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  • · Fachbeitrag · Kontrovers

    Ein Plädoyer dafür, auf rechtswidrige Inobhutnahmen zu verzichten

    Stv. Gruppenleitung Juliane Prinz, M. A., M. M., Mülheim an der Ruhr, und Richter am AG Jan Prinz, LL. M., Bottrop

    | Praktizierende der unterschiedlichen Disziplinen im Familienrecht werden sicher der These zustimmen, dass die bundesweite Familiengerichts- und Jugendhilfelandschaft sehr heterogen damit umgeht, kurzfristig Kinder aus dem Haushalt der personensorgeberechtigten Kindeseltern herauszunehmen. Bemerkenswert ist dies, weil die in Betracht kommenden Regelungen aus BGB, FamFG und SGB VIII bundesweit einheitlich gelten. Dieser Befund ist Anlass, in einem professionsübergreifenden Diskurs eine rechtmäßige und praktikable Herangehensweise aufzuzeigen. |

     

    Richter am Amtsgericht Jan Prinz: In der Praxis wird der Umgang mit „Inobhutnahme“-Situationen bundesweit unterschiedlich gehandhabt. Es gibt Bezirke, in denen zu den Tagesdienstzeiten des Familiengerichts (FamG) regelmäßig eine einstweilige Anordnung in einem Kinderschutzverfahren gem. § 1666 BGB erwirkt wird. In diesen Fällen wird der Minderjährige kurzfristig durch einen bestellten Vormund oder Ergänzungspfleger umplatziert. In anderen Bezirken hingegen führt das Jugendamt (JA) regelmäßig die Fremdunterbringung im Rahmen einer Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII durch. Anschließend wird das FamG darüber informiert. Beide Vorgehensweisen sind gleichermaßen anzutreffen. Es besteht der ‒ nicht ohne Weiteres belegbare ‒ Eindruck, dass die Fälle der originären Exekutiventscheidungen die Fälle der gerichtlichen Entscheidungen überwiegen.

     

    Anknüpfungspunkt ist dabei § 42 Abs. 1 Nr. 2b) SGB VIII. Danach ist das JA berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für dessen Wohl die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Dies gilt vor dem Hintergrund des § 42 Abs. 1 Nr. 2a) SGB VIII indes nur in den Fällen, in denen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht widersprechen.

     

    Voraussetzung dafür, dass die Inobhutnahme rechtmäßig ist, ist Folgendes: Neben der tatbestandlichen Kindeswohlgefährdung darf insbesondere eine Entscheidung des FamG nicht rechtzeitig einholbar sein.

     

    MERKE | Der Gesetzgeber hat in § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b) SGB VIII ausdrücklich einen Richtervorbehalt normiert. Die behördliche Inobhutnahme ist somit nachrangig gegenüber einer gerichtlichen Entscheidung.

     

    Hieran dürfte es indes in der Praxis regelmäßig fehlen. Denn zunächst setzt die Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme damit einen tatsächlichen Kontaktaufnahmeversuch zum FamG voraus. Bloße ‒ wenngleich sogar: erfahrungsbasierte ‒ Mutmaßungen des JA, das FamG sei nicht erreichbar und/oder würde eine Entscheidung nicht rechtzeitig treffen, werden diesem Maßstab demgegenüber nicht gerecht (beckOGK/C. Schmidt, § 42 SGB VIII, Rn. 36).

     

    Das Kinderschutzverfahren ist ein Amtsverfahren, § 24 FamFG. Sobald das FamG informiert wurde, was auch formlos, z. B. telefonisch, erfolgen kann, liegt es in der Organisationshoheit und Einschätzungsverantwortung des FamG, erforderlichenfalls rechtzeitig eine Entscheidung zu erlassen. Dabei muss es insbesondere auch den (ggf. unmittelbaren) Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 49 FamFG erwägen, ohne dass das JA dies besonders beantragen müsste. Insbesondere kommt eine rechtmäßige Inobhutnahme nicht allein deshalb in Betracht, weil das FamG die Sache aus der Sicht des JA nicht im erforderlichen Maße beschleunigt behandelt oder zu Unrecht einen gerichtlichen Eingriff gänzlich ablehnt (beckOGK/C. Schmidt, § 42 SGB VIII, Rn. 35).

     

    Eine Inobhutnahme i. S. d. § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b) SGB VIII scheidet damit regelmäßig aus, sofern ein Richter oder eine Richterin des zuständigen AG, einschließlich des richterlichen Bereitschaftsdiensts, dienstbereit ist (OVG Berlin-Brandenburg NJW 17, 1974, 1975; OVG Münster NZFam 21, 1120; beckOGK/C. Schmidt, § 42 SGB VIII, Rn. 36).

     

    MERKE | Dem FamG kommt nicht die Entscheidungskompetenz dafür zu, zu prüfen, ob Inobhutnahme-Verwaltungsakte rechtmäßig sind. Dies wäre ggf. in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu prüfen. Für die familiengerichtliche Arbeit ist es indes bedeutsam, wie das JA kurzfristige Fremdunterbringungen handhabt. Verantwortungsbewusste FamGe würden ein einmal durch das JA umplatziertes Kind, von dem sie erst im Nachgang zur Inobhutnahme erführen, voraussichtlich nur in Ausnahmefällen im Rahmen einer einstweiligen Herausgabeanordnung unmittelbar wieder in den elterlichen Haushalt zurückführen lassen, wenn sie nach Prüfung der Sache (noch) keine familiengerichtlichen Maßnahmen, die auf eine Fremdunterbringung ausgerichtet sind, angeordnet hätten. Auch deshalb ist es unerlässlich, dass auf der lokalen Ebene handhabbare Absprachen zur Organisation von Arbeitsabläufen bei JA und FamG getroffen werden.

     

    Stv. Gruppenleitung Juliane Prinz: Das FamG muss für das JA tatsächlich erreichbar sein, egal ob im Tages- oder im Bereitschaftsdienst, damit das JA seine Pflichten unter Wahrung der rechtlichen Grenzen des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b) SGB VIII ordnungsgemäß wahrnehmen kann. Die öffentliche Jugendhilfe macht in unterschiedlichen Gerichtsbezirken die Erfahrung, dass das FamG kein Interesse daran hat, die Verantwortung für die kurzfristige Fremdunterbringung zu übernehmen, und stattdessen bereitwillig dem JA zurückmeldet, dass keine Bedenken gegen ein Tätigwerden des JA im Rahmen der Inobhutnahme bestünden, sollte das Gericht überhaupt verlässlich erreicht werden können. Die dort unterstellte Dispositionshoheit kommt allerdings nach zutreffender rechtlicher Bewertung weder dem FamG noch dem JA zu (OVG Schleswig BeckRS 2023, 33798).

     

    Allerdings haftet das praktische ‒ und mittelbar auch das rechtliche ‒ Risiko in Fällen der Unerreichbarkeit oder der (ggf. rechtswidrigen) Untätigkeit des FamG den Fachkräften des JA an. Sofern das Gericht nicht erreichbar ist, mag man zwar in jugendhilferechtlicher Hinsicht noch zu dem hinnehmbaren Ergebnis einer rechtmäßigen Inobhutnahme gem. § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b) SGB VIII gelangen. Denn eine familiengerichtliche Entscheidung ist in diesem Fall für das JA tatsächlich nicht rechtzeitig, z. B. bis zum Abend des Tages der Meldungsüberprüfung gem. § 8a SGB VIII, zu erlangen. Es ist aber unbefriedigend, das JA auf eine nach dem Willen des Gesetzgebers nur nachrangig eingeräumte Kompetenz zurückzuwerfen. Problematisch ist darüber hinaus auch eine ausbleibende Rückmeldung des FamG, ob und ggf. innerhalb welches Zeitraums eine dort eingegangene Mitteilung des JA bearbeitet werden wird. Denn die Fachkräfte des JA tragen jedenfalls bis zu dieser Rückmeldung die rechtliche Verantwortung für den Schutz des betroffenen Kindes.

     

    Das VG Hannover geht sogar von Folgendem aus: Auch wenn das Gericht keine sorgerechtliche (Zwischen-)Entscheidung treffen sollte und gerichtlicherseits von Maßnahmen gem. § 1666 BGB absehen würde, wäre das JA gehindert, eine Inobhutnahme durchzuführen. Es liege in der alleinigen Verantwortung des FamG, über den vorläufigen weiteren Verbleib der Kinder eine sofortige Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung, wie immer sie ausfiele, hätte das JA im Folgenden hinzunehmen und wäre nicht berechtigt, eine aus seiner Sicht fachlich falsche Entscheidung des FamG mittels einer unmittelbar anschließenden Inobhutnahme zu überspielen (NZFam 23, 524).

     

    Deshalb kann das Plädoyer für die Vereinbarung von Routinen durch JA und FamG auf der lokalen Ebene kaum genügend unterstrichen werden. Das setzt freilich voraus, dass sowohl JÄ als auch Gerichte dazu bereit sein müssen, ihre Handhabung zu verändern. Das FamG muss künftig auch kurzfristig für die Prüfung von kinderschutzrechtlichen Sachverhalten zur Verfügung stehen.

     

    Stv. Gruppenleitung Juliane Prinz und Richter Am aG Jan Prinz: Die vorstehenden Überlegungen sind nicht neu. Dennoch sollten sie dazu führen, dass JÄ und Gerichte umdenken. Ziel ist es, die Vorgehensweise bei kurzfristigen Fremdunterbringungen gegen den Willen der Kindeseltern anzupassen.

     

    Impulsgeber kann unseres Erachtens die familienrechtliche Fachanwaltschaft sein. Eine hohe Eigenmotivation bei JÄ und FamGen ist i. d. R. nicht zu erwarten. Anreize gibt es allenfalls bei FamGen, die den Kinderschutzfall „aus einer Hand“ steuern möchten. Einige JÄ begrüßen es, die Verantwortung auf ein unabhängiges Gericht zu verlagern. Die Praxis der nachträglichen Information an das FamG resultiert aus opportunen Erwägungen: Das JA kann kurzfristig ohne Kontrolle handeln; das FamG erspart sich Eilentscheidungen. Die von einer kurzfristigen Fremdunterbringung betroffenen Kindeseltern sind oft nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, da ihnen die Kapazitäten zur Organisation des Lebens fehlen. Den Kampf im Zusammenhang mit § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2b) SGB VIII zu führen, ist ihnen nicht zuzumuten.

     

    Fachanwälte im Familienrecht befassen sich häufig mit Fällen rechtswidriger Inobhutnahmen im Rahmen von Kinderschutzverfahren. Parallel zum familiengerichtlichen Verfahren kann verwaltungsrechtlicher Rechtsschutz gesucht werden. Entscheidungen (OVG Berlin-Brandenburg NJW 17, 1974, 1975; OVG Münster NZFam 21, 1120; OVG Schleswig BeckRS 2023, 33798; VG Hannover NZFam 23, 524) zeigen, dass VGe bei fehlender Information an das FamG die Rechtswidrigkeit im Rahmen von Fortsetzungsfeststellungsanträgen feststellen. Dieser Widerstand gegen rechtswidrige Verwaltungspraxis kann ein wichtiger Baustein für Veränderung sein, da erwartet wird, dass sich die Verwaltung an gerichtlichen Entscheidungen orientiert.

     

    PRAXISTIPP | Ein „Best Practice“-Erfahrungsbericht zeigt, dass bilaterale Absprachen zwischen dem örtlichen Jugendamt, das gem. § 87 S. 1 SGB VIII für Inobhutnahmen im eigenen Bezirk zuständig ist, und dem örtlichen FamG über Arbeitsabläufe bei Hinweisen auf eine dringende Gefahr für das Wohl eines dort aufhältigen Kindes Erfolg versprechend sind. Diese Absprachen können nach den ersten Anwendungsfällen möglicherweise mit geringem Nachsteuerungsaufwand angepasst werden.

     

    Die Fachkräfte im JA können schon aus dem veröffentlichten Geschäftsverteilungsplan die für einstweilige Maßnahmen im konkreten Fall zuständige Gerichtsperson erkennen. Dies kann durch eine Verteilung der Geschäfte, orientiert am Nachnamen der betroffenen Minderjährigen, oder ‒ etwa beim Turnussystem ‒ durch eine konkret ausgeführte Eilzuständigkeit (wie auch, jedenfalls bei größeren Gerichten, i. d. R. im Bereich der Ermittlungsrichtergeschäfte praktiziert) erfolgen.

     

    Sodann muss sichergestellt werden, dass die betreffende Gerichtsperson, jedenfalls über Vermittlung durch die Geschäftsstelle, für das JA tatsächlich erreichbar ist. Das bedeutet insbesondere auch, dass dem JA die Kontaktdaten des richterlichen Bereitschaftsdienstes mitgeteilt werden müssen.

     

    In der Folge kann von den dortigen Fachkräften erwartet werden, dass diese dem Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt schriftlich, in besonders eiligen Situationen jedenfalls aber mündlich, schildern. Das JA ist nicht verpflichtet, das FamG schriftlich zu informieren. Dies folgt aus der Amtsermittlungspflicht des Gerichts aus § 26 FamFG und dem geltenden Freibeweisgrundsatz, § 29 FamFG (vgl. Ernst, JAmt 24, 392, 398). Damit ist ‒ im Ausgangspunkt ‒ bereits alles Erforderliche für eine rechtmäßige Handhabung getan.

     

    Sodann ist es die Aufgabe des FamG, erforderlichenfalls unmittelbar eine einstweilige Anordnung zu erlassen, die ‒ auch sofern das Gericht das Fehlen der Voraussetzungen des § 1666 BGB feststellt ‒ eine Inobhutnahme durch das JA in rechtlicher Hinsicht „sperrt“. Die Einlassung einzelner Richterinnen und Richter, über einstweilige Anordnungen kurzfristig nicht entscheiden zu können, und die Verweisung des JA auf seine (vermeintliche) Eilbefugnis sind daher, sofern sie ‒ wie mancherorts ‒ ausnahmslos erfolgen, unhaltbar. Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle aus guten Gründen einen Richtervorbehalt kodifiziert. Gerichte, die die Verantwortung prinzipiell wieder auf das JA zurückverweisen und dabei in Kauf nehmen, dass im Leben der Minderjährigen Fakten geschaffen werden, die nicht mehr zu revertieren sind, setzen sich dabei jedenfalls dem Verdacht dienstpflichtwidrigen Verhaltens aus.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Ernst, FamRZ 17, 1120
    • Köhler, ZKJ 19, 12
    • Meysen, NZFam 16, 580
    Quelle: Ausgabe 11 / 2025 | Seite 195 | ID 50492973