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  • 19.02.2009 | Unfallhaftpflichtprozess

    Geschwindigkeit als Unfallursache: Ermittlung, Zurechnung und Abwägung im Haftpflichtprozess

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    Sieben Gutachten, sieben Geschwindigkeiten - so das Fazit nach einer folgenschweren Pkw/Pkw-Kollision. Allerdings hatte der Opel Kadett keine verwertbaren Spuren hinterlassen. Gebremst oder nicht gebremst? Das war die zentrale Frage für die Ermittlung der Geschwindigkeit. Nicht angepasste Geschwindigkeit ist nach wie vor die Hauptunfallursache. Worauf es im Haftpflichtprozess ankommt, wird im Folgenden deutlich gemacht.  

     

    Übersicht I: Grundbegriffe und Grundsätze (alphabetisch geordnet)

    Ausgangsgeschwindigkeit: Die Geschwindigkeit im Zeitpunkt X vor der Kollision. X meint entweder die Gefahrerkennung (= Reaktionsaufforderung) oder den Beginn des Bremsens (Bremsausgangsgeschwindigkeit).  

     

    Differenzgeschwindigkeit: s. Relativgeschwindigkeit  

     

    EES (energy equivalent speed): Geschwindigkeit, die notwendig gewesen wäre, um das Fahrzeug zu verformen, wenn die gesamte Bewegungsenergie in Deformationsarbeit umgesetzt worden wäre. Nur bei einem zentralen Aufprall gegen ein starres, unbewegliches Hindernis (Wand, Baum) entspricht die Kollisionsgeschwindigkeit annähernd der EES. In der Regel ist sie nur eine der Eingangsgrößen bei der Berechnung von Kollisions- und Relativgeschwindigkeit. Zu den Fehlerquellen s. Becke VRR 08, 174.  

     

    Geschwindigkeitsänderung: s. Relativgeschwindigkeit  

     

    Kollisionsgeschwindigkeit: Geschwindigkeit, die ein Fahrzeug im Zeitpunkt des Kollisionsbeginns hat (= Aufprallgeschwindigkeit). Sie wird ermittelt anhand der Fahrzeugschäden, Spuren und Endlagen, ggf. auch mit Hilfe von Aufzeichnungen auf Diagrammscheiben („Ausschläge“). Relativ großer „Spielraum“.  

     

    Relativgeschwindigkeit: Geschwindigkeitsunterschied (deshalb auch „Differenzgeschwindigkeit“) zwischen zwei Fahrzeugen beim Aufprall. Fährt Fz. A mit 20 km/h auf stehendes Fz. B, beträgt die Relativgeschwindigkeit 20 km/h. Sie ist die Grundlage für die Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (delta v), die in HWS-Sachen als die maßgebende Größe für die Einschätzung der Insassenbelastung gilt.  

     

    Richtgeschwindigkeit: Schneller als 130 km/h begründet noch kein Verschulden, kann aber eine Mithaftung aus Betriebsgefahr rechtfertigen (OLG München DAR 07, 465; OLG Jena MDR 06, 748). Der Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG ist i.d.R. nicht zu führen (BGH VersR 92, 714).  

     

    Schwellzeit: Die der Reaktionszeit (i.d.R. 0,8 sec) nachgelagerte Zeitspanne vom Beginn der Bremswirkung bis zur vollen Bremswirkung. Bei Pkw i.d.R. 0, 2 sec, bei Krädern (ohne ABS) mehr, wenn „zögerlich“ gebremst wurde; s. auch VA 06, 170.  

     

    Sichtfahrgeschwindigkeit: Die vom Sichtfahrgebot (§§ 3, 18 StVO) geforderte Geschwindigkeit. Näheres in Übersicht II.  

     

    Unabwendbares Ereignis: Der Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG kann auch gelingen, wenn der Fahrer im Vorfeld der Kollision irgendwo nachweisbar zu schnell gefahren ist. Hatte sich die dadurch geschaffene Gefahrerhöhung im Augenblick des Unfalls bereits wieder neutralisiert, kann er „unabwendbar“ gewesen sein (BGH NJW 88, 58; VersR 64, 168).  

     

    Vermeidbarkeit: Hauptfrage im Gutachten ist, ob die Kollision bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit - räumlich und zeitlich - vermieden worden wäre. Vermeidbarkeit bedeutet nicht Unabwendbarkeit i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG. Ohne feststehende (unstreitige oder bewiesene) Vermeidbarkeit keine deliktische Haftung, weder nach § 823 Abs. 1 noch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 3 StVO. Für die StVG-Haftung (§§ 7, 18) gilt: Die Fahrgeschwindigkeit ist für das Merkmal „bei dem Betrieb“ (§ 7 Abs. 1 StVG) irrelevant. Die Kollision als solche reicht zur Bejahung der Gefährdungshaftung. Sich davon nach § 17 Abs. 3 StVG zu befreien, ist fast ausgeschlossen (s.o.). Bauartbedingte Langsamkeit (bis 20 km/h) befreit von der Gefährdungshaftung, aber auch nur davon (§ 8 Nr. 1 StVG). Anlass der Vermeidbarkeitsprüfung im Rahmen der §§ 7, 18 StVG ist die Mithaftung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG bzw. § 254 Abs. 1 BGB. Da nur unfallursächliche Umstände in die Haftungsabwägung einfließen dürfen, muss zwischen der Geschwindigkeitsüberschreitung und dem Unfall ein Kausalzusammenhang bestehen (BGH NJW 88, 58; 03, 1929; 05, 1940). Ist die Vermeidbarkeit nicht positiv feststellbar, kann dieser Zusammenhang grds. nicht bejaht werden.  

     

    Beachte: Die Vermeidbarkeitsprüfung beschränkt sich nicht auf die Geschwindigkeitsfrage. Zu fragen ist auch, ob die Kollision bei pflichtgemäßer Reaktion (sachgerechtes Bremsen und/oder rechtzeitige Ausweichlenkung) vermieden worden wäre. Siehe auch Übersicht IV.  

     

    Vermeidbarkeitsgeschwindigkeit: Geschwindigkeit, bei der die Kollision sowohl räumlich als auch zeitlich vermieden worden wäre. Sachverständige prüfen mitunter nur anhand der allg. zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Diese enge Vermeidbarkeitsbetrachtung ist nicht zu kritisieren, sofern keine besonderen Umstände vorgelegen haben, die Grund für ein noch langsameres Fahren waren, z.B. Kinder, unklare Verkehrslage, schlechte Sicht. Nach derartigen Umständen muss der Geschädigten-RA Ausschau halten (Polizeiakte, Fotos, Google Earth), um sie im Verfahren als Tempobegrenzer einsetzen zu können. Dann kann eine „erweiterte Vermeidbarkeitsbetrachtung“ notwendig werden. Sinnvoll kann sein, den Sachverständigen die Vermeidbarkeitsgeschwindigkeit positiv festlegen zu lassen. Das Gericht muss dann entscheiden, ob diese Geschwindigkeit geboten war.  

     

     

    Übersicht II: Die Soll-Geschwindigkeit

    Die StVO unterscheidet zwischen absoluten und relativen Geschwindigkeitsvorschriften. Die Formel „auch unter günstigsten Umständen“ besagt nicht, dass die allg. zulässige Höchstgeschwindigkeit „nur“ unter günstigsten Bedingungen gefahren werden darf (BGH NJW 06, 896 zu § 18 Abs. 5 StVO). Die Frage, ob langsamer als höchst zulässig zu fahren ist, bestimmt sich nach den allg. Bestimmungen der StVO, insbes. nach den relativen Geschwindigkeitsvorschriften und hier vor allem nach dem Grundsatz des „Fahrens auf Sicht“ (§ 3 Abs.1, § 18 Abs. 5, 6 StVO).  

     

    Situationsbedingte Beschränkung: Ob und inwieweit Besonderheiten wie Dunkelheit, Nebel, Nässe, bauliche oder botanische Gegebenheiten, eine Fahrbahnverschmutzung (dazu BGH VersR 07, 558) oder eine unklare Verkehrssituation (z.B. bei Vor-Unfall, OLG Stuttgart VRS 113, 86) eine Herabsetzung der an sich zulässigen Geschwindigkeit erfordern, entscheidet das Gericht (Rechtsfrage), ggf. mit sachverständiger Beratung. Zum Sichtfahrgebot bei Dunkelheit außerorts BGH NJW 07, 506 (70 km/h); OLG Nürnberg NZV 07, 301; auf Autobahnen OLG Düsseldorf 20.8.07, I-1 U 258/06, Abruf-Nr. 073122. Eine Reduzierung der an sich höchst zulässigen Geschwindigkeit kann gem. § 3 Abs. 2a StVO geboten sein (Kinder und ältere Menschen, BGH NJW 02, 2324), oder infolge einer Haltestelle, z.B. Bushaltebucht (BGH NJW 06, 2110). Auch „halbe Vorfahrt“ kann eine Verminderung der Geschwindigkeit erfordern (BGH VersR 77, 917). Ist eine Vorfahrtverletzung erkennbar, heißt es gleichfalls „Gas weg“, zumal bei ohnehin zu schnellem Fahren (BGH NJW 03, 1929). Zur Bedeutung einer blinkenden Vorampel BGH NJW 05, 1940, eines eingeschalteten Warnblinklichts (Lkw) BGH VersR 07, 1095.