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  • · Fachbeitrag · Wirtschaftlichkeitsprüfung

    Beratung vor Regress: Keine Nullstellung der Wirtschaftlichkeitsprüfung

    von RA Nico Gottwald (www.rpmed.de) und RA, FA für MedR, Wirtschaftsmediator Dr. Tobias Scholl-Eickmann (www.kanzlei-am-aerztehaus.de

    | Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit zwei parallelen Entscheidungen vom 22. Oktober 2014 Rechtsunsicherheiten in Bezug auf die Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgeräumt (Az. B 6 KA 8/14 sowie B 6 KA 3/14). So steht nun fest, dass der seit 1. Januar 2012 geltende Grundsatz „Beratung vor Regress“ nur für Vertragsärzte gilt, die ihre Richtgrößen bislang noch nicht - durch die Prüfgremien förmlich festgestellt - um mehr als 25 Prozent überschritten haben. Eine vollständige „Nullstellung“ der Richtgrößenprüfung für die Zeit ab dem 1. Januar 2012 erfolgt also nicht. Zudem versagte das Gericht Ärzten die Beratung, deren Verfahren durch den Beschwerdeausschuss bereits vor dem 26. Oktober 2012 abgeschlossen worden waren. |

    Die Fälle

    Ein hausärztlicher Internist aus Nordrhein-Westfalen sowie ein Orthopäde aus Baden-Württemberg wandten sich gegen Regressbescheide, die Mitte des Jahres 2012 durch den Beschwerdeausschuss für die Prüfjahre 2009 bzw. 2008 festgesetzt worden waren. Die klagenden Ärzte beriefen sich auf den mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz zum 1. Januar 2012 eingefügten § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V, wonach bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent vor dem Ausspruch eines Regresses eine individuelle Beratung erfolgen muss. Erstinstanzlich waren die Kläger beim Sozialgericht (SG) Stuttgart bzw. Düsseldorf erfolgreich. Dem Arzt aus Baden-Württemberg gelang es sogar im Wege des einstweiligen Rechtschutzes das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg auf seine Seite zu ziehen.

     

    MERKE | Am 26. Oktober 2012 - und somit nach der Entscheidung des Beschwerdeausschusses in den beiden Fällen - stellte der Gesetzgeber ergänzend in Satz 7 der Regelung klar, dass der Grundsatz „Beratung vor Regress“ auch für Verfahren gelte, die am 1. Januar 2012 noch nicht abgeschlossen waren.

     

    Die Entscheidung des BSG

    Letztendlich scheiterten beide Klagen beim BSG. Die Fassung des § 106 Abs. 5e SGB V zum 1. Januar 2012 könne Fälle vor diesem Datum nicht erfassen, argumentierte der 6. Senat des BSG. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats sei im Fall von Wirtschaftlichkeitsprüfungen das Recht anzuwenden, das zum Zeitpunkt der Verordnung des Arznei- bzw. Heilmittels galt. Die Regelung des Gesetzgebers vom 26. Oktober 2012 sei zudem keine „Klarstellung“, sondern eine Neuregelung, die erst ab dem Zeitpunkt ihrer Verkündung, das heißt ab dem 26. Oktober 2012 gelte und somit nicht für die vorliegenden Verfahren, deren Regressbescheide bereits Mitte 2012 festgesetzt wurden.

     

    Zudem könne sich der Orthopäde nicht auf die Regelung berufen, da er sein Richtgrößenvolumen im Jahr 2008 nicht „erstmalig“, sondern bereits mehrmals, rechtskräftig festgestellt um mehr als 25 Prozent überschritten habe. Es erfolge gerade keine „Nullstellung“ der Wirtschaftlichkeitsprüfung ab 2012. Vielmehr entfalle die „Erstmaligkeit“ und damit der Beratungsvorrang, wenn ein Vertragsarzt (durch die Prüfgremien förmlich festgestellt) sein Richtgrößenvolumen um mehr als 25 Prozent bereits einmal überschritten habe.

     

    FAZIT | Das Urteil enttäuscht, versagt es den Vertragsärzten doch die ersehnte und vom Gesetzgeber vermutlich auch beabsichtigte „Nullstellung“ der Richtgrößenprüfung. Zwar liegt bisher nur der Terminsbericht des BSG vor und nicht die schriftliche Urteilsbegründung, das Urteil wirft jedoch bereits jetzt viele Fragen auf und muss sich die Kritik entgegen halten lassen, den eindeutigen Willen des Gesetzgebers missachtet zu haben.

     

    Der Gesetzgeber ging ausweislich der Gesetzesmaterialien davon aus, dass § 106 Abs. 5e SGB V bereits in der Fassung vom 1. Januar 2012, das heißt auch ohne den später eingefügten Satz 7, Altfälle vor dem 1. Januar 2012 erfassen würde. Eine sofortige Anwendung eines neuen Gesetzes auf zurückliegende Altfälle ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG sogar explizit möglich, wenn es sich, wie hier, um eine begünstigende Regelung handelte und Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht entgegen standen. Letzteres bestätigte das BSG ausdrücklich.

     

    Nachdem der Gesetzgeber festgestellt hatte, dass nicht alle die Sozialgerichte den neuen § 106 Abs. 5e SGB V in der Fassung vom 1. Januar 2012 auf Altfälle anwendeten, versuchte er mit der von ihm bezeichneten „Klarstellung“ im neuen Satz 7 alle Zweifel auszuräumen. Die Vorschrift des § 106 Abs. 5e SGB V sollte nach dieser „Klarstellung“ alle offenen Verfahren erfassen, die zum 1. Januar 2012 nicht durch einen Widerspruchsbescheid des Beschwerdeausschusses abgeschlossen waren.

     

    Das BSG verweigerte dem Gesetzgeber jedoch diese „Klarstellung“ und entschied nun, dass § 106 Abs. 5e SGB V nicht für die Fälle gelte, die vor dem 26. Oktober 2012 durch den Beschwerdeausschuss entschieden worden waren. Damit entzieht das BSG dem Anwendungsbereich des Gesetzes - trotz des eindeutigen Wortlauts - den Zeitraum von 1. Januar bis zum 25. Oktober 2012. Der Gesetzgeber muss sich zwar vorhalten lassen, dass er den gesamten § 106 Abs. 5e SGB V wenig glücklich formuliert hat - auch dies konnte man in der mündlichen Urteilsbegründung der Kasseler Richter heraushören - dennoch war die Intention des Gesetzgebers der Vorschrift eindeutig zu entnehmen.

     

    Für die Auslegung des Merkmals der „erstmaligen Überschreitung“ griffen die Richter dann jedoch wieder auf Zeiträume vor dem 1. Januar 2012 zurück. Diese Auslegung ist sicher möglich und daher rechtlich nicht angreifbar; aber auch hier gilt, dass den Gesetzgebungsmaterialien eher zu entnehmen ist, dass der Gesetzgeber das Ziel verfolgte, dass ausnahmslos jeder Vertragsarzt vor der Festsetzung eines Regresses zwingend beraten werden müsse. Wortwörtlich heißt es in der Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache 17/10156, S. 95): „Der Grundsatz ,Beratung vor Regress' gilt ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des GKV-VStG am 1. Januar 2012 für alle laufenden und nachfolgenden Verfahren der Prüfgremien - auch soweit sie zurückliegende Prüfzeiträume betreffen. Die Prüfungsstelle und der Beschwerdeausschuss können seitdem keinen Erstattungsbetrag mehr festsetzen, wenn nicht zu dem früheren Prüfzeitraum die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Beratung der Vertragsärztin oder des Vertragsarztes erfolgt ist.“

     

    Praxishinweis | Viele Prüfgremien sind in der Zwischenzeit dazu übergegangen, bei erstmaligen Überschreitungen um mehr als 25 Prozent grundsätzlich eine Beratung festzusetzen. Dies ist jedoch nur dann zulässig, wenn nach Berücksichtigung aller Praxisbesonderheiten des Vertragsarztes eine Überschreitung von mehr als 15 Prozent des Richtgrößenvolumens verbleibt. Jeder Vertragsarzt sollte sich daher auch gegen eine Beratung zur Wehr setzen, wenn er der Auffassung ist, dass seine Praxisbesonderheiten nicht ausreichend gewürdigt wurden. Schließlich schafft die erfolgte Beratung die Möglichkeit für die Prüfgremien, für den Prüfzeitraum nach der Beratung erstmals einen Regress festzusetzen. Hier könnte auch das Urteil des BSG bezüglich des Internisten wertvolle Hilfe leisten, in dem erstmals seit langer Zeit durch den Senat wieder - gegen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses - eine Praxisbesonderheit anerkannt worden ist. Ein Lichtblick am Horizont!

    Quelle: Ausgabe 11 / 2014 | Seite 10 | ID 43037700