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  • · Fachbeitrag · Arzthaftung

    4.000 Euro Schmerzensgeld wegen unterbliebener Aufklärung über Anästhesiealternativen

    von Rechtsanwältin Dr. Christina Thissen, Fachanwältin für Medizinrecht, Kanzlei am Ärztehaus, Münster, www.kanzlei-am-aerztehaus.de

    | Die Lokalanästhesie ist in der Zahnarztpraxis ein vollkommen alltäglicher Vorgang. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat nun in einem aktuellen Urteil vom 19. April 2016 (Az. 26 U 199/15, Abruf-Nr. 186967 ) die Aufklärungspflicht in Bezug auf die verschiedenen Anästhesiealternativen verschärft. Es verurteilte einen Zahnarzt zur Zahlung von 4.000 Euro Schmerzensgeld, weil er einen Patienten zur Neuverplombung zweier Zähne mit einer Leitungsanästhesie betäubt hatte, ohne zuvor über die risikoärmere Möglichkeit einer intraligamentären Anästhesie aufzuklären. |

    Der Fall

    Der betreffende Patient wurde aufgrund starker Schmerzen im März 2013 bei dem Zahnarzt vorstellig. Als Angstpatient wünschte er eine Behandlung unter Betäubung. Ob eine Aufklärung über die Risiken einer Leitungsanästhesie erfolgt ist, ist zwischen den Beteiligten streitig. Die Möglichkeit der intraligamentären Anästhesie wurde mit dem Patienten aber unstreitig gar nicht erst erörtert. Nach Ansicht des Zahnarztes stellt diese insbesondere bei Angstpatienten aufgrund der Vielzahl an Einstichen keine gleichwertige Behandlungsalternative dar. Er setzte daher eine Leitungsanästhesie für den zu behandelnden Bereich im Unterkiefer.

     

    In der Folge litt der Patient über einen Zeitraum von über einem Jahr unter Gefühllosigkeit in der Zunge und Kribbelparästhesie. Er klagte zunächst erfolglos vor dem Landgericht Bielefeld.

    Das Urteil

    Das OLG Hamm hob das erstinstanzliche Urteil auf und begründete dies wie folgt: Auch wenn bei dem Patienten beim Einstich nicht der für eine Nervverletzung typische, elektrisierende Schmerz aufgetreten sei, sei aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs, der Lokalisierung der Beschwerden und mangels Erkennbarkeit anderer Ursachen davon auszugehen, dass die Leitungsanästhesie zu der Läsion geführt habe. Eine fehlerhafte Behandlung habe aber dennoch hier nicht vorgelegen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen war die Leitungsanästhesie indiziert. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sie nicht lege artis durchgeführt worden sei. Die Nervverletzung stelle sich als - seltene - Komplikation der Leitungsanästhesie dar. Somit habe sich ein eingriffsimmanentes Risiko realisiert.

     

    Risikoaufklärung bei gleichermaßen indizierten Alternativen notwendig

    Der Zahnarzt hafte aber dennoch, weil er über die echte Behandlungsalternative der intraligamentären Anästhesie nicht aufgeklärt habe. Bei mehreren medizinisch gleichermaßen indizierten und üblichen Behandlungsmethoden, die wesentlich unterschiedliche Risiken und Erfolgsaussichten aufweisen, müsse dem Patienten gemäß § 630e Abs. 1 S. 3 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nach umfassender Aufklärung die Entscheidung überlassen bleiben, auf welchem Wege die Behandlung erfolgen solle. Während die Leitungsanästhesie den Vorteil habe, vergleichsweise schnell mit einem Einstich innerhalb von ca. 15 Sekunden durchgeführt werden zu können, berge sie als gravierenden Nachteil die seltene Gefahr einer Nervverletzung.

     

    Intraligamentäre Anästhesie ist aufklärungspflichtig

    Im Gegensatz hierzu seien bei der intraligamentären Anästhesie zwar viele Einstiche erforderlich, eine Nervschädigung sei allerdings ausgeschlossen. Bei dem Patienten habe auch keine Kontraindikation vorgelegen. Insbesondere die vom Zahnarzt behaupteten ausgeprägten paradontal entzündeten Zähne wurden durch die im Prozess vorgelegten Röntgenbilder nicht bestätigt.

     

    Die ligamentäre Anästhesie sei im Zeitpunkt der Behandlung auch so weit in der ambulanten medizinischen Praxis angekommen, dass sie zum Standard gehöre und aufklärungspflichtig sei. Der Hinweis des Sachverständigen, dass in der Praxis umfassende Aufklärungsgespräche nicht durchgeführt werden, da im täglichen Ablauf nicht die notwendige Zeit zur Verfügung stehe, wies das Gericht als rechtlich unerheblich zurück. Ebenso ließ das Gericht den Einwand des beklagten Zahnarztes nicht gelten, die intraligamentäre Anästhesie werde von 90 bis 95 Prozent der Zahnärzte nicht eingesetzt.

     

    Patienteneinwilligung wegen fehlender Aufklärung unwirksam

    Mangels ordnungsgemäßer Aufklärung fehlt es nach Auffassung des OLG an einer wirksamen Einwilligung des Patienten in den Eingriff. Der Patient habe im Prozess glaubhaft darlegen können, dass er zwar Angst vor der Zahnbehandlung, nicht aber vor Spritzen habe und er sich daher in Kenntnis der Alternative für die intraligamentäre Betäubung entschieden hätte. Das Gericht ging daher davon aus, dass die von ihm erteilte Einwilligung in den Eingriff wegen fehlender Aufklärung unwirksam war und auch keine hypothetische Einwilligung vorlag. Es verurteilte den Zahnarzt zur Zahlung von 4.000 Euro Schmerzensgeld.

    Konsequenzen aus dem Urteil

    Die allgemein übliche praktische Handhabung und rechtliche Anforderungen an die Anästhesieaufklärung liegen - wie der Urteilsfall zeigt - oftmals weit auseinander. Überdenken Sie im eigenen Interesse Ihre Aufklärungspraxis und stellen Sie sicher, eine Betäubung erst zu setzen, wenn Sie dem Patienten die Alternativen der Leitungs- und intraligamentären Anästhesie erläutert haben.

     

    PRAXISHINWEIS | Dokumentieren Sie dies nach Möglichkeit auch. Denn eine fehlende Aufklärung kann - da damit die Einwilligung des Patienten unwirksam wird - nicht nur eine Schadenersatzpflicht, sondern unweigerlich eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung zur Folge haben.

     
    Quelle: Ausgabe 07 / 2016 | Seite 4 | ID 44121258