02.11.2010
Finanzgericht Sachsen-Anhalt: Urteil vom 06.05.2010 – 5 K 98/08
1. Hat der Sachbearbeiter bei der Bearbeitung der Einkommensteuererklärung nachgewiesene Lohnersatzleistungen zwar in den Eingabebogen übernommen, jedoch versehentlich nicht in die EDV eingegeben, liegt eine einem Schreibfehler oder Rechenfehler ähnliche Unrichtigkeit vor.
2. Eine auf § 129 S. 1 AO gestützte nachträgliche Berücksichtigung des Progressionsvorbehalts ist dennoch ausgeschlossen, da der Fehler bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts nicht für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar, mithin nicht „offenbar” i. S. d. Berichtigungsnorm ist.
3. Die Prüfung der gespeicherten Daten mag bei einer „papierlosen Akte” ausreichend sein. So lange jedoch noch Akten in Papierform geführt werden und zur Feststellung eines evtl. Erfassungsfehlers ein Abgleich des Akteninhalts mit dem EDV-Speicher erforderlich wird, kann nicht von einer „offenbaren” Unrichtigkeit ausgegangen werden.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
hat das Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt – 5. Senat – aufgrund mündlicher Verhandlung vom 6. Mai 2010 durch die Richterin am Finanzgericht Dr. Waterkamp-Faupel als Vorsitzende, den Richter am Finanzgericht Dr. Amler, den Richter am Finanzgericht Keilig, die ehrenamtliche Richterin … und die ehrenamtliche Richterin …
für Recht erkannt:
Der Einkommensteuerbescheid 2005 vom 26. September 2007 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2007 werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 nach § 129 Abgabenordnung (AO).
Am 06. Juni 2006 ging beim Beklagten die „vereinfachte Einkommensteuererklärung für Arbeitnehmer” 2005 der Klägerin ein. Eine Bescheinigung über erhaltene Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld) in Höhe von 10.764 EUR lag der Erklärung bei.
Die Sachbearbeiterin ergänzte handschriftlich im Erklärungsvordruck unter Sachbereich 47 in Kennziffer 120 „10764” und vor der Kennziffer 120 „lag vor”. Im Einkommensteuerbescheid 2005 vom 25. August 2006 wurden die erhaltenen Lohnersatzleistungen dagegen nicht berücksichtigt und die Einkommensteuer auf 1.720 EUR (Solidaritätszuschlag 0 EUR) festgesetzt.
Im Rahmen der Bearbeitung eines Einspruchsverfahrens gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2006 stellte der Beklagte fest, dass die Lohnersatzleistungen 2005 nicht berücksichtigt worden waren. Infolgedessen änderte er mit Bescheid vom 26. September 2007 die festgesetzte Einkommensteuer nach § 129 AO auf nunmehr 2.795 EUR (Solidaritätszuschlag 79,86 EUR, Zinsen zur Einkommensteuer 31 EUR) ab. Der Bescheid trägt die Hinweise, dass er nach § 129 AO berichtigt wurde und dass die Änderung hinsichtlich der erklärten Lohnersatzleistungen erfolgt sei. Die nunmehr festgesetzte Einkommensteuer berücksichtigte die erhaltenen Lohnersatzleistungen unter Einbeziehung der Tarifprogression nach § 32 b Abs. 1 Ziffer 1 a Einkommensteuergesetz (EStG).
Gegen diesen Bescheid richtete sich der Einspruch der Klägerin vom 30. September 2007, eingegangen am 02. Oktober 2007. Die Klägerin stimmte einer Änderung zu ihren Ungunsten nicht zu, vertrat die Ansicht, dass offensichtliche Schreib- und Rechenfehler nicht vorliegen würden und gab an, auf den bestandskräftigen Steuerbescheid vertraut zu haben. Die Unrichtigkeit des Steuerbescheides sei für sie auch nicht offenbar gewesen, da sie aus dem Steuerbescheid nicht ersichtlich gewesen sei. Die Änderung sei auch nicht ihr anzulasten, da sie die vollständigen Unterlagen eingereicht habe. Die erstatteten Steuern seien zwischenzeitlich verbraucht worden.
Mit Einspruchsbescheid vom 11. Dezember 2007 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück und führte aus, dass die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, nach § 129 AO jederzeit berichtigen könne. Eine Änderung nach den §§ 172 ff. AO komme nicht in Betracht. Die Änderung nach § 129 AO sei auch bei einem bestandskräftigen Bescheid möglich, soweit die Festsetzungsfrist nach §§ 239 Abs. 1 Satz 3, 169 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AO noch nicht abgelaufen sei. Durch das nachträgliche Eintragen des Betrages der Lohnersatzleistungen sei die Willensbildung der Sachbearbeiterin erkennbar geworden. Mit dem Nachtrag sollte der Betrag in die Steuerfestsetzung einfließen. Die nachfolgende Nichterfassung sei ein mechanisches Versehen gewesen, das berichtigt werden könne. Im Streitfall liege auch kein Rechtsirrtum, ein Denkfehler oder eine unvollständige Sachverhaltsaufklärung oder Sachverhaltswürdigung seitens der Sachbearbeiterin vor. Die Nichterfassung sei bei Offenlegung des Fehlers und des aktenkundigen Sachverhaltes für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar. Aus dem Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung gegenüber allen Steuerpflichtigen folge, dass das Ermessen insoweit vorgeprägt sei, dass ein offenbar unrichtiger Bescheid keinen Bestandsschutz verdiene und mithin der Bescheid zu ändern gewesen sei.
Am 27. Dezember 2007 hat die Klägerin die Klage beim Beklagten angebracht. Sie ist der Ansicht, dass eine offenbare Unrichtigkeit nicht gegeben sei und bestreitet, dass die Sachbearbeiterin die Lohnersatzleistung nicht ordnungsgemäß in die EDV übernommen habe. Sie geht vielmehr davon aus, dass die Sachbearbeiterin aufgrund der Steuerfreiheit der Einnahmen bewusst eine Übernahme der Einkünfte unterlassen habe und somit ein Rechtsirrtum vorliege, der nicht nach § 129 AO berichtigt werden könne.
Selbst wenn die Erfassung in die EDV lediglich versehentlich nicht erfolgt sei, sei dies für die Klägerin, die insgesamt ihren Erklärungspflichten nachgekommen sei, nicht erkennbar gewesen. Es müsse insoweit auch auf ihre Erkenntnisse und auf das ausgelöste Vertrauen abgestellt werden. Die steuerfreien Einnahmen seien als solche auch nicht aus dem Steuerbescheid zu erkennen, sondern lediglich durch einen Verweis auf einen etwaigen Progressionsvorbehalt ersichtlich.
Zur Klärung dürfte die Zeugeneinvernahme der Sachbearbeiterin erforderlich sein, dies habe aber zur Folge, dass dann bereits nicht mehr von einer „offenbaren” Unrichtigkeit ausgegangen werden könne (vgl. BGH, Urteil vom 12.01.1984, III ZR 95/82, NJW 1985, 742).
Die Klägerin beantragt,
den Einkommensteuerbescheid für 2005 vom 26. September 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen und
die Revision zuzulassen.
Der Beklagte ist demgegenüber der Ansicht, dass kein Rechtsirrtum vorgelegen habe, da andernfalls die Sachbearbeiterin die erhaltenen Lohnersatzleistungen nicht in den Erklärungsvordruck übernommen hätte. Lediglich bei der elektronischen Erfassung sei der Eintrag versehentlich nicht mit übernommen worden. Es liege im Streitfall ein Übernahmefehler und damit ein rein mechanisches Versehen des Sachbearbeiters des Finanzamtes vor. Solche Fehler gehörten grundsätzlich zu den offenbaren Unrichtigkeiten.
Die Unrichtigkeit sei auch aus dem Steuerbescheid selbst erkennbar. Insoweit genüge die Offenbarkeit der Unrichtigkeit als solche, nicht dagegen sei es erforderlich, dass für den Steuerpflichtigen auch an der Stelle des unrichtigen der zu setzende richtige Inhalt des Bescheides offenbar sein muss. Offenbar sei das, was für alle Beteiligten durchschaubar, erkennbar, eindeutig oder augenfällig sei. Maßgeblich sei hierfür der Akteninhalt.
Die Berufung auf § 129 AO sei auch nicht unter Vertrauensschutzgründen rechtsmissbräuchlich. Auch wenn die Vorschrift eine Kann-Bestimmung enthalte, gebiete es das Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, erkannte Fehler zu berichtigen. Der materiellen Gerechtigkeit (Gleichmäßigkeit der Besteuerung) ist Vorrang vor der Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) einzuräumen.
Dem Senat hat die Einkommensteuerakte 2005 des Beklagten nebst Einspruchsvorgang vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 vom 25. August 2006 durch Änderungsbescheid vom 26. September 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2007 verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
Der Ausgangsbescheid konnte nicht nach § 129 AO geändert werden, da keine offenbare Unrichtigkeit im Sinne von § 129 Satz 1 AO vorgelegen hat.
Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Als ähnliche offenbare Unrichtigkeiten werden solche Fehler angesehen, die in einem sonstigen mechanischen – zumal unbewusstem, gedankenlos-gewohnheitsmäßigem, unwillkürlichem Vertun bestehen – wie Übersehen, Vergreifen, falsches Ablesen, falschen Übertragen, Verwechseln, Vertauschen o.ä. Das Vertun pflegt auf Unachtsamkeit, Flüchtigkeit, Gedankenlosigkeit, Abgelenktheit o.ä. zu beruhen (vgl. Tipke in Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung, 107. Lieferung, Juli 2005, § 129 Rz. 12). Davon werden als den Schreib- und Rechenfehlern nicht ähnlich abgehoben fehlerhafte Vorgänge aus dem Bereich des Denkens, Überlegens, Schlussfolgerns, Urteilens, wie die fehlerhafte Sachverhaltsermittlung und die fehlerhafte Gesetzesanwendung. Wenn auch nur die Möglichkeit eines Sach- und Rechtsirrtums besteht, wird § 129 AO nicht angewendet (vgl. Tipke in Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung, 107. Lieferung, Juli 2005, § 129 Rz. 13 m.w.N. aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung).
Der Senat ist der Überzeugung, dass ein Sach- oder Rechtsirrtum hinsichtlich der Nichtberücksichtigung der Lohnersatzleistungen im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung ausgeschlossen ist. Veranlagungsbeamten ist der Progressionsvorbehalt bekannt und die ausdrückliche Ergänzung der erhaltenen (dem Grunde nach steuerfreien) Lohnersatzleistungen im Erklärungsvordruck unter Sachbereich 47 Kennziffer 120 lässt eindeutig darauf schließen, dass diese von der Sachbearbeiterin erfasst werden sollten. Der Senat hält daher auch die Vernehmung der Sachbearbeiterin als Zeugin für entbehrlich. Es spricht daher alles für einen versehentlichen Erfassungsfehler, der grundsätzlich unter § 129 AO einzuordnen ist (vgl. Tipke, a.a.O., § 129 Rz. 12).
Der Senat ist jedoch der Ansicht, dass dieser Erfassungsfehler nicht „offenbar” im Sinne des § 129 Satz 1 AO ist. Der Beklagte definiert – der Rechtsprechung des BFH folgend – „offenbar” dahingehend, dass offenbar sei, was für alle Beteiligten durchschaubar, erkennbar, eindeutig, augenfällig, auf der Hand liegend sei (vgl. z.B. BFH Urteil vom 29.01.2003, I R 20/02, BFH/NV 2003, 1139; Urteil vom 11.07.2007, XI R 17/05, BFH/NV 2007, 1810) und dass insoweit auf den Akteninhalt abgestellt werden müsse. Dies habe seinen Hintergrund in der ausdrücklichen Formulierung des § 129 Satz 1 „Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler oder ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.” (vgl. auch Tipke, a.a.O., § 129 Rz. 5; BFH Urteil vom 31.03.1987, VIII R 46/83, BStBl. II 1987, 588 m.w.N.). Der Fehler muss für den Bescheidadressaten nicht unmittelbar aus dem fehlerhaften Bescheid selbst zu entnehmen sein, es kommt entscheidend auf die Umstände bei der Entscheidungsfindung und demzufolge vornehmlich auf den Akteninhalt an (vgl. BFH Urteil vom 11.07.2007, a.a.O.). Maßgeblich ist deshalb, ob der Fehler bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhaltes für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist.
Hieran hat der Senat erhebliche Zweifel. Ein Sachverhalt ist nicht offenbar, wenn weitere Prüfungen erforderlich werden bzw. wenn der Fehler nicht ohne weiteres nach Aktenlage erkennbar ist. Aus dem Ausgangsbescheid vom 25. August 2006 ist nicht zu entnehmen, ob und ggf. inwieweit die Lohnersatzleistungen in die Festsetzungen einbezogen worden sind. Der Bescheid ist insoweit weder durchschaubar, noch wird die Nichterfassung erkennbar und augenfällig. Der Aktenausfertigung ist auch kein Eingabeprotokoll beigefügt, aus dem die Eintragungen (oder Nichteintragungen) in den einzelnen Sachbereichen und Kennziffern ablesbar wäre, so dass aus dem reinen Akteninhalt nicht auf die fehlende Erfassung geschlossen werden kann. Es sind insoweit weitere – zum Teil rechtliche – Überlegungen anzustellen bzw. es müsste ein zusätzlicher Abgleich mit den in der EDV gespeicherten Daten erfolgen. Dann ist der Fehler aber nicht mehr „offenbar”.
Die Prüfung der gespeicherten Daten mag bei einer „papierlosen Akte” ausreichend sein. So lange jedoch noch Akten in Papierform geführt werden und zur Feststellung eines evtl. Erfassungsfehlers ein Abgleich des Akteninhaltes mit dem EDV-Speicher erforderlich wird, kann nach Ansicht des Senats nicht mehr von einer „offenbaren” Unrichtigkeit ausgegangen werden.
Selbst aus dem Änderungsbescheid vom 26. September 2007 wird nicht offensichtlich, in welcher Höhe die Lohnersatzleistungen einbezogen worden sind. Auch dieser Aktenausfertigung ist kein Eingabeprotokoll beigefügt. Es wird in den Erläuterungen lediglich angegeben, dass die Änderung „hinsichtlich der von Ihnen in Ihrer Steuererklärung erklärten Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld)” erfolgt sei. Ob die Lohnersatzleistungen tatsächlich in richtiger Höhe erfasst worden sind, ist dem Änderungsbescheid an sich nicht zu entnehmen und damit auch nicht „offenbar”. Nirgends – auch nicht in den Erläuterungen – wird angegeben, in welcher Höhe Lohnersatzleistungen in die Veranlagung eingeflossen sind. Die Bezugnahme auf die Steuererklärung (die gerade keinen Eintrag hinsichtlich der Lohnersatzleistungen durch die Klägerin enthält) schließt eine ggf. fehlerhafte Erfassung der Zahlungen nicht aus. Die einzige Angabe, die einen Hinweis auf weitere verarbeitete Erfassungsdaten erkennen lässt, ist bei der Berechnung der Steuer der Hinweis „zu versteuern mit Progressionsvorbehalt” und die Angabe eines Prozentsatzes. Ob dieser Prozentsatz richtig ist, ist so ohne weiteres nicht feststellbar. Hierbei dürfte es sich – zumindest im Streitjahr – um ein grundsätzliches Problem handeln, da die Überprüfung solcher Bescheide für (normale) Steuerbürger ohne PC-Steuerprogramme (fast) unmöglich ist und sich auch nicht ohne weiteres aus dem Gesetz erschließt. Die Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer nach den §§ 32 a und b EStG erfordert umfangreiche mathematische Berechnungen, wie sich auch aus den entsprechenden Programmierungsschritten für die EDV-Programme ergibt (vgl. z.B. Programmablaufplan Lohnsteuertabellen 2009, BMF-Schreiben vom 09.12.2008, IV C 5 – S 2361/08/10003, BStBl. I 2008, 1060; für 2005: BMF-Schreiben vom 22.10.2004, I A 5 – Vw 7216 – 8/04/IV C 5 – S 2361 – 95/04, BStBl I. 2004, 975). Erforderlich wäre die (hier fehlende) Angabe der tatsächlich erfassten Lohnersatzleistungen nach Art und Höhe. Andernfalls wäre es auch für einen unvoreingenommenen Dritten nicht möglich, nur anhand der Aktenausfertigung bzw. des Akteninhaltes die korrekte Erfassung aller Eingabedaten zu überprüfen.
Lediglich aus der Protokollierung der Eingabedaten in der Probeberechnung (vgl. Einkommensteuerakte Bl. 18) ergibt sich unter Sachbereich 47 Kennziffer 120 die Eingabe von 10764. Da die festgesetzte Einkommensteuer im Änderungsbescheid der in der Probeberechnung entspricht, kann davon ausgegangen werden, dass auch im Änderungsbescheid die gleichen Daten wie in der Probeberechnung in die Steuerberechnungen eingeflossen sind. Muss jedoch bei der Überprüfung von Eingabedaten auf weitere Probeberechnungen und diesbezügliche Aktenausfertigungen zurückgegriffen werden, kann dies grundsätzlich schon nicht mehr augenfällig, auf der Hand liegend oder aus sich heraus offen zu Tage tretend sein, so dass es an einer Offenbarkeit fehlt.
Insoweit muss sich nach Ansicht des Senats die Überprüfung des Akteninhaltes auf sofort verfügbare Daten und Akteninhalte beschränken. Die Anfertigung einer Probeberechnung, die Auswertung von Datenspeichern oder der Abgleich von Daten der Vor- und Folgejahre steht einer „offenbaren” Unrichtigkeit entgegen. Es kann insoweit nur auf das Veranlagungsjahr selbst abgestellt werden (vgl. so auch FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2006 – 1 K 212/02, EFG 2006, 859; anders FG Hamburg, Urteil vom 05.05.2008 – 6 K 24/05, Haufe-Index 2017596).
Nur Steuerpflichtige, die in den Vorjahren vergleichbare Sachverhalte hatten, könnten demnach aus dem ersten Bescheid erkennen, dass dieser unvollständig ist. Dies dürfte jedoch sogar erfahrenen Steuerpflichtigen schwierig fallen, wenn die Steuerbescheide keine weiteren Angaben zu den erfassten (steuerfreien) Beträgen enthalten. Das gleiche gilt auch für unvoreingenommene Dritte, die anhand des Akteninhaltes eine Überprüfung der Steuerbescheide vornehmen sollen. Hinzu kommt, dass insoweit der Abgleich von Steuer- und Eingabedaten mehrerer Jahre (Vorjahre, Veranlagungsjahr, Folgejahre) erforderlich wäre. Dies ist jedoch zu weitgehend, da es sich dann nicht mehr um eine „offenbare” Unrichtigkeit handeln kann.
Dass das Ganze nicht „offenbar” war, wird auch daran erkennbar, dass der Beklagte nicht von sich aus den Fehler entdeckt hat, sondern erst im Einspruchsverfahren für das Folgejahr von der Klägerin selbst darauf aufmerksam gemacht wurde.
Da der Aktenausfertigung des Ausgangsbescheides keine Eingabedaten beigefügt waren, hätte das Erkennen des Erfassungsfehlers erfordert, dass bei einer Überprüfung des Streitfalles sowohl ein Abgleich aller erfassten Daten mit dem Erklärungsvordruck erfolgt wäre, als auch dass die nachträglichen Ergänzungen überprüft werden. Hierbei hätte zudem noch (gleichsam im Hintergrund) eine rechtliche Wertung erfolgen müssen, dass die steuerfreien Einkünfte die Tarifprogression auslösen und die Kenntnis vorhanden sein müssen, dass dies im Steuerbescheid (nur) anhand des geänderten Tarifsatzes erkennbar ist. Solche Schritte sind jedoch nicht mehr „offenbar”, sondern setzen rechtliche Überlegungen zu einem komplizierten und nicht einfachen Sachverhalt voraus. Setzt die Ermittlung der Tarifprogression umfassende Sachverhaltsermittlungen und rechtliche Würdigungen voraus, kann sich diese Unrichtigkeit gerade nicht ohne weiteres aus der Erklärung, den Anlagen oder der Akte ergeben. Damit ist die Unrichtigkeit nicht mehr „offenbar”.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zugelassen. Die Klärung des Umfanges einer ggf. erforderlichen Überprüfung des Akteninhaltes und weiterer Unterlagen oder gespeicherter Dateien hinsichtlich der Frage, was noch „offenbar” im Sinne des § 129 Satz 1 AO ist, hat grundsätzliche Bedeutung. Zudem weicht der Senat mit seiner Entscheidung vom Urteil des Finanzgerichtes Hamburg vom 05. Mai 2008 – 6 K 24/05, Haufe-Index 2017596 ab, welches bei Überprüfung eines offenbaren Fehlers im Sinne des § 129 AO sogar einen Abgleich mit Steuererklärungen vorangegangener Jahre (im dortigen Streitfall bei der Veranlagung 2001 Behandlung von Freibeträgen im Jahr 1997) als zulässig ansieht.