber darin, dass gerade keine von außen kommende Einwirkung vorliegen muss und auch nicht vorliegt und es deshalb auch an einem Unfallereignis fehlt. Nach dem für die Auslegung in erster Linie maßgeblichen Wortlaut der Bestimmung ist deshalb für Fälle des erweiterten Unfallbegriffs ein Kürzungstatbestand gar nicht vereinbart. Der BGH ist aufgerufen, auch diese Frage abschließend zu klären.

     

    • Warum das Gericht von der von ihm errechneten Invaliditätsentschädigung eine für einen anderen Unfall kulanzweise gezahlten Entschädigung abzieht, wird sein Geheimnis bleiben. Ein Grund dafür ist nicht ersichtlich, schon gar nicht, wenn eine etwaige, aus dem ersten Unfall verbliebene, Invalidität, für die die Kulanzleistung möglicherweise gedacht war, schon gem. Nr. 2.1.2.2.3 AUB bei der jetzt zu entschädigenden Invalidität abgezogen worden ist.

     

    Weiterführender Hinweis

    • Vor dem BGH ist unter dem Aktenzeichen IV ZR 238/13 eine Nichtzulassungsbeschwerde anhängig. Es bleibt zu hoffen, dass der BGH die Rechtsfragen entscheiden wird.
    Quelle: Ausgabe 11 / 2013 | Seite 184 | ID 42342223