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  • 03.09.2019 · IWW-Abrufnummer 210984

    Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern: Urteil vom 30.07.2019 – 5 Sa 246/18

    Eine schwerwiegende Verletzung der Pflicht zur korrekten Erfassung der Arbeitszeit und die Vortäuschung einer Arbeitsunfähigkeit können die außerordentliche Kündigung eines annähernd 40 Jahre bestehenden, bisher unbelasteten Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Im Rahmen der Interessenabwägung ist es von Bedeutung, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis eines Kollegen gefährdet hat, indem er diesen dazu verleitet hat, für ihn die Arbeitszeit in der Stempeluhr falsch zu erfassen.


    Tenor:

    1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 15.11.2018 - 2 Ca 975/18 - abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

    2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

    3. Die Revision wird nicht zugelassen.



    Tatbestand



    Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.



    Der im Dezember 1961 geborene, verheiratete Kläger war bei der Beklagten auf der Grundlage des zum 01.09.1978 mit einer Rechtsvorgängerin begründeten Arbeitsverhältnisses zuletzt als Zerspanungsmechaniker mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden im Drei-Schicht-Betrieb bei einem monatlichen Gehalt von € 2.567,02 brutto tätig. Die Beklagte entwickelt und produziert verschiedene Hydraulikelemente. Sie beschäftigt regelmäßig mehr als 10 Vollzeitkräfte ausschließlich der Auszubildenden. Im Mai 2017 wurde der Kläger in den bei der Beklagten gebildeten Betriebsrat gewählt.



    Der Kläger war in der Woche vom 04.06. bis 08.06.2018 in der Spätschicht eingeteilt, die um 14:00 Uhr begann und um 22:00 Uhr endete. Laut der Betriebsvereinbarung vom 20.06.2017 ist in der Spätschicht zwischen 18:30 und 19:30 Uhr eine Pause von 30 Minuten zu nehmen. Wegen des guten Auftragsvolumens und aufgelaufener Rückstände durch Krankheiten und Maschinenausfälle hatte die Beklagte mit Zustimmung des Betriebsrats im Zeitraum 21.04. bis 30.06.2018 verpflichtende Samstagsarbeit eingeführt.



    Am Donnerstag, 07.06.2018, buchte der Kläger im Zeiterfassungssystem (ZMI) einen Arbeitsbeginn um 13:46 Uhr. Die Arbeitszeit wird mit dem Mitarbeiterausweis erfasst. Die Schicht endete um 22:00 Uhr. Gegen 19:40 Uhr traf die Personalleiterin der Beklagten, Frau W., den Kläger im "Haus der Jugend" in A-Stadt an, als er Kuchen, Bowle und verschiedene Gefäße dort hineintrug. Die Fahrzeit vom Betriebsgelände zum "Haus der Jugend" beträgt etwa 7 - 8 Minuten mit dem PKW. Frau W. grüßte den Kläger und begab sich zu ihrer Sportveranstaltung. Die Arbeitszeiten des Klägers waren ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Um 20:05 Uhr checkte ein anderer Mitarbeiter den Kläger mit dessen Mitarbeiterausweis im Zeiterfassungssystem aus.



    Am darauffolgenden Tag, dem 08.06.2018, meldete sich der Kläger gegen 11:00 Uhr beim Fertigungsbereichsleiter für die um 14:00 Uhr beginnende Spätschicht telefonisch arbeitsunfähig. Am Abend desselben Tages wurde der Kläger gegen 21:45 Uhr in Festkleidung am "Haus der Jugend" in A-Stadt gesehen. Arbeitsunfähig war der Kläger an diesem Tag nicht.



    Am Montag, 11.06.2018, nahm der Kläger die Arbeit zur Frühschicht um 06:00 Uhr wieder auf. Gegen 11:45 Uhr hörte die Beklagte den Kläger im Beisein des Betriebsratsvorsitzenden zu den Vorwürfen des Arbeitszeitbetrugs und der Vortäuschung einer Arbeitsunfähigkeit an. Der Kläger verwies darauf, sich wegen der angespannten Personalsituation nicht getraut zu haben, für den 85. Geburtstag seines Vaters kurzfristig einen Urlaubstag zu beantragen. Er räumte ein, das Betriebsgebäude am 07.06.2018 um 19:00 Uhr verlassen zu haben.



    Mit Schreiben vom 14.06.2018, dem Betriebsratsvorsitzenden zugegangen am 18.06.2018, beantragte die Beklagte die Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Klägers. Das Schreiben enthält zum einen die maßgeblichen Sozialdaten des Klägers, also Name, Familienstand, Geburtsdatum, Betriebszugehörigkeit, Tätigkeit, Eingruppierung. Zum anderen teilte die Beklagte den für die Kündigung maßgeblichen Sachverhalt einschließlich der Anhörung des Klägers im Einzelnen mit. Der Betriebsrat stimmte der beabsichtigten Kündigung am 19.06.2018 schriftlich zu.



    Mit Schreiben vom 21.06.2018, dem Kläger zugegangen am selben Tag, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit ihm außerordentlich. Hiergegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 09.07.2018, beim Arbeitsgericht eingegangen am 10.07.2018, fristgerecht Kündigungsschutzklage erhoben.



    Nach Ausspruch der außerordentlichen Kündigung war der Kläger zunächst arbeitsunfähig. Zum 01.08.2018 nahm er eine neue Beschäftigung auf.



    Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die außerordentliche Kündigung unwirksam sei. Am 08.06.2018 sei sein Vater 85 Jahre alt geworden. Eine größere Feier habe der Vater zunächst nicht geplant. Kurz vor dem Geburtstag habe sich die Familie dann aber doch für eine Geburtstagsfeier entschieden und diese organisiert. Deshalb habe es der Kläger versäumt, Urlaub zu beantragen. Am 07.06.2018 habe er die Arbeit bereits 14 Minuten früher aufgenommen und komplett ohne Pause durchgearbeitet. Deshalb habe es nicht zu einer Überzahlung von Arbeitsentgelt kommen können. Der Kläger habe seinen Fehler bei der Anhörung unumwunden eingeräumt. Im Übrigen müsse die jahrzehntelange unbeanstandete Tätigkeit Berücksichtigung finden.



    Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt



    festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 21.06.2018, zugegangen am 21.06.2018, nicht aufgelöst wurde.



    Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die außerordentliche Kündigung sei gerechtfertigt, da der Kläger die Arbeitszeit vorsätzlich falsch angegeben und darüber hinaus noch einen anderen Mitarbeiter in die Manipulation einbezogen habe. Eine vorherige Abmahnung sei entbehrlich gewesen, da auch eine einmalige Hinnahme des Arbeitszeitbetrugs und der Vortäuschung einer Erkrankung durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen sei. Im Rahmen der Interessenabwägung sei zwar die lange Betriebszugehörigkeit des Klägers und sein Lebensalter zu berücksichtigen. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte sei jedoch günstig. Deshalb habe der Kläger bereits nach kurzer Zeit wieder eine neue Arbeit gefunden.



    Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dass die schwerwiegenden Pflichtverletzungen des Klägers an sich geeignet seien, einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Zudem sei eine Abmahnung bei derart schweren Pflichtverletzungen entbehrlich. Da der Kläger jedoch annähernd 40 Jahre beanstandungsfrei gearbeitet und sein Fehlverhalten ohne Ausflüchte eingeräumt habe, bestehe keine Wiederholungsgefahr, sodass wegen der Besonderheiten des Einzelfalls trotz allem eine Abmahnung erforderlich sei.



    Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer frist- und formgerecht eingelegten Berufung. Der Kläger habe am 07. und 08.06.2018 gleich mehrere schwere Pflichtverletzungen begangen, die schon für sich genommen geeignet seien, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Am Donnerstag, 07.06.2018, habe der Kläger die Beklagte über die geleistete Arbeitszeit getäuscht und am Freitag, 08.06.2018, über seine Arbeitsfähigkeit. In beiden Fällen habe er alles getan, um unberechtigt Arbeitsentgelt zu erhalten. Nachdem er am Donnerstagabend von der Personalleiterin gesehen worden sei, habe er einen Kollegen veranlasst, für ihn auszustempeln. Trotzdem habe er sein Fehlverhalten am nächsten Tag fortgesetzt. Eine Wiederholungsgefahr sei entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts gerade nicht ausgeschlossen. Der Kläger habe weder versucht, die Schichten zu tauschen, noch Urlaub oder Zeitausgleich zu erhalten bzw. die Vorbereitung der Feier anders zu organisieren. Vielmehr habe er darauf vertraut, dass sein Fehlverhalten nicht auffalle. Er habe die Vorwürfe nicht sofort eingeräumt, sondern zunächst versucht, diese zu verharmlosen. Eingeräumt habe er sein Fehlverhalten erst dann, als die Personalleiterin die Fakten detailliert dargelegt habe und diese nicht mehr zu bestreiten gewesen seien. Die Beklagte sei enttäuscht, dass sie sich nicht einmal auf einen so langjährigen Kollegen wie den Kläger verlassen könne. Im Übrigen verweist sie auf das erstinstanzliche Vorbringen.



    Die Beklagte beantragt,



    das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 15.11.2018 - 2 Ca 975/18 - abzuändern und die Klage abzuweisen.



    Der Kläger beantragt,



    die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.



    Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung unter Bezugnahme auf den bisherigen Sachvortrag. Er habe seinen Arbeitsplatz erst um 19:30 Uhr verlassen, nachdem er ohne Pause durchgearbeitet habe, und sei dann um 19:45 Uhr von der Personalleiterin gesehen worden. Er habe sein Ausstempeln nicht erst nach dem Zusammentreffen mit der Personalleiterin veranlasst, sondern schon vorher. Er habe sich umgehend zu seinem Fehlverhalten bekannt und bedauere das sehr. Er habe sich seinerzeit aus einer emotionalen Zwangslage heraus falsch entschieden und würde sich heute anders verhalten.



    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.



    Entscheidungsgründe



    Die Berufung der Beklagten zulässig und begründet.



    Die außerordentliche Kündigung vom 21.06.2018 ist wirksam. Sie verstößt nicht gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB.



    Die Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrats ist unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.



    Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 15, juris = NZA 2019, 445; BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 - 2 AZR 382/17 - Rn. 26, juris = NZA 2018, 845).



    Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der - fiktiven - Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 28, juris = NZA 2019, 445).



    Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein "schonenderes" Gestaltungsmittel - etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung - gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses - zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 29, juris = NZA 2019, 445).



    Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 30, juris = NZA 2019, 445).



    Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr ebenso wie für das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich und vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Der Arbeitnehmer verletzt damit in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) gegenüber dem Arbeitgeber (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 17, juris = NZA 2019, 445; BAG, Urteil vom 26. September 2013 - 2 AZR 682/12 - Rn. 54, juris = NZA 2014, 443).



    Das Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit ist ebenfalls an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen (BAG, Urteil vom 26. August 1993 - 2 AZR 154/93 - Rn. 32, juris = NZA 1994, 63; LAG Köln, Urteil vom 07. Juli 2017 - 4 Sa 936/16 - Rn. 50 f., juris; LAG Nürnberg, Urteil vom 27. November 2013 - 8 Sa 89/13 - Rn. 51, juris = LAGE § 102 BetrVG 2001 Nr. 18). Damit verletzt der Arbeitnehmer zum einen seine Hauptleistungspflicht erheblich, indem er keine Arbeitsleistung erbringt, obwohl er arbeiten könnte. Zum anderen erhält er bei einer vorgetäuschten Erkrankung regelmäßig unberechtigt Entgeltfortzahlung, was zugleich den Straftatbestand des Betrugs erfüllen kann.



    Nach diesen Maßstäben ist die außerordentliche Kündigung des Klägers wirksam. Der Kläger hat nicht nur eine, sondern unmittelbar nacheinander zwei schwere Pflichtverletzungen begangen, die schon einzeln betrachtet einen wichtigen Grund bilden können. Der Kläger hat sowohl gegen seine Pflicht verstoßen, die geleisteten Arbeitszeiten im Zeiterfassungssystem ordnungsgemäß zu buchen, als auch gegen die Pflicht, seine Arbeitsleistung wie geschuldet zu erbringen, indem er eine Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht und eine Entgeltfortzahlung veranlasst hat.



    Das Interesse des Klägers an einer Fortführung seines Arbeitsverhältnisses, zumindest für die Dauer einer fiktiven Kündigungsfrist, ist angesichts eines Lebensalters von 56 Jahren und einer Beschäftigungszeit von annähernd 40 Jahren erheblich. Das gilt erst recht, wenn in dem Arbeitsverhältnis bislang keine Störungen aufgetreten sind und der Arbeitgeber keine Er- oder Abmahnungen aussprechen musste. Eine jahrzehntelange unbeanstandete Tätigkeit verschafft dem Kläger jedoch keine Sonderstellung, in der er sich grobe Pflichtverletzungen zumindest einmalig erlauben kann. Die langjährige Tätigkeit begründet zwar ein hohes Maß an Vertrauen darauf, dass der Kläger bereit ist, die Interessen der Beklagten als Arbeitgeberin und die Interessen der übrigen Arbeitnehmer zu wahren. Dieses Vertrauen hat er jedoch durch mehrfache Pflichtverletzungen massiv enttäuscht.



    Den langjährig erarbeiteten Bestandschutz hat der Kläger bewusst aufs Spiel gesetzt in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Die Pflichtverletzungen sind nicht einem Augenblicksversagen geschuldet. Der Kläger mag sich zwar durch die kurzfristig anberaumte, familiär wichtige Geburtstagsfeier in einer persönlichen Zwangslage befunden haben, da die Vorbereitung und die Teilnahme an der Geburtstagsfeier nicht in vollem Umfang mit seinem Schichtplan zu vereinbaren waren. Angesichts dessen hat er sich allerdings nicht entschieden, seinen Anteil der Vorbereitung in der schichtfreien Zeit, beispielsweise am späten Vormittag des 07.06.2018, durchzuführen. Ebenso wenig hat er versucht, die Kollision am Freitagabend durch einen Schichttausch, eine Kürzung der Schicht, Zeitausgleich oder in anderer Weise zu lösen. Derartige Möglichkeiten hat er nicht in Betracht gezogen, sondern sich stattdessen bewusst entschlossen, seine Arbeitspflicht mehrfach und mit zunehmender Intensität zu verletzten. Seine persönlichen Interessen hat er absichtlich über diejenigen der Beklagten gestellt. Die eigenmächtige Einstellung der Arbeit am Donnerstagabend, 07.06.2018, verstieß offensichtlich gegen den Schichtplan, war allerdings noch keine beharrliche Arbeitsverweigerung und hätte deshalb nur eine Abmahnung nach sich ziehen können. Der Kläger hätte die Möglichkeit gehabt, nach dem Zusammentreffen mit der Personalleiterin unverzüglich in den Betrieb zurückzukehren und seine Arbeit wieder aufzunehmen, um eine Kündigung zu vermeiden. Diese Möglichkeit hat er nicht genutzt, ohne hierfür nachvollziehbare Gründe zu haben.



    Der Kläger hat sich zudem über die Interessen des Kollegen hinweggesetzt, den er beauftragt hat, für ihn die Arbeitszeit in der Stempeluhr falsch zu erfassen, ob vor oder nach dem Zusammentreffen mit der Personalleiterin sei dahingestellt. Der zeitliche Ablauf spricht nach allgemeiner Lebenserfahrung eher für eine Beauftragung nach dem Zusammentreffen, zumal es dem Kläger offenbar darum ging, Pflichtverletzungen soweit wie möglich zu vertuschen. Zugunsten des Klägers kann jedoch im Weiteren von einer vorherigen Beauftragung ausgegangen werden. Mit diesem Auftrag an den Kollegen hat er jedenfalls das Arbeitsverhältnis des anderen Mitarbeiters erheblich gefährdet und einen Grund für dessen Kündigung geschaffen, wenn auch dieser der Bitte des Klägers nicht hätte nachkommen müssen. Ein die fristlose Kündigung "an sich" rechtfertigender Grund kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer für einen Kollegen Kontrolleinrichtungen betätigt und dadurch den Arbeitgeber über dessen Anwesenheit am Arbeitsplatz täuscht (BAG, Urteil vom 26. September 2013 - 2 AZR 682/12 - Rn. 55, juris = ZTR 2014, 299). Das rechtswidrige Verhalten des Kollegen hätte jederzeit entdeckt werden können, da ein Gang zum Zeiterfassungsgerät weit vor Schichtende Fragen aufwirft. Der Kläger hat es bewusst in Kauf genommen, das Arbeitsverhältnis eines anderen Arbeitnehmers zum eigenen Vorteil zu gefährden, und dessen "Kollegialität" ausgenutzt. Er musste mit möglichen Konsequenzen für den Kollegen rechnen, selbst wenn er sich weigerte, den Namen zu nennen.



    Ob der Kläger am 07.06.2018 die im System erfasste Arbeitszeit von 06:05 Stunden wie von ihm behauptet im Ergebnis tatsächlich geleistet hat und deshalb ggf. ein versuchter Arbeitszeitbetrug ausscheidet, kann offen bleiben. Die übrigen Pflichtverletzungen wiegen schwer genug, um der Beklagten eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses - auch bis zu einer fiktiven Kündigungsfrist - unzumutbar zu machen. Somit bedurfte es keiner Feststellung, ob der Kläger am 07.06.2018, wie er vorgerichtlich zunächst eingeräumt hat und wie es im erstinstanzlichen Tatbestand vermerkt ist, um 19:00 Uhr oder wie zweitinstanzlich vorgetragen erst um 19:30 Uhr verlassen hat. Belegt hat der Kläger seine neue Zeitangabe jedenfalls nicht. Derartige Unklarheiten soll eine ordnungsgemäße Zeiterfassung gerade vermeiden. Der Kläger hat sich aber darüber gezielt hinweggesetzt und damit eine genaue Feststellung der Arbeitszeiten unmöglich gemacht.



    Eine Wiederholungsgefahr ist trotz der Reue des Klägers nicht auszuschließen. Der Kläger hat Zeiten einer geringeren Kontrolle im Betrieb gezielt zu seinem Vorteil ausgenutzt. Damit hat er zu erkennen gegeben, dass ihm seine Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis und die betrieblichen Belange deutlich weniger bedeuten als sein persönlicher Vorteil. Der Kläger hat das Vertrauen der Beklagten in eine pflichtgemäße Erledigung der Arbeitsaufgaben, auch ohne dabei ständig überwacht zu werden, ohne Rücksicht auf die Arbeitgeberinteressen missbraucht. Die Beklagte kann keinesfalls sicher sein, dass er sich im Falle einer erneuten persönlichen Zwangslage nicht wiederum zugunsten der privaten Belange entscheidet, sofern er davon ausgehen kann, nicht entdeckt zu werden. Der Kläger wusste um die Gefährdung seines Arbeitsverhältnisses im Falle der Entdeckung. Das hat ihn allerdings nicht hiervon abgehalten. Vielmehr ist er davon ausgegangen, dass er nicht auffällt oder dass die Pflichtverletzungen nicht nachweisbar sein werden. Eine solche Situation kann sich bei nächster Gelegenheit wiederholen. Die der fortgesetzten Pflichtverletzung zugrunde liegende Einstellung des Klägers zu seinen Arbeitspflichten hat sich durch die Aufdeckung des Fehlverhaltens nicht zwangsläufig geändert. Soweit er die Pflichtverletzungen in der Anhörung am 11.06.2018 eingeräumt hat, lässt das nicht den Schluss auf einen grundlegenden Sinneswandel zu, da der Kläger letztlich nichts zugegeben hat, was der Beklagten nicht bereits bekannt war. Er ist nicht von sich aus am Montagmorgen zur Personalleitung gegangen, um sich für sein Fehlverhalten zu entschuldigen.



    Angesichts des massiven Fehlverhaltens war eine Abmahnung entbehrlich. Die Beklagte kann fortgesetzte Pflichtverletzungen in diesem Ausmaß nicht hinnehmen, auch nicht angesichts einer Beschäftigungszeit von annähernd 40 Jahren. Das ist schon aus Gründen der Betriebsdisziplin (vgl. dazu BAG, Urteil vom 11. Dezember 2003 - 2 AZR 36/03 - Rn. 23, juris = NZA 2004, 486; BAG, Urteil vom 04. Juni 1997 - 2 AZR 526/96 - Rn. 26 = NJW 1998, 554; LAG Hessen, Urteil vom 30. März 2015 - 17 Sa 1094/13 - Rn. 57, juris) ausgeschlossen. Die Hinnahme derartiger Pflichtverletzungen führt bei den korrekt arbeitenden Beschäftigten zu Unverständnis und kann als Signal missverstanden werden, jedenfalls bei einer langen Beschäftigungszeit selbst schwere Pflichtverletzungen begehen zu können, ohne das Arbeitsverhältnis dadurch ernsthaft zu gefährden. Die Funktionsfähigkeit eines Betriebes ist nur gewährleistet, wenn zumindest die wesentlichen Pflichten ohne Wenn und Aber wechselseitig beachtet werden. Würden andere Arbeitnehmer ebenso wie der Kläger vorgehen, wäre der Produktionsablauf nicht mehr sicherzustellen.



    Im Rahmen der Interessenabwägung sind schließlich die Aussichten des Klägers auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Trotz eines fortgeschrittenen Lebensalters sind diese für Facharbeiter derzeit günstig. Die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der damit einhergehende Verlust der Einkommensquelle belasten den Kläger erheblich. Allerdings bestand angesichts der zahlreichen Stellengesuche die Chance, in überschaubarer Zeit ein neues, vergleichbares Arbeitsverhältnis eingehen zu können. Diese Einschätzung war berechtigt, was die Aufnahme einer neuen Beschäftigung rund 6 Wochen nach der außerordentlichen Kündigung bestätigt.



    Die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung liegt vor. Der Betriebsrat hat der außerordentlichen Kündigung des Klägers zugestimmt.



    Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

    Vorschriften§ 626 Abs. 1 BGB, § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 103 BetrVG, § 241 Abs. 2 BGB, § 91 Abs. 1 ZPO