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  • 19.01.2021 · IWW-Abrufnummer 219985

    Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg: Beschluss vom 09.11.2020 – 12 S 1982/20

    Auch im Kinder- und Jugendhilferecht kommt eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist der Begründung des Zulassungsantrags grundsätzlich nicht in Betracht, wenn der Prozessbevollmächtigte keine Vorfrist notieren lässt.


    Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg

    Beschluss vom 09.11.2020


    In der Verwaltungsrechtssache
    - Kläger -
    - Antragsteller -
    prozessbevollmächtigt:
    gegen
    Landkreis Emmendingen,
    vertreten durch den Landrat,
    Bahnhofstraße 2 - 4, 79312 Emmendingen, Az:
    - Beklagter -
    - Antragsgegner -

    wegen Eingliederungshilfe (Schulbegleitung)
    hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

    hat der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg am 9. November 2020 beschlossen:

    Tenor:

    Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 20. Mai 2020 - 4 K 1423/19 - wird abgelehnt.

    Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

    Gründe

    Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig. Die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags ist versäumt worden. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der versäumten Frist liegen nicht vor.

    Das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 20.05.2020 ist mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 03.06.2020 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden. Damit lief die Frist für die Einlegung des Antrags auf Zulassung der Berufung von einem Monat (§ 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO) am 03.07.2020 ab (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 und 2 ZPO sowie § 188 Abs. 2 BGB). Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat den Antrag auf Zulassung der Berufung auch fristgemäß am 03.07.2020 beim Verwaltungsgericht gestellt.

    Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist der Antrag auf Zulassung der Berufung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Ausgehend von der am 03.06.2020 erfolgten Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils hätte die Begründung am 03.08.2020 dem Verwaltungsgerichtshof vorliegen müssen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Begründung jedoch erst am 04.08.2020 und damit verspätet eingereicht.

    Dem auf den richterlichen Hinweis vom 05.08.2020 rechtzeitig innerhalb eines Monats (§ 60 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO) gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (zur Monatsfrist bei Versäumung der Rechtsmittelbegründungsfrist Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 60 Rn. 33) kann nicht entsprochen werden. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung der Frist für die Zulassungsbegründung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht unverschuldet gewesen.

    Verschuldet ist ein Fristversäumnis dann, wenn der Betroffene nicht die Sorgfalt hat walten lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (BVerwG, Beschluss vom 28.06.2019 - 8 PKH 3/19 -, juris Rn. 13; Urteil vom 08.03.1983 - 1 C 34.80 -, juris Rn. 19). Ein Beteiligter muss sich dabei ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), denn die Vorschrift des § 85 Abs. 2 ZPO, wonach das Verschulden des Prozessbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleichsteht, ist auch in verwaltungsgerichtlichen Verfahren anzuwenden (BVerwG, Beschlüsse vom 20.07.2016 - 6 B 35.16 -, juris Rn. 6, und vom 11.01.2012 - 9 B 55.11 -, juris Rn. 1; BVerfG, Beschluss vom 20.04.1982 - 2 BvL 26/81 -, BVerfGE 60, 253, 266 ff.). Das Verschulden von "Hilfspersonen" des Anwalts muss sich ein Beteiligter mangels einer Zurechnungsnorm dagegen regelmäßig nicht zurechnen lassen. Allerdings kann den Rechtsanwalt ein eigenes Verschulden treffen, wenn die Organisation seines Büros mangelhaft ist oder er die "Hilfspersonen" nicht mit der erforderlichen Sorgfalt auswählt, überwacht oder anleitet (v. Albedyll in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/v. Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 60 Rn. 10).

    Die Prozessbevollmächtigte des Klägers trägt zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags mit Schriftsatz vom 03.09.2020 im Wesentlichen vor, die Fristenkontrolle sei in der Kanzlei durch mündliche und zusätzlich schriftliche Arbeitsanweisung wie folgt geregelt: Bei Eingang der Post müsse die dafür zuständige Rechtsanwaltsfachangestellte die Frist auf dem Schreiben handschriftlich und rot notieren und vermerken, dass diese in den Fristenkalender eingetragen sei. Es werde das Fristende im Kalender ebenfalls rot notiert. Der zuständige Rechtsanwalt erhalte die Akte samt Eingangspost und prüfe die auf dem Schreiben notierten Fristenden. Die Fachangestellte trage die Fristen in den Kalender ein und lege die Akte spätestens am Morgen des letzten Tages vor Fristende dem Rechtsanwalt zur Bearbeitung vor. Die Frist dürfe erst aus dem Kalender ausgetragen werden, wenn die Frist erledigt und ein Schreiben frühzeitig zur Post gegebenen oder per Fax versandt worden sei. Der jeweilige Rechtsanwalt prüfe den Fristenkalender zusätzlich jeden Tag, um die erledigten oder noch ausstehenden Fristen zu erkennen. Im vorliegenden Fall habe die Mitarbeiterin sämtliche Fristen auf dem eingegangenen Urteil in roter Farbe korrekt vermerkt. Sie als Rechtsanwältin habe die Fristen geprüft und festgestellt, dass der 03.08.2020 zur Einreichung der Begründung korrekt errechnet sei. Tatsächlich habe die Mitarbeiterin die erste Frist (Einlegung des Rechtsmittels) im Kalender korrekt notiert, habe aber die zweite Frist (Einreichung der Begründung) versehentlich am 04.08.2020 in den Kalender eingetragen und nicht bereits an 03.08.2020. Sie sei irrtümlich im Kalender um einen Tag verrutscht und habe ihr Versehen nicht bemerkt. Dementsprechend sei die Akte ihr als Rechtsanwältin erst am Morgen des 04.08.2020 mit dem Hinweis "Fristablauf heute" vorgelegt worden. Die Begründungsschrift sei sodann erstellt und am selben Tag per Fax übersandt worden. Dabei sei ihr das Versehen der Mitarbeiterin im Kalender und damit in der Übertragung an sie leider nicht aufgefallen. Da der Termin auch im Kalender erst unter dem "04.08.2020" gestanden habe, habe sie auch dort keine Abweichung erkennen können. Die Mitarbeiterin sei fertig ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte und seit drei Jahren in der Kanzlei tätig. Bisher seien ihr keine derartigen Fehler unterlaufen.

    Dieses Vorbringen gebietet keinen Anlass, dem Wiedereinsetzungsantrag zu entsprechen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die ihr abverlangten Sorgfaltspflichten nicht eingehalten. Dies folgt schon daraus, dass sich aus ihrem Vortrag kein Anhalt dafür ergibt, dass die im vorliegenden Fall erforderliche Notierung einer Vorfrist zur Erstellung der Begründung für die Zulassung der Berufung durch allgemeine organisatorische Anweisung oder durch eine konkrete Einzelanweisung gewährleistet gewesen wäre. Ob auch aus anderen Gründen eine Verletzung der anwaltlichen Sorgfaltspflicht vorliegen würde, bedarf keiner Entscheidung.

    Bei der Überwachung und Berechnung von Fristen muss der Anwalt besondere Sorgfalt walten lassen (näher BVerwG, Beschluss vom 17.04.2013 - 6 P 9.12 -, NJW 2013, 1617). Es gehört zu den Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts in Fristsachen, den Betrieb seiner Anwaltskanzlei so zu organisieren, dass fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig gefertigt werden und vor Fristablauf beim zuständigen Gericht eingehen. Dem Bundesverwaltungsgericht zufolge ist es gefestigte Rechtsprechung, dass zur ordnungsgemäßen Organisation einer Anwaltskanzlei die allgemeine Anordnung gehört, bei Rechtsmittelbegründungen außer dem Datum des Fristablaufs eine Vorfrist von grundsätzlich etwa einer Woche zu notieren. Die Vorfrist dient dem Zweck, dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zu ermöglichen, sich rechtzeitig auf die vorstehende Fertigung der Rechtsmittelbegründung einzustellen und den für die Bearbeitung der Rechtsmittelbegründung erforderlichen Zeitraum zu gewährleisten (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.04.2019 - 2 B 1.19 -, juris Rn. 11 m.w.N, und vom 21.02.2008 - 2 B 6.08 -, juris Rn. 8; siehe auch BGH, Beschluss vom 23.09.2020 - IV ZB 18/20 -, juris Rn. 9 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 06.12.2017 - 1 S 1484/17 -, juris Rn. 24, und vom 02.08.2006 - 4 S 2288/05 -, juris Rn. 6; OVG Sachsen, Beschluss vom 29.05.2017 - 3 A 139/17 -, juris Rn. 6; Czybulka/Kluckert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 72; Ewer in: Quaas/Zuck/Funke-Kaiser, Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Aufl. 2018, § 7 Rn. 32). Durch die Vorfrist wird sichergestellt, dass auch für den Fall von Unregelmäßigkeiten und Zwischenfällen noch eine ausreichende Überprüfungs- und Bearbeitungszeit bis zum Ablauf der zu wahrenden Frist verbleibt. Die Eintragung einer Vorfrist bietet somit eine zusätzliche Fristensicherung. Sie kann die Fristwahrung in der Regel selbst dann gewährleisten, wenn die Eintragung einer Rechtsmittelbegründungsfrist versehentlich unterblieben oder unzutreffend erfolgt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 20.11.2018 - XI ZB 31/17 -, juris Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 21.02.2008 - 2 B 6.08 -, juris Rn. 11).

    Innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist - und auch danach - ist nicht vorgetragen worden, dass die Prozessbevollmächtigte die in der Kanzlei für das Fristenwesen verantwortlichen Mitarbeiter angewiesen hätte, bei Rechtsmittelbegründungen außer dem Datum des Ablaufs der Begründungsfrist eine Vorfrist zu notieren. Es bestand für den Senat auch keine Pflicht darauf hinzuweisen, dass die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs sich nicht zur Vorfrist verhält. Die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Kontrolle einer Begründungsfrist stellt, sind bekannt und müssen einem Anwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein. Tragen die zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags gemachten Angaben diesen Anforderungen nicht Rechnung, gibt dies keinen Hinweis auf Unklarheiten oder Lücken des Vortrags, die aufzuklären oder zu füllen wären, sondern erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2017 - 1 S 1484/17 -, juris Rn. 25; siehe auch BGH, Beschlüsse vom 23.09.2020 - IV ZB 18/20 -, juris Rn. 13, und vom 19.02.2020 - XII ZB 458/19 -, juris Rn. 18; Ahn-Roth, FamRB, 2020, 231, 233).

    Es liegt auch kein Fall vor, aus dessen Gegenstand heraus es eventuell der Notierung einer Vorfrist ausnahmsweise nicht bedurft hätte. Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage des im Jahre 2006 geborenen Klägers, dem mit Bescheid vom 18.06.2018 Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung bewilligt worden ist, auf Erstattung von Kosten in Höhe von 8.400 Euro für eine zuvor in der Vergangenheit selbst beschaffte Schulbegleitung mit umfangreicher Begründung abgewiesen. Sowohl die zugrundeliegende Rechtsmaterie des Jugendhilferechts (§ 36a SGB VIII) als auch der Begründungsaufwand des Verwaltungsgerichts verdeutlichen, dass die Darlegungslast, die das Gesetz der Prozessbevollmächtigten des Klägers nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO abverlangt, Zeit und Mühe erfordert und gerade nicht innerhalb kürzester Zeit bewältigt werden kann.

    Die mangelhafte Organisation des Fristenwesens ist für die Fristversäumung ursächlich gewesen. Wäre eine Vorfrist im Fristenkalender eingetragen worden, so hätte die Prozessbevollmächtigte des Klägers nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten die Begründungsfrist gewahrt. Die Eintragung der Vorfrist hätte sie in die Lage versetzt, die fehlerhafte Notierung der Frist für die Begründung des Zulassungsantrags noch rechtzeitig vor Fristende zu bemerken. Die Vorfrist bietet - wie bereits ausgeführt - eine zusätzliche Fristensicherung. Es kann nicht unterstellt werden, dass die Kanzleiangestellte der Prozessbevollmächtigten des Klägers bei bestehender Anweisung auch eine Vorfrist fehlerhaft oder gar nicht eingetragen hätte. Für die Beurteilung, ob ein Organisationsfehler für die Versäumung der Frist ursächlich geworden ist, ist von einem ansonsten pflichtgemäßen Verhalten auszugehen und darf kein weiterer Fehler hinzugedacht werden (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.12.2017 - 1 S 1484/17 -, juris Rn. 27).

    Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 188 Satz 2 VwGO.

    Der Beschluss ist unanfechtbar.

    RechtsgebietVwGOVorschriftenVwGO § 60; VwGO § 124a Abs. 4 S. 4