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Cerebral schwerst geschädigte Kinder nicht länger vom Blindengeld ausgeschlossen
| Der 9. Senat des BSG hat entschieden, dass auch schwerst Hirngeschädigte, die nicht sehen können, Anspruch auf Blindengeld haben. Anders als bisher entschieden, ist hierfür nicht mehr erforderlich, dass ihre Beeinträchtigung des Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt ist als die Beeinträchtigung sonstiger Sinneswahrnehmungen wie z.B. Hören oder Tasten (sog. spezifische Störung des Sehvermögens; BSG B 9 BL 1/14 R). |
Der heute 10-jährige Kläger (K) erlitt bei seiner Geburt (2005) wegen einer Minderversorgung mit Sauerstoff schwerste Hirnschäden, die u.a. zu einer schweren mentalen Retardierung mit Intelligenzminderung geführt haben. Der Entwicklungsstand des K entspricht nur dem eines ein- bis viermonatigen Säuglings. Seine kognitive Wahrnehmungsfähigkeit ist im Bereich aller Sinnesmodalitäten stark eingeschränkt. U.a. verfügt der K nur über basale visuelle Fähigkeiten, die unterhalb der Blindheitsschwelle liegen. Der K kann - mit anderen Worten - nicht sehen. Die Mutter (M) des K beantragte 2006 für ihn Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz. Der Freistaat Bayern lehnte den Antrag ab. Zwar liege beim K eine schwerste Hirnschädigung vor, jedoch sei das Sehvermögen nicht wesentlich stärker beeinträchtigt als die übrigen Sinnesmodalitäten. Dies aber sei nach der Rechtsprechung des BSG zur sog. cerebralen Blindheit Voraussetzung für die Gewährung von Blindengeld. Das LSG hat dies bestätigt.
Der 9. Senat des BSG, der für den Nachweis einer schweren Störung des Sehvermögens bisher verlangt hatte, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten, hat seine Rechtsprechung aufgegeben und dem K Blindengeld zugesprochen. Wie inzwischen zahlreiche Entscheidungen der Instanzgerichte, darunter diejenigen über den Anspruch des K, zeigen, lässt sich gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Kindern kaum eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch verlässlich feststellen. Diesbezüglich hat sich das Kriterium der spezifischen Sehstörung als unpraktikabel erwiesen. Es erhöht das Risiko von Zufallsergebnissen. Vor allem aber sieht der 9. Senat unter dem Aspekt der Gleichbehandlung behinderter Menschen vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG) materiell-rechtlich keine Rechtfertigung mehr für dieses zusätzliche Erfordernis. Es gibt keinen hinreichenden sachlichen Grund dafür, dass zwar derjenige Blindengeld erhalten soll, der „nur“ blind ist, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung des Tastsinns oder sonstiger Sinnesorgane vorliegt, bei dem aber nicht von einer deutlich stärkeren Betroffenheit des Sehvermögens gegenüber der Betroffenheit sonstiger Sinnesorgane gesprochen werden kann.
Das in den Materialien des Bayerischen Landesgesetzgebers zum Ausdruck kommende Anliegen, dass Störungen aus dem seelisch/geistigen Bereich nicht zu einem Blindengeldanspruch führen sollen, kann die Ungleichbehandlung schwer cerebral geschädigter Behinderter nicht begründen. Auch in den Fällen, in denen neben dem fehlenden Sehvermögen weitere oder alle Sinnesorgane schwer geschädigt sind, ändert dies nichts daran, dass der Betroffene sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht blind ist. Insbesondere stellt die Erwägung, dass derjenige, der wegen schwerster cerebraler Schäden zu keiner oder so gut wie keinen Sinneswahrnehmungen fähig ist, des Blindengeldes nicht bedürfe, weil behinderungsbedingte Mehraufwendungen ohnehin nicht ausgeglichen werden könnten, keinen solchen sachlichen Grund dar. Denn das Blindengeld wird derzeit ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf pauschal gezahlt. Dabei ist gerade Sinn und Zweck der Pauschale, bei festgestellter Schädigung auf die Ermittlung des konkreten Mehrbedarfs sowie einer konkreten Ausgleichsfähigkeit zu verzichten.
Quelle: Pressemitteilung des BSG Nr. 19/15