· Sorgerecht
BVerfG entscheidet in einem grenzüberschreitenden deutsch-dänischen Streit um Kinder

von RiAG Martina Erb-Klünemann, Hamm
| Das BVerfG hat in einem durch die allgemeine Presseberichterstattung bekannten Fall über die mütterliche Verfassungsbeschwerde in einem deutsch-dänischen Sorgerechtsstreit entschieden. |
Sachverhalt
M wandte sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen fünf Entscheidungen des AG und OLG zum Sorgerecht. Aus der Ehe von M und V gingen vier Kinder hervor. Nach der Trennung 2014 lebten alle bei M. Die jüngsten beiden Kinder (geb. 2010 und 2013) hatten ab 2015 Wochenendumgang beim in Dänemark lebenden V. Im März 21 behielt V diese Kinder bei sich. Im September 21 beantragten beide Eltern beim AG jeweils die Alleinsorge (Hauptsacheverfahren). Im Oktober 21 übertrug das OLG M vorläufig das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht und ordnete an, dass V die Kinder herausgeben müsse. Im Dezember 21 lehnte es das dänische AG aufgrund Unzulässigkeit ab, diese Entscheidung zu vollstrecken. Am 17.2.23 wies das dänische AG den Antrag der M ab, die Kinder nach Deutschland zurückzuführen. Ein Rechtsmittel dagegen blieb erfolglos.
Am 17.10.23 erklärte sich das AG für international unzuständig (Beschwerdegegenstand 1.c). Das OLG wies am 30.11.23 darauf hin, dass eine zunächst bestehende Zuständigkeit nach Art. 7 Abs. 1 KSÜ entfallen sei.
Nach einer Entführung von Dänemark nach Deutschland zu Silvester 2023 hielten sich die Kinder kurz bei M auf. Das dänische Gericht übertrug V am 2.1.24 das einstweilige alleinige Sorgerecht.
Am 5.1.24 beschloss das OLG (Beschwerdegegenstand 2.b) auf Antrag des V diesem vorläufig das alleinige Aufenthalts- und Erziehungsrecht zu übertragen sowie die Rückgabe der Kinder anzuordnen.
Am 19.2.24 (Beschwerdegegenstand 2.a) wies das OLG eine von M gerügte mangelnde Anhörung von ihr und den Kindern zurück.
Am selben Tag bestätigte das OLG seine internationale Unzuständigkeit (Beschwerdegegenstand 1.b).
Am 29.5.24 (Beschwerdegegenstand 1.a) verwarf das OLG eine Anhörungsrüge von M gegen seinen Beschluss vom 19.2.24.
Im Sommer 24 wurde in Dänemark ein eigenes sorgerechtliches Hauptsacheverfahren eröffnet, dessen Ausgang offen ist.
M rügte mit ihrer Verfassungsbeschwerde Verletzungen ihres Sorgerechts und des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Das BVerfG hat die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (9.4.25, 1 BvR 1618/24, Abruf-Nr. 248792).
Entscheidungsgründe
Die Verfassungsbeschwerde ist betreffend die Beschwerdegegenstände zu 1c, 2a und 2b unzulässig und betreffend die Beschwerdegegenstände zu 1a und 1b unbegründet.
Durch Beschluss vom 19.2.24 (Beschwerdegegenstand zu 1b) ist das Elterngrundrecht der M tangiert, aber durch die Auslegung und Anwendung des KSÜ nicht verletzt worden. Das BVerfG überprüft nur, ob die Entscheidung Auslegungsfehler aufweist, die darauf beruhen, dass die Bedeutung eines Grundrechts oder dessen Schutzbereich grundsätzlich falsch verstanden wird.
Der vom OLG angewandte Art. 7 Abs. 1b Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern (KSÜ) soll die Zuständigkeitsvorschriften mit Art. 16 HKÜ harmonisieren und zielt darauf ab, zu vermeiden, dass die entführende Partei in Bezug auf die Zuständigkeit einen Vorteil aus der Entführung ziehen kann.
Die Annahme des OLG, der gewöhnliche Aufenthalt sei tatsächlich und nicht normativ zu bestimmen, ist verfassungsrechtlich ebenso unbedenklich wie die nicht vorschnell erscheinende Auffassung, der gewöhnliche Aufenthalt für die zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits zwei Jahre in Dänemark lebenden Kinder habe dorthin gewechselt.
Die Gesamtbewertung einzelner Umstände durch das OLG anhand fachrechtlich anerkannter Kriterien wie das Zeitmoment, intensivierte Bindungen zu V, geregelter Alltag in der neuen Familie, Konstanz des Aufenthaltsorts in Dänemark, zeitnahe Einschulung, Sprachkenntnisse und Kindeswillen genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Die Art und Weise wie das Verfahren geführt wurde, verletzt das Elterngrundrecht der M nicht durchgreifend. Auch wenn es möglicherweise fachrechtlich nicht bedenkenfrei war, die Kinder nicht zu den wichtigen Umständen nach Art. 7 Abs. 1b KSÜ anzuhören, bedeutet dies nicht, dass das Elterngrundrecht grundlegend missachtet wurde.
Die Auslegung von § 68 Abs. 3 S. 1, § 159 Abs. 2 S. 1 FamFG durch das OLG, dass eine Kindesanhörung nicht erforderlich sei, wenn eine Beschwerde wegen des Entfallens der internationalen Zuständigkeit zurückgewiesen werde, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist die kindliche Sichtweise für die Frage des Einlebens i. S. d. Art. 7 Abs. 1b KSÜ nicht bedeutungslos. Das Merkmal des Einlebens weist aber keinen so starken unmittelbaren Bezug zum Kindeswohl auf, als dass die Kindesanhörung verfassungsrechtlich notwendig gewesen wäre. Die vom OLG herbeigezogenen Erkenntnisquellen haben eine noch hinreichend tragfähige Erkenntnisquelle bedeutet. Die Kindesanhörung ist auch aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht als weitergehende Sachverhaltsaufklärung geboten gewesen.
Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG vom 29.5.24 (Beschwerdegegenstand zu 1.a) ist unbegründet, da kein eigenständiger, nicht über die bloße Nichtheilung hinausgehender Gehörsverstoß vorliegt. Es ist nicht ersichtlich, dass das OLG erhebliches Vorbringen der M übergangen hat.
Die gegen den Beschluss des AG vom 17.10.23 (Beschwerdegegenstand zu 1.c) und gegen die Beschlüsse des OLG vom 5.1.24 und 19.2.24 (Beschwerdegegenstände zu 2.b und 2.a) gerichtete Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis weder ausgeführt noch ersichtlich ist.
Der amtsgerichtliche Beschluss (Beschwerdegegenstand zu 1.c ‒ internationale Zuständigkeit des AG) ist vollumfänglich eigenständig durch das OLG geprüft worden.
Die einstweilige Entscheidung von 5.1.24 (Beschwerdegegenstand zu 2.b) ist entweder mit Entscheidung vom 19.2.24 nach § 56 Abs. 2 Nr. 2 FamFG außer Kraft getreten oder, wenn sie nach § 64 Abs. 3 FamFG erlassen worden sein sollte, mit Abschluss des Beschwerdeverfahrens. Ferner tritt die auf Art. 11 Abs. 1 KSÜ gestützte Entscheidung nach Art. 11 Abs. 2 KSÜ außer Kraft, sobald im eigentlich zuständigen Vertragsstaat eine Maßnahme getroffen ist. Dies kann erst recht gelten, wenn wie hier schon zuvor durch das dänische Gericht am 2.1.24 eine einstweilige Maßnahme angeordnet worden ist.
Da der Zuständigkeitsgrund des Art. 11 Abs. 1 KSÜ nicht gegeben war, ist die deutsche Entscheidung in Dänemark nach Art. 23 Abs. 2a KSÜ nicht anzuerkennen. Spätestens mit Beendigung des dänischen Sorgerechtsverfahrens, zu dem die M hätte vortragen müssen, tritt die Entscheidung des OLG vom 5.1.24 außer Kraft. Betreffend Anordnung von Herausgabe und unmittelbarem Zwang ist kein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis nach freiwilliger Herausgabe der Kinder vorgetragen.
Betreffend die Entscheidung vom 19.2.24 (Beschwerdegegenstand zu 2.a) ist keine eigenständige Beschwer dargetan, da auch insoweit nicht die Notwendigkeit ersichtlich ist, Anhörungen durchzuführen.
Relevanz für die Praxis
Befindet sich der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes in einem KSÜ-Vertragsstaat, der nicht auch Mitgliedstaat der vorrangig geltenden Brüssel IIb-VO ist („sonstiger Vertragsstaat“), regelt sich die internationale Zuständigkeit nach KSÜ, § 97 Abs. 1 FamFG, Art. 97 Abs. 1a Brüssel IIb-VO.
Gleiches gilt, wenn im laufenden Verfahren, in dem ein hiesiges Gericht wegen gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland nach Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO zuständig ist, der gewöhnliche Aufenthalt in einen sonstigen KSÜ-Vertragsstaat wie Dänemark wechselt. Anders als Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO, für den der Zeitpunkt der Antragstellung entscheidend ist, stellt Art. 5 Abs. 1 KSÜ auf den Entscheidungszeitpunkt ab.
Das BVerfG macht deutlich, dass es kein „Superbeschwerdegericht“ ist. Es greift nur bei Grundrechtsverletzungen ein. Nicht jede verfahrensrechtliche Verletzung ist mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar.