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  • · Fachbeitrag · Entgeltfortzahlung

    Auch bei einer Selbstverletzung des ArbN kann die Entgeltfortzahlungspflicht fortbestehen

    Der Verschuldensbegriff nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG ist nicht mit dem zivilrechtlichen Verschuldensbegriff identisch. Vielmehr ist im Rahmen des Verschuldens nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG ein grober Verstoß gegen das eigene Interesse eines verständigen Menschen erforderlich. Dies setzt ein besonders leichtfertiges, grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten gegen sich selbst voraus (LAG Hessen 23.7.13, 4 Sa 617/13, Abruf-Nr. 133611).

     

    Sachverhalt

    Der ArbN arbeitete als Warenauffüller mit einem Gabelstapler in einem Baumarkt. Anfang August 2012 brachte er an den von ihm benutzten Gabelstapler ein Plexiglasdach als provisorischen Wetterschutz an. Nach einer Rüge durch den betrieblichen Sicherheitsbeauftragten forderte der ArbG den ArbN zum Abbau des Plexiglasdachs auf. Hierüber geriet der ArbN so in Wut, dass er zunächst Materialien umherwarf und dann dreimal mit der Faust auf ein Verkaufsschild einschlug, das auf einer Holzstrebe montiert war. Diese traf er mehrfach mit seiner Faust und brach sich dabei die Hand.

     

    Im Anschluss hieran war der ArbN im Zeitraum zwischen dem 9.8. und dem 19.9.12 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die in diesem Zeitraum angefallenen Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von 2.662,52 EUR brutto verweigerte der ArbG mit dem Einwand, der ArbN trage selbst Schuld an seiner Verletzung. Spätestens nach dem ersten Schlag habe er die Holzstrebe spüren müssen, gleichwohl habe er weiter auf das Verkaufsschild eingeschlagen. Insofern sei von einer vorsätzlichen Herbeiführung der Verletzungen auszugehen.

     

    Das Arbeitsgericht Offenbach hat der Klage auf Entgeltfortzahlung des ArbN stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung des ArbG zum LAG Hessen blieb erfolglos. Die Revision wurde seitens des LAG nicht zugelassen.

     

    Entscheidungsgründe

    Das LAG betont in seiner Entscheidung, dass der Verschuldensbegriff nach § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG losgelöst vom allgemeinen zivilrechtlichen Verschuldensbegriff, der jede Art der Fahrlässigkeit umfasse, zu sehen sei. Verschulden im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG erfordere einen groben Verstoß gegen das Eigeninteresse eines verständigen Menschen, was ein besonders leichtfertiges und grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten gegen sich selbst voraussetze.

     

    Im Verhalten des ArbN im entschiedenen Fall liege ein solches Verschulden hingegen nicht. Es sei nicht ersichtlich, dass der ArbN seine Verletzung bewusst herbeiführen wollte. Daher liege nur eine mittlere und keine grobe Fahrlässigkeit im Rahmen des Verschuldens gegen sich selbst durch das Einschlagen auf das Verkaufsschild und die Holzstrebe vor. Zwar habe der ArbN bei verständiger Betrachtung damit rechnen müssen, dass er durch die Schläge eine empfindliche Verletzung riskiere. Er habe sich hingegen offensichtlich in einem heftigen Wut- und Erregungszustand befunden und sich deshalb kurzzeitig nicht unter Kontrolle gehabt. Dies sei zwar nicht billigenswert, aber menschlich nachvollziehbar. Aus Wut und Erregung habe er die erforderliche Kontrolle verloren, was sicher leichtfertig aber nicht derart schuldhaft gewesen sei, dass von besonderer Leichtfertigkeit oder grober Fahrlässigkeit ausgegangen werden könne.

     

    Praxishinweis

    Die Entscheidung fügt sich in die Linie der Rechtsprechung ein, dass ein Verschulden im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG nur bei einem besonders leichtfertigen Verhalten gegen die eigenen Interessen angenommen werden kann. Weder gefährliche Sportarten, wie Drachenfliegen oder Kampfsportarten, noch ein kurzfristiger Kontrollverlust aufgrund Erregung und damit verbundene Verletzungen sind letztlich dazu geeignet, einen grob fahrlässigen oder vorsätzlichen Verstoß gegen die Obliegenheit zur Wahrung eigener Interessen des ArbN anzunehmen.

     

    Daher wird der ArbG in diesen Fällen von der Pflicht zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht frei, obwohl er annimmt, dass den ArbN durchaus „ein Verschulden“ an der Arbeitsunfähigkeit durch die erlittenen Verletzungen trifft.

     

    Checkliste / Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

    • Liegt eine Krankheit im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG vor, die den ArbN an der Erbringung der Arbeitsleistung hindert?
    • Wenn ja, trifft den ArbN am Krankheitseintritt ein „Verschulden“ nach § 3 Abs. 1 EFZG?
      • nur gegeben, wenn besonders leichtfertiges Verhalten gegen Eigeninteressen des ArbN vorliegt
      • in der Regel nicht bei gefährlichen (unverschuldeten) Schlägereien etc.
    • Wenn nein, Entgeltfortzahlungspflicht des ArbG für die Dauer von maximal sechs Wochen.
    • Höhe der Entgeltfortzahlung nach § 4 Abs. 1 EFZG = regelmäßiges Arbeitsentgelt der letzten 13 Wochen ohne Überstunden und Aufwendungsersatz
    • Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) = Vorlagepflicht nur, wenn länger als drei Kalendertage nach § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG
     

     

    Weiterführende Hinweise

    • Bei jeder Krankheit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung? LAG Köln in AA 12, 19
    • Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am ersten Krankheitstag: BAG in AA 13, 8
    • Der praktische Fall: „Bei jeder Krankheit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?“ in AA 11, 182
    • Kündigung wegen Arbeit während der Krankheit: LAG Rheinland-Pfalz in AA 13, 184
    • Zulässige Fotoaufnahmen eines ArbN während einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit: LAG Rheinland-Pfalz in AA 13, 165
    Quelle: Ausgabe 02 / 2014 | Seite 25 | ID 42483557