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  • 30.07.2024 · IWW-Abrufnummer 242923

    Landesarbeitsgericht Sachsen: Beschluss vom 09.07.2024 – 1 Ta 8/24

    Zahlt ein Arbeitgeber an einen Teil der Belegschaft auf Grundlage eines Spruchs der Einigungsstelle eine Zulage, ist das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren zur Überprüfung des Einigsstellenspruchs nicht vorgreiflich für Individualverfahren, in denen der andere Teil der Belegschaft die Zahlung der Zulage auf Grundlage des arbeitsgerichtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes fordert.


    In dem Beschwerdeverfahren
    - Beschwerdeführer / Kläger -
    Prozessbevollm.:DGB Rechtsschutz GmbH
    handelnd durch ihre Rechtsschutzsekretäre ... u.a. als
    mit der Prozessvertretung beauftragte Vertreter
    ...
    gegen
    ... B.V. & Co.KG
    vertr. d.d... B.V., diese vertr. d.d. Geschäftsführer ..., ...
    ...
    - Beschwerdegegnerin / Beklagte -
    Prozessbevollm.:...
    PartG von Rechtsanwälten mbB
    ...
    wegen Aussetzung des Verfahrens
    hat die 1. Kammer des Sächsischen Landesarbeitsgerichts durch Präsident des Landesarbeitsgerichts ... als Vorsitzenden ohne mündliche Verhandlung am 9. Juli 2024 beschlossen:

    Tenor:

    Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Leipzig vom 5.1.2024, Az. 8 Ca 2411/23

    aufgehoben.

    Gründe

    I.

    Mit seiner sofortigen Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Aussetzung des Rechtsstreits bis zur rechtskräftigen Entscheidung in einem vor einem anderen Arbeitsgericht anhängigen Beschlussverfahren.

    In seiner Klage vom 13.9.2023 begehrt der bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer beschäftigte Kläger, die Beklagte auf Grundlage des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Zeitraum März 2023 bis August 2023 zur Zahlung eines monatlichen Verpflegungszuschusses ("Pay Allowance") sowie eines monatlichen Fahrtkostenzuschusses ("Commuter Allowance") zu verurteilen. Die Beklagte zahlt diese Zuschüsse nur an im Innendienst beschäftigte Verwaltungsmitarbeiter, nicht aber an Auslieferungsfahrer.

    Im Verfahren einer zwischen dem Gesamtbetriebsrat der Beklagten und der Beklagten gebildeten Einigungsstelle kam es am 18.1.2023 zu einem Spruch, nach dessen § 2 Abs.1 und 3 die Zahlung eines Teils der Pay Allowance i.H.v. 10,00 € an die Verwaltungsmitarbeiter ab 1.3.2023 für die Dauer von 30 Monaten zu erfolgen hat. Wegen des Wortlauts des Einigungsstellenspruchs im Einzelnen wird auf Bl.120/121 der erstinstanzlichen Akte Bezug genommen. Vor dem Spruch prüfte und verneinte die Einigungsstelle die Frage, ob es durch die Zahlung nur an Verwaltungsmitarbeiter zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Auslieferungsfahrer kommt.

    Über die Wirksamkeit des Einigungsstellenspruches schwebte vor dem Arbeitsgericht Berlin unter dem Aktenzeichen 38 BV 1338/23 ein Beschlussverfahren. Dieses Verfahren ist nicht rechtskräftig abgeschlossen, sondern derzeit unter dem Aktenzeichen 10 TaBV 133/24 vor dem Landesarbeitsgericht Berlin anhängig.

    Auf Antrag der Beklagten setzte das Arbeitsgericht den Rechtsstreit in dem angefochtenen Beschluss vom 5.1.2024 auf Grundlage von § 148 Abs. 1 ZPO wegen teilweiser Vorgreiflichkeit des vor dem Arbeitsgericht Berlin anhängigen Beschlussverfahrens aus. Zur Begründung führte es aus, es verstoße nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, nur Verwaltungsmitarbeitern die Pay Allowance zu zahlen, wenn sich in dem vor dem Arbeitsgericht Berlin geführten Verfahren herausstelle, dass der Spruch der Einigungsstelle wirksam sei. Habe die durch Spruch der Einigungsstelle aufgestellte Betriebsvereinbarung Bestand, sei für die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes kein Raum, weil es hinsichtlich des Teilbetrages der Pay Allowance von 10,00 € dann um Normvollzug, nicht um willentliche Gestaltung nach Ermessen des Arbeitgebers gehe.

    Gegen den am 12.1.2024 zugestellten Beschluss legte der Kläger am 26.1.2024 sofortige Beschwerde ein. Er meint, das vor dem Arbeitsgericht Berlin anhängige Beschlussverfahren sei nicht vorgreiflich, denn es gehe dort nur um einen kleinen Teil der Pay Allowance im Umfang von 10,00 € monatlich. Die Commuter Allowance sei insgesamt nicht Gegenstand des Verfahrens. Im Übrigen mache er sich die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts Bremen in dessen Beschluss vom 12.12.2023, AZ. 3 Ta 34/23 zu eigen.

    Das Arbeitsgericht half der sofortigen Beschwerde durch Beschluss vom 30.1.2024 nicht ab. Der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Bremen könne nicht gefolgt werden, weil dieses den dortigen Vortrag der Parteien abgewogen habe, der mit demjenigen im vorliegenden Rechtsstreit nicht identisch sei.

    II.

    1. Die sofortige Beschwerde des Klägers ist nach den §§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist zulässig, denn sie ist innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingelegt und wahrt die in § 569 Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 46c ArbGG vorgeschriebene Form.

    2. Die sofortige Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Aussetzungsbeschlusses.

    a) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, kann das Gericht nach § 148 Abs. 1 ZPO anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist.

    aa) Bei der Ausübung des durch den Begriff "kann" in § 148 Abs. 1 ZPO eröffneten Ermessens hat das Gericht den Zweck der Aussetzung des Verfahrens, einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden, gegen die Nachteile der durch die Aussetzung verlängerten Verfahrensdauer und die dadurch entstehenden Folgen für die Parteien abzuwägen (BAG, Beschluss vom 16.4.2014, Az. 10 AZB 6/14, juris, Rn. 5). Bei der Abwägung ist der Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 ArbGG zu berücksichtigen, ferner die Vorschriften zum Schutz vor überlanger Verfahrensdauer nach § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 198 ff. GVG (BAG, a.a.O.).

    bb) Die Frage, ob der andere Rechtsstreit vorgreiflich ist, steht dagegen nicht im Ermessen des Gerichts, sondern ist Tatbestandsvoraussetzung des § 148 Abs.1 ZPO. Diese muss erfüllt sein, bevor als Rechtsfolge das Ermessen des Gerichts zur Aussetzung eröffnet ist (BAG, a.a.O., Rn. 10).

    cc) Im Beschwerdeverfahren kann die Entscheidung des Arbeitsgerichts über die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 148 Abs. 1 ZPO voll überprüft werden, soweit es um den Aussetzungsgrund, mithin die Vorgreiflichkeit des anderen Rechtsstreits geht. Die Ausübung des Ermessens des Arbeitsgerichts kann demgegenüber nur eingeschränkt überprüft werden, nämlich dahingehend, ob das Arbeitsgericht die Grenzen des Ermessens eingehalten hat und ob ihm auch sonst keine Ermessensfehler unterlaufen sind (BGH, Beschluss vom 9.3.2021, Az. II ZB 16/20, juris, Rn. 20; Beschluss vom 25.7.2019, Az. I ZB 82/18, juris, Rn. 38).

    b) Nach diesen Grundsätzen, die die Beschwerdekammer in ständiger Rechtsprechung anwendet (SächsLAG, Beschluss vom 25.1.2023, Az. 1 Ta 10/23, juris, Rn. 10 ff.; Beschluss vom 17.10.2022, Az. 1 Ta 146/22, juris, Rn. 17 ff.) war der Beschluss über die Aussetzung des Rechtsstreits aufzuheben, weil das derzeit vor dem Landesarbeitsgericht Berlin anhängige Beschlussverfahren für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht vorgreiflich ist.

    aa) Vorgreiflichkeit liegt nach allgemeiner Meinung vor, wenn in einem anderen Rechtsstreit über ein Rechtsverhältnis zu entscheiden ist, dessen Bestehen für den vorliegenden Rechtsstreit zumindest teilweise präjudizielle Bedeutung hat (BGH, Beschluss vom 24.7.2023, VIa ZB 10/21, juris, Rn.11; BAG, Urteil vom 22.3.2023, 10 AZR 499/20, juris, Rn. 14 ff.; BayVGH, Beschluss vom 24.11.2015, 17 P 15.1316, juris, Rn.11; Greger in Zöller, ZPO Kommentar, § 148 Rn. 5). Präjudizielle Bedeutung liegt vor, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzen Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt (BGH und BAG jeweils a.a.O.).

    bb) Das Arbeitsgericht geht in dem angefochtenen Beschluss im Ansatz richtig von der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aus (zuletzt Urteil vom 28.3.2023, 9 AZR 219/22, juris, Rn. 34 m.w.N.), wonach der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, auf den der Kläger seine Ansprüche stützt, keine Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber in bloßem -auch vermeintlichem- Normvollzug handelt. Handelt der Arbeitgeber im Normvollzug, schafft er nämlich kein eigenes, von seinem Ermessen abhängiges Regelwerk, das er nur unter Berücksichtigung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes gestalten darf. Das Arbeitsgericht verkennt jedoch, dass der im Einigungsstellenspruch geregelte Teil der Pay Allowance von der Beklagten unabhängig vom Ausgang des derzeit vor dem Landesarbeitsgericht Berlin anhängigen Beschlussverfahrens nicht nach Ermessen, sondern im Normvollzug bezahlt wird. Dies folgt daraus, dass die Anrufung des Arbeitsgerichts Berlin durch den Gesamtbetriebsrat die Geltung des Einigungsstellenspruchs nicht suspendiert hat. Der Anfechtung eines Einigungsstellenspruchs auf Grundlage von § 76 Abs.5 Satz 4 BetrVG kommt nämlich keine aufschiebende Wirkung zu (hierzu LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.7.2016, 21 TaBV 4/16, juris, Rn. 79; LAG Köln, Beschluss vom 20.4.1999, 13 Ta 243/98, Rn. 24; LAG Berlin, Beschluss vom 6.12.1984, 4 TaBV 2/84, BB1985, 1199; Fitting, Handkommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 32. Auflage 2024, § 76 Rn. 164.). Ein Spruch der Einigungsstelle ist vielmehr verbindlich und vom Arbeitgeber zunächst auszuführen (Fitting, a.a.O., m.w.N.). Zwar ist eine einstweilige Verfügung eines Arbeitsgerichts denkbar, durch die der Vollzug des Einigungsstellenspruchs einstweilen ausgesetzt wird (vgl. hierzu LAG Hamm, Beschluss vom 4.8.2015, 7 TaBvGa 7/15, juris). Eine solche ist nach dem Sachvortrag der Parteien aber nicht ergangen.

    Demnach ist die Beklagte nach den §§ 77 Abs.1 Satz 2; 77 Abs.4 Satz 1; 87 Abs.2 Satz 2 BetrVG vorerst zum Vollzug des angefochtenen Einigungsstellenspruchs verpflichtet. Sie zahlt den im Einigungsstellenspruch geregelten Teil der Pay Allowance im Normvollzug, nicht nach Ermessen. Folge ist, dass der Kläger sich von vornherein nicht darauf berufen kann, der im Einigungsstellenspruch geregelte Teil der Pay Allowance stünde ihm als Auslieferungsfahrer aufgrund des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes ebenso zu, wie den begünstigten Verwaltungsmitarbeitern. Präjudizielle Bedeutung für die auf den Gleichbehandlungsgrundsatz gestützten Ansprüche des Klägers hat das vor dem Landesarbeitsgericht Berlin anhängige Beschlussverfahren damit nicht. Die Voraussetzungen, unter denen § 148 Abs.1 ZPO das Ermessen des Arbeitsgerichts eröffnet, eine Aussetzung des Verfahrens zu beschließen, liegen nicht vor. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.

    III.

    Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, denn das Beschwerdeverfahren ist Bestandteil des Hauptsacheverfahrens. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind Teil der Kosten des Rechtsstreits, über die das Arbeitsgericht im Rahmen der Entscheidung über die Hauptsache mit zu befinden hat (Herget in Zöller, ZPO Kommentar, 34. Aufl. 2022, § 97 Rn. 9)

    IV.

    Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen der §§ 78 Satz 2, 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Entscheidung der Kammer weicht nicht von der Rechtsprechung anderer Obergerichte ab. Ein absoluter Revisionsgrund i.S.d. § 547 ZPO ist nicht ersichtlich und keine der Parteien hat eine entscheidungserhebliche Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht.

    Vorschriften§ 148 Abs. 1 ZPO, §§ 252, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 569 Abs. 2 Satz 1 ZPO, § 46c ArbGG, § 9 Abs. 1 ArbGG, § 9 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 148 Abs.1 ZPO, § 76 Abs.5 Satz 4 BetrVG, §§ 77 Abs.1 Satz 2, 77 Abs.4 Satz 1, 87 Abs.2 Satz 2 BetrVG, §§ 78 Satz 2, 72 Abs. 2 ArbGG, § 547 ZPO