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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Mithaftung des Vorfahrtberechtigten wegen Geschwindigkeitsüberschreitung

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    | Überhöhte Geschwindigkeit ist nach wie vor die Hauptunfallursache und oft das Hauptthema in Vorfahrtfällen. Worauf es im Haftpflichtprozess nach der aktuellen Rechtsprechung ankommt, wird im Folgenden deutlich gemacht. |

     

    Arbeitshilfe / Hinweise für den Wartepflichtigen

    Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtberechtigten kann dem Wartepflichtigen ein eigener Ersatzanspruch zustehen. Seine Ersatzpflicht kann reduziert sein. Wissen muss er:

     

    • 1. Kein Verlust des Vorfahrtrechts: Selbst eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Bevorrechtigten hebt dessen Vorrecht nicht auf (BGH NJW 12, 1953 Tz. 8).

     

    • 2. Der Vertrauensaspekt: Falsch ist der Satz, der Wartepflichtige müsse nur verhältnismäßig unbedeutende Überschreitungen, wie sie erfahrungsgemäß häufig vorkommen, in Rechnung stellen. Falsch ist ferner der Satz, bei Überschreitungen ab 60 Prozent sei der Wartepflichtige stets entlastet (vgl. OLG Düsseldorf 11.8.15, I-1 U 130/14).
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    • Der Wartepflichtige darf nur so lange darauf vertrauen, dass der bevorrechtigte Kraftfahrer eine angemessene oder üblicherweise noch tolerierte Geschwindigkeit einhält, als er bei sorgfältiger Beobachtung nicht erkennen kann, dass der Bevorrechtigte sich mit einer höheren Geschwindigkeit nähert (BGH NJW 84, 1962). Fehleinschätzungen gehen zulasten des Wartepflichtigen. Nicht Vertrauen, sondern Misstrauen ist angesagt.

     

    • 3. Die Sichtbarkeitsfrage: Typisch ist die Einlassung „als ich anfuhr, war er noch nicht zu sehen, plötzlich tauchte er mit total überhöhter Geschwindigkeit auf“. Wer muss hier was darlegen und notfalls beweisen? Der Vorfahrtberechtigte seine Sichtbarkeit oder der Wartepflichtige dessen Unsichtbarkeit? In der Praxis wird diese Frage vor allem im Kontext mit dem Anscheinsbeweis diskutiert. Dazu der nächste Punkt.

     

    • 4. Der Anscheinsbeweis zulasten des Wartepflichtigen: Bei Zusammenstößen auf Straßenkreuzungen oder im Bereich von Einmündungen spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Vorfahrtverletzung durch den Wartepflichtigen (st. Rspr., OLG München 14.3.14, 10 U 4774/13).

     

      • a) Typizität: Voraussetzung für das Eingreifen des Anscheinsbeweises ist zunächst, dass eine objektive Vorfahrtlage bestanden hat und zudem erkennbar war (BGH 18.11.75, VI 172/74, juris). Die Erkennbarkeit der Vorfahrtlage bezieht sich auf äußere Umstände wie Beschilderung, Straßengestaltung u.a. Gemeint ist also nicht die (objektive) Wahrnehmbarkeit des Vorfahrtberechtigten.
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    • Dass er für den an sich Wartepflichtigen bei Beginn des Ein- bzw. Auffahrens auch wahrnehmbar (sichtbar) gewesen ist, muss der Bevorrechtigte nicht darlegen bzw. nachweisen, um in den Genuss der Anscheinsbeweisregel zu kommen. Mangelnde oder eingeschränkte Wahrnehmbarkeit ist eine Frage der Erschütterung des Anscheinsbeweises.
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    • Eine Geschwindigkeitsüberschreitung, sofern unstreitig oder bewiesen, ist nach dem Gebot der Gesamtschau in die Typizitätsprüfung einzubeziehen. Eine nur geringfügige Überhöhung stellt die Typizität nicht in Frage. Wenn überhaupt, kann nur eine krass überhöhte Geschwindigkeit schon die Typizität entfallen lassen.
    • b) Erschütterung des Anscheinsbeweises: Erschüttert ist er bereits, wenn das Gericht nach den Feststellungen des Sachverständigen zu dem Ergebnis kommt, dass das bevorrechtigte Fahrzeug zum Zeitpunkt des Beginns des Ein- bzw. Abbiegens noch außerhalb der Sichtweite des Wartepflichtigen gewesen sein kann (OLG Saarbrücken VA 10, 200). Eine nur theoretisch mögliche Unsichtbarkeit genügt nicht (OLG München 14.3.14, 10 U 4774/13). Zumindest ist der Anscheinsbeweis erschüttert, wenn der Vorfahrtberechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit nachweislich deutlich überschritten hat (BGH DAR 85, 316: Wendeunfall; BGH r+s 86, 173: 104 statt 50 km/h). Die bloße Möglichkeit einer überhöhten Ausgangsgeschwindigkeit reicht nicht (LG Saarbrücken NZV 14, 30).
    • 5. Anspruchskürzung und (Mit-)Haftung: Nach den §§ 17, 18 StVG, § 254 BGB kann eine Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtberechtigten zur Anspruchskürzung, ggfs. auf Null, führen. Dafür ist grundsätzlich zweierlei Voraussetzung:

     

      • Die Geschwindigkeitsüberschreitung muss unstreitig oder erwiesen sein. Nicht immer ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit der entscheidende Maßstab. Besonderheiten wie Dunkelheit, Nässe, bauliche Gegebenheiten an der Kreuzung/Einmündung können eine Reduzierung gebieten (§ 3 Abs. 1 StVO); ferner die Konstellation „halbe Vorfahrt“ (dazu VA 16, 25).

     

      • Die Geschwindigkeitsüberschreitung muss sich auf das Unfallgeschehen oder dessen Folgen (z.B. Umfang der Beschädigungen, Ausmaß der Verletzungen) ursächlich ausgewirkt haben.

     

    • 6. Darlegungs- und Beweislast: Diese hat der Wartepflichtige, wenn er eine überhöhte Geschwindigkeit geltend macht (st. Rspr., OLG Saarbrücken 28.4.16, 4 U 106/15). Die nackte Behauptung eines „erheblichen“ Geschwindigkeitsverstoßes genügt nicht. Verlangt wird konkreter Vortrag von Anknüpfungstatsachen (z.B. Bremsspuren, Schadensbilder). Dreierlei muss der Wartepflichtige darlegen und beweisen: die Soll-Geschwindigkeit (am wenigsten problematisch), die davon abweichende Ist-Geschwindigkeit und deren Unfallkausalität.

     

      • a) Ist-Geschwindigkeit: Sie zu ermitteln, ist im Zweifel Aufgabe eines Sachverständigen. Die Gerichte nehmen bei Angabe einer Bandbreite im Gutachten (z.B. 64 bis 79 km/h) i.d.R. den niedrigeren der beiden Werte (OLG Saarbrücken NJW 10, 2525; OLG Hamm NZV 10, 28). Dies deshalb, weil nur feststehende Tatsachen in die Haftungsabwägung einfließen dürfen. In Grenzen kann es erlaubt sein, den unteren Wert anzuheben, etwa bei beweiskräftigen Zeugenaussagen, vgl. OLG München VA 13, 128. Bei einer Überschreitung um 40 oder mehr Prozent ist Vorsatz indiziert (OLG Hamm VA 16, 157). Das erhöht die Betriebsgefahr zusätzlich.

     

    • Zeugenaussagen sind allenfalls bedingt geeignet, vgl. OLG München 6.9.13, 10 U 2336/13, m. w. N. Wichtig für die Formulierung des Beweisantrags: KG NZV 08, 626; zur Frage der (Un-)Geeignetheit auch KG NZV 09, 597. Zur indiziellen Bedeutung von Zeugenaussagen bzgl. der Fahrweise („rasant“) und des Motorgeräusches OLG München VA 13, 128.

     

    • Fahrtenschreiberdiagramme/Tachografen sind bekanntlich nur für bestimmte Fahrzeuge vorgeschrieben (z.B. Lkw, Busse, RTW, KTW). Unfalldatenschreiber (UDS) sind, da nicht obligatorisch, nur vereinzelt anzutreffen (z.B. bei Flottenfahrzeugen). Zur Bedeutung einer Tachoanzeige nach einer Kollision Winninghoff, DAR 07, 548.

     

    • In Fällen ohne bzw. ohne aussagekräftige Bremsspuren ist ein Geschwindigkeitsnachweis keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Bei einem Pkw mit ABS/ABV sprechen fehlende Bremsspuren weder für eine maßvolle Geschwindigkeit noch gegen eine Vollbremsung (OLG Naumburg 10.1.14, 10 U 11/13). Aus den Verformungen an den Fahrzeugen und/oder der Wurfweite (z. B. Zweiradfahrer) lassen sich unter Umständen beweiskräftige Rückschlüsse auf die Kollisionsgeschwindigkeit und darüber auf die Annäherungsgeschwindigkeit ziehen (näher Eggert, VA 09, 42).
    • b) Kausalitätsnachweis: Zwischen der feststehenden Geschwindigkeitsüberschreitung und dem Unfall/Schaden muss ein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Deshalb muss der Sachvortrag um Ausführungen zur Kausalität ergänzt werden (KG NZV 08, 626). Dazu, unter welchen Voraussetzungen der erforderliche rechtliche Ursachenzusammenhang anzunehmen ist, s. BGH NJW 03, 1929; NJW 05, 1940. Hiernach gilt: Eine Geschwindigkeitsüberschreitung als solche ist, isoliert betrachtet, haftungsrechtlich irrelevant. Ohne Nachweis des rechtlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit und dem Unfall muss sie bei der Haftungsabwägung wie auch bei der Verschuldenshaftung unberücksichtigt bleiben.

     

    • Der Kausalitätsnachweis ist allerdings auch geführt, wenn der Unfall auch bei Einhaltung der gebotenen Geschwindigkeit (räumlich und zeitlich) unvermeidbar war oder Vermeidbarkeit nicht positiv festgestellt werden kann, aber die Unfallfolgen bei verkehrsgerechter Fahrweise geringer ausgefallen wären. Zu dieser erweiterten Kausalitätsbetrachtung, oft übersehen, instruktiv OLG Saarbrücken VA 14, 201; OLG Frankfurt a.M. VersR 14, 1471.
     

     

    Arbeitshilfe / Verteidigungsmöglichkeiten des angeblichen Schnellfahrers

    Mit dem Vorwurf, zu schnell gefahren zu sein, muss sich die beschuldigte Partei vor allem unter folgenden Blickwinkeln auseinandersetzen:

     

    • 1. Im Zusammenhang mit dem Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG (unabwendbares Ereignis) oder nach § 7 Abs. 2 StVG (höhere Gewalt).
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    • Selbst im Rahmen des § 17 Abs. 3 StVG stehen die Chancen schlecht, denn der Nachweis „ideal“ langsam gefahren zu sein, ist bei Fahrzeugen ohne Tachografen o.Ä. praktisch kaum zu führen.

     

    • 2. Deutlich besser sind die Aussichten in Bezug auf die Haftungsquote/Mithaftung. Hier ist das Bestreiten des behaupteten Geschwindigkeitsverstoßes die erste Verteidigungslinie. Eine eigene (positive) Angabe zur tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit zu machen, sollte gut überlegt sein. Denn es droht die Gefahr, dass das Gericht bzw. der Sachverständige selbst diese vermeintlich angepasste Geschwindigkeit für unangemessen hält. Hinzukommen kann der Nachteil, der mit einem Geständnis (§ 288 ZPO) verbunden ist (dazu OLG München VA 16, 147; OLG Düsseldorf SP 07, 277).