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  • 14.12.2023 · IWW-Abrufnummer 238720

    Oberverwaltungsgericht Niedersachsen: Urteil vom 14.09.2023 – 2 LA 39/23

    Keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 Abs. 1 VwGO), wenn die Versäumung der Frist auf einem Organisationsverschulden der Anwaltskanzlei - hier der fehlenden Eintragung einer Vorfrist im Fristenkalender - beruht.

    Auch ein Rechtsanwalt, der ganz oder teilweise "papierlos" arbeitet, muss im Zuge der Büroorganisation sicherstellen, dass bei Rechtsmittelbegründungsfristen, zusätzliche Vorfristen zuverlässig notiert und überwacht werden, und dass er bei Ablauf der Vorfrist umfassende Kenntnis von der Rechtsmittelsache erhält.


    Oberverwaltungsgericht Niedersachsen 

    Beschluss vom 14.09.2023


    Tenor:

    Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 12. Kammer - vom 26. April 2023 wird verworfen.

    Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zulassungsverfahren auf 15.000 EUR festgesetzt.

    Gründe

    Der Antrag des Antragstellers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 26. April 2023 ist als unzulässig zu verwerfen, weil er nicht fristgerecht begründet worden ist und der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der versäumten Begründungsfrist keinen Erfolg hat.

    1. Wird die Berufung - wie hier - nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Das vollständige Urteil des Verwaltungsgerichts ist - ausweislich des Empfangsbekenntnisses - am 2. Mai 2023 dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt worden. Die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags ist damit am Montag, 3. Juli 2023, abgelaufen (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1, 2 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB). Innerhalb dieser Frist ist eine Begründung des Zulassungsantrags beim Oberverwaltungsgericht nicht eingegangen, sondern erst am 12. Juli 2023 und mithin verspätet.

    2. Der am 12. Juli 2023 wegen der Versäumung der Begründungsfrist gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO hat keinen Erfolg. Zwar ist danach auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn die- oder derjenige ohne Verschulden verhindert war eine gesetzliche Frist einzuhalten; die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Der Antragsteller hat keine Tatsachen glaubhaft gemacht, nach denen sein Prozessbevollmächtigter, dessen Verschulden er sich nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, ohne Verschulden an der Einhaltung der gesetzlichen Begründungsfrist verhindert war. Ein Verschulden im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen wird, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (stRspr. BVerwG, vgl. Beschl. v. 5.12.2016 - 6 B 17.16 -, juris Rn. 16 und v. 29.6. 2016 - 2 B 18.15 -, juris Rn. 11 m.w.N.).

    Der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hat zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen der Büroangestellten E. und F. vom 11. Juli 2023 vorgetragen, die Fristversäumnis beruhe allein auf dem Versehen seiner bis dahin stets zuverlässigen Kanzleiangestellten E.. Diese habe am Tag des Eingangs des Urteils des Verwaltungsgerichts über das besondere Anwaltspostfach (beA) die Posteingänge bearbeitet und sei auch für die Notierung der Fristen im elektronischen Fristenkalender der Kanzlei zuständig gewesen. In dem Fristenkalender habe sie dann für den 2. Juni 2023 eine Frist mit dem Vermerk "Berufungseinlegung" und für den 3. Juli 2023 eine Frist mit dem Vermerk "Berufungsbegründung" eingetragen. Bei Durchsicht des Posteingangs habe der Prozessbevollmächtigte am selben Tag die falsche Notierung festgestellt und die Angestellte E. angewiesen, den Fristenkalender zu korrigieren. Er habe ihr erklärt, dass richtigerweise "Antrag auf Zulassung der Berufung" und sodann "Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung" zu notieren sei. Die im Übrigen stets zuverlässige und gewissenhaft arbeitende Mitarbeiterin habe diese Anweisung aber nicht ausgeführt. In der Folgezeit sei die Frist zur "Berufungseinlegung" aufgelaufen und die für ihn zuständige Sekretärin F. habe nach der Besprechung der Fristen festgestellt, dass eine Berufungseinlegung nicht möglich sei, sondern ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt werden müsse. Sie habe daher den Schriftsatz zur Einlegung der Berufung in einen Antrag auf Zulassung der Berufung geändert und diesen dem Prozessbevollmächtigten zur Signierung vorgelegt. Seine Sekretärin habe ihn dabei nicht auf die falsch notierte Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung hingewiesen. Auch am Morgen des 3. Juli 2023 habe die Sekretärin die Fristen mit ihm besprochen. Im Fristenkalender sei für diesen Tag für die vorliegende Sache die "Berufungsbegründung" notiert gewesen. Weil er eine Berufungsbegründung noch nicht erstellt gehabt habe, sei besprochen worden Fristverlängerung zu beantragen. Sowohl der Prozessbevollmächtigte als auch seine Sekretärin seien aufgrund der falsch notierten und nicht berichtigten Frist davon ausgegangen, dass eine Berufungsbegründung zu erstellen gewesen sei. Entgegen der Anweisung in der Kanzlei und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit habe die Sekretärin, bei der es sich um eine geschulte und zuverlässige Rechtsfachwirtin handele, die in den vergangenen vier Jahren stets fehlerlos und sorgfältig gearbeitet habe, eine nochmalige Prüfung des Urteils nicht vorgenommen. Hätte sie dies getan, hätte sie erkannt, dass die gesetzliche Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nicht verlängert werden könne.

    Mit diesem Vortrag hat der Prozessbevollmächtigte nicht - wie erforderlich - innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO schlüssig dargelegt, dass er selbst die Versäumung der gesetzlichen Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nicht verschuldet hat. Vielmehr ist seinem Vorbringen zu entnehmen, dass er die Fristversäumung durch eine unzureichende und sorgfaltswidrige Büroorganisation, insbesondere im Zusammenhang mit der Führung des Fristenkalenders und der Sicherstellung der rechtzeitigen Fertigung der Rechtsmittelbegründung, selbst verschuldet hat.

    a) Zwar kann ein Rechtsanwalt die Berechnung üblicher und in seiner Praxis häufig vorkommender Fristen sowie die Führung eines Fristenkalenders seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen (stRspr. BGH, vgl. z.B. Beschl. v. 6.7.1994 - VIII ZB 26/94 -, juris Rn. 6 m.w.N.), er muss dann aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür Sorge tragen, dass Fristversäumnisse möglichst vermieden werden. Hierzu gehört nach feststehender Rechtsprechung die allgemeine Anordnung, dass jedenfalls bei solchen Prozesshandlungen, deren Vornahme ihrer Art nach mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, wie dies regelmäßig bei Rechtsmittelbegründungen der Fall ist, außer dem Datum des Fristablaufes auch noch eine sogenannte Vorfrist zu notieren ist, die angemessene Zeit vor Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist endet, und dem Rechtsanwalt beim Ablauf dieser Vorfrist auch die Handakte vorgelegt wird (stRspr. BVerwG, vgl. z.B. Beschl. v. 21.2.2009 - 2 B 6.08 -, juris Leitsatz 2 u. Rn. 8; stRspr. BGH, vgl. z.B. Urt. v. 19.11.1976 - IV ZR 36/76 -, juris Leitsatz 2. u. Rn. 14 ff., Beschl. v. 9.6.1994 - I ZB 5/94 -, juris Rn. 10 und v. 6.7.1994 - VIII ZB 26/94 -, juris Leitsatz u. Rn. 6). Auch ein Rechtsanwalt, der ganz oder teilweise "papierlos" arbeitet, muss sicherstellen, dass Fristen, bei Rechtsmittelbegründungsfristen zusätzlich geeignete Vorfristen, zuverlässig notiert und überwacht werden und er bei Ablauf der Vorfrist umfassende Kenntnis von der Rechtsmittelsache erhält. Dies kann gegebenenfalls auch durch geeignete elektronische Vorkehrungen geschehen (BVerwG, Beschl. v. 21.2.2009 - 2 B 6.08 -, juris Leitsatz 3 u. Rn.9)

    Entgegen diesen Sorgfaltsanforderungen ist dem Wiedereinsetzungsantrag zu entnehmen, dass die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten so organisiert ist, dass in dem elektronischen Fristenkalender jeweils lediglich der Tag des Fristablaufs sowohl für die Einlegung eines Rechtsmittels als auch für dessen Begründung und keine Vorfristen notiert sind. Zudem wurden die Fristen, auch im Fall von gesetzlichen Begründungsfristen, jeweils erst am Tag des Fristablaufs und (nur) anhand des Fristenkalenders, d.h. ohne Hinzuziehung der Akte und Prüfung des Aufwandes, besprochen.

    Hätte der Prozessbevollmächtigte sein Büro, entsprechend der ihm obliegenden Sorgfaltspflicht, so organisiert bzw. seine Büroangestellten dahingehend angewiesen, dass bei Prozesshandlungen, deren Vornahme - wie im Falle der Berufungsbegründung und der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung - mehr als nur einen geringen Aufwand an Zeit und Mühe erfordern, zusätzlich zu dem Datum des Fristablaufs auch die gebotene Vorfrist zu notieren und mit dieser Vorfrist auch die Akte vorzulegen ist, so hätte er bereits zum Zeitpunkt der Vorfrist anhand der Akte und der Rechtsmittelbelehrung des Urteils des Verwaltungsgericht erkennen können, dass es sich in der Sache um einen Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 4 VwGO handelt, dessen Begründungsfrist anders als im Falle der Berufungsbegründungsfrist (§ 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO) nicht verlängert werden kann.

    b) Dessen ungeachtet hat der Prozessbevollmächtigte die Versäumung der Frist auch deshalb verschuldet, weil er es unterlassen hat, sich nochmals selbst davon zu überzeugen, dass die Büroangestellte seiner mündlichen Anweisung, in den Fristenkalender neben der jeweiligen (zutreffenden) Frist die Anmerkung "Antrag auf Zulassung der Berufung" und "Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung" aufzunehmen, nachgekommen ist. Zu einer entsprechenden Kontrolle bestand hier gerade infolge der im Vorfeld aufgetretenen und dem Prozessbevollmächtigten bekannt gewordenen Fehler des Fristkalenders in besonderer Weise Anlass.

    Eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt braucht zwar nicht grundsätzlich die Erledigung jeder konkreten Einzelanweisung zu überwachen (vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1991 - VII ZB 4/91 -, juris Rn. 9). Im Allgemeinen kann er zudem darauf vertrauen, dass eine sonst zuverlässige Büroangestellte auch mündliche Weisungen richtig befolgt. Wenn aber ein so wichtiger Vorgang wie die Anweisung zur Korrektur eines im Fristenkalender falsch eingetragenen Rechtmittels nur mündlich vermittelt wird, müssen in der Rechtsanwaltskanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die mündliche Anweisung in Vergessenheit gerät und die Eintragung des richtigen Rechtsmittels unterbleibt (vgl. zur mündlichen Anweisung, eine falsche Berufungsbegründungsfrist zu korrigieren BGH, Beschl. v. 10.10.1991 - VII ZB 4/91 -, juris Rn. 9, Beschl. v. 17.9. 2002 - VI ZR 419/01 -, juris Rn. 7 m.w.N. und v. 5.11.2002 - VI ZR 399/01 -, juris Rn. 10). Wenn ein so wichtiger Vorgang nur mündlich vermittelt wird, dann bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel (vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1991 - VII ZB 4/91 -, a.a.O.).

    c) Dem Prozessbevollmächtigten selbst hätte schließlich spätestens bei der Fristenbesprechung mit der Büroangestellten F. am 2. Juni 2023 und der ihm bzw. seiner Vertreterin im Anschluss zur Unterzeichnung vorgelegten Antragsschrift auffallen müssen, dass es sich in der Sache um einen den Anforderungen der §§ 124 Abs. 2, 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unterliegenden Antrag auf Zulassung der Berufung handelt, bei dem die Begründungsfrist nicht verlängert werden kann. Denn obwohl er die Büroangestellte F. im Zuge der Fristenbesprechung angewiesen hatte, in der Sache einen Schriftsatz zur Einlegung der Berufung zu fertigen und ihm zur Unterzeichnung vorzulegen, hat diese einen Antrag auf Zulassung der Berufung entworfen und ihm bzw. seiner Vertreterin diesen mit dem erstinstanzlichen Urteil zur Unterzeichnung vorgelegt.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

    Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG. In Verfahren, in denen es um das Bestehen oder Nichtbestehen einer - wie hier - den Berufszugang eröffnenden abschließenden (Staats-)Prüfung geht, setzt der Senat in ständiger Rechtsprechung den Streitwert unter Berücksichtigung von Nr. 36.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013) im Regelfall mit 15.000 Euro fest (vgl. Senatsbeschl. v. 30.10.2017 - 2 OA 1615/17 -, juris Rn. 2 ff.).

    Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

    RechtsgebietProzessrecht Vorschriften§ 60 Abs. 1 VwGO