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  • · Fachbeitrag · Unfallschadensregulierung

    Fragwürdiges Vorfahrturteil des OLG München

    • 1.Stellt der Sachverständige hinsichtlich der gefahrenen Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten eine Bandbreite von 64 bis 79 km/h fest, schildern die Zeugen jedoch ein rasantes Fahren, eine wahrgenommene hohe Geschwindigkeit und die Feststellung eines hohen Motorgeräusches, lässt dies den Schluss auf eine höhere Geschwindigkeit als die vom Sachverständigen festgestellte Mindestgeschwindigkeit zu.
    • 2.Wer die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um deutlich mehr als 30 Prozent überschreitet, kann trotz feststehender Verletzung seiner Vorfahrt überwiegend haften (hier: zu 2/3).
     

    Sachverhalt und Entscheidungsgründe

    Wegen geparkter Autos konnte die wartepflichtige Kl. die Vorfahrtsstraße nur begrenzt einsehen. Dort näherte sich der Bekl. zu 2) mit seinem Mercedes 500 SL. Der Sachverständige gab eine Bandbreite von 64 bis 79 km/h an. Das OLG stellte nicht auf den unteren Wert ab, sondern ermittelte eine Ausgangsgeschwindigkeit von „über 70 km/h“. Zwei Zeugen hatten von einer „hohen“ Geschwindigkeit und einem auffallend hohen Motorgeräusch gesprochen, nicht etwa vom AMG-Sportauspuff, sondern vom Motor. In der Gesamtschau genügte das dem Senat, um eine Geschwindigkeit „von mehr als 70 km/h“ anzunehmen. Die Haftungsquote des LG von 1/3 : 2/3 zulasten der Kl. drehte der Senat um. Der Verstoß des Mercedes-Fahrers gegen § 1 Abs. 2, § 11 Abs. 3 StVO erscheine im Hinblick auf die Unfallvermeidbarkeit und die deutlich überhöhte Geschwindigkeit als so schwerwiegend, dass die Bekl. überwiegend haften. Der Kl. hielt man außer der Sichtbehinderung zugute, dass sie langsam in die Vorfahrtsstraße eingefahren und im Zeitpunkt der Kollision gestanden habe.

     

    Praxishinweis

    Die Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht zu kritisieren.

     

    Geschwindigkeitsüberschreitungen können in Vorfahrtfällen in vier Bereichen relevant sein:

     

    • in der Sichtbarkeitsfrage,
    • beim Anscheinsbeweis,
    • beim Vertrauensgrundsatz
    • und nicht zuletzt bei der Haftungsverteilung.

     

    Der vorliegende Fall betraf vor allem den letzten Punkt. Unter zwei Voraussetzungen kann eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur (Mit-)Haftung bzw. zur Anspruchskürzung führen. Erstens: Sie muss als solche zweifelsfrei feststehen. Zweitens: Sie muss sich auf das Unfallgeschehen oder dessen Folgen ursächlich ausgewirkt haben.

     

    • Zweifelsfrei feststehende Geschwindigkeitsüberschreitung
    • Dass der 500 SL mit mind. 64 km/h bei höchstzulässigen 50 km/h zu schnell war, steht nach dem Gutachten außer Frage. War aber eine höhere Geschwindigkeit feststellbar? In der Regel nimmt der Richter aus gutem Grund den unteren Wert (hier: 64 km/h), wenn der Sachverständige die Ausgangsgeschwindigkeit in von-bis-Werten angegeben hat. Schon der Mittelwert gilt als tabu, erst recht der obere Grenzwert. Dass der Zeugenbeweis gerade in puncto Fahrgeschwindigkeit alles andere als verlässlich ist, weiß natürlich auch der OLG-Senat. Gleichwohl hebt er den unteren Grenzwert deutlich an. Schneller als 70 km/h müsse der Mercedes gefahren sein. Begründet wird dies mit Zeugenbekundungen wie „mit hoher Geschwindigkeit eingebogen, weiter beschleunigt und hohes Motorengeräusch“. Sind diese Angaben aber wirklich ergiebig und belastbar? Der Sachverständige, der sie gekannt haben dürfte, hat daraus keine Schlüsse zum Nachteil der Bekl. gezogen. Der Senat tut es, ohne seine Sachkunde in diesem Punkt konkret darzulegen. Lediglich die Feststellung, dass der 500 SL einen großvolumigen Achtzylindermotor hat, deckt er mit seiner Sachkenntnis als Fachsenat ab. Aus dem Motorendrehzahlgeräusch auf die Geschwindigkeit zu schließen, ist äußerst heikel, schon bei Motorrädern, erst recht bei Pkw. Auch ein Fachsenat für Unfallsachen ist gut beraten, diese Frage mit dem Sachverständigen zu erörtern.

     

    • Ursächlichkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung
    • Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und einem Unfall ist nur zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung kann die kritische Situation bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten (BGH NJW 03, 1929). Wie schnell war der Mercedes in dem entscheidenden Moment, für den die Unfallanalytiker den Begriff „Signalposition“ verwenden? Welche gravierenden Auswirkungen die Festlegung der Signalposition auf die Ermittlung der Ausgangsgeschwindigkeit haben kann, zeigt der Beitrag von Schimmelpfennig/May in VRR 11, 137; s. auch Schimmelpfennig, DAR 12, 628, 629. Für den Wartepflichtigen ist es ratsam, die Signalposition (Gefahrerkennungspunkt) möglichst früh zum Start hin zu legen (der Startzeitpunkt ist es jedoch nicht). Demgegenüber liegt es im Interesse des Vorfahrtberechtigten, die Signalposition möglichst spät in Richtung Fahrbahn zu verorten. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder ein Reaktionsverzug ist dann schwieriger nachzuweisen.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Zum Gesamtkomplex „Geschwindigkeit als Unfallursache: Ermittlung, Zurechnung und Abwägung im Haftpflichtprozess“ siehe Eggert, VA 09, 42 mit Quotentabelle auf Seite 46/47.
    • Ein weiterer Orientierungssatz zu dem Münchener Urteil lautet: „Für eine bei einem Verkehrsunfall erlittene HWS-Distorsion mit einmaliger ärztlicher Behandlung und ohne folgende Erwerbsunfähigkeit ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 300 EUR angemessen.“ So apodiktisch hat es der Senat in seinem Urteil nicht formuliert.
    Quelle: Ausgabe 08 / 2013 | Seite 128 | ID 42214568