Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 08.07.2021 · IWW-Abrufnummer 223365

    Oberlandesgericht Frankfurt a. M.: Beschluss vom 06.05.2021 – 2 Ws 132/20

    Das unter dem Namen "Cum-/Ex"-Leerverkaufsmodell bekannt gewordene Geschäftsmodell erweist sich als Betrugssystem, mit dem alleinigen Ziel, sich eine nur einmal einbehaltene Steuer zweimal auszahlen zu lassen. Das vorliegende komplexe Betrugssystem erfüllt neben einer Strafbarkeit nach § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 263 Abs. 5 StGB.


    OLG Frankfurt
    2. Strafsenat

    06.05.2021

    2 Ws 132/20

    Tenor

    Der Antrag des Angeklagten A vom 19. März 2021, das Verfahren gemäß § 33a StPO in die Lage vor Erlass des Beschlusses vom 09. März 2021 zurückzuversetzen, wird zurückgewiesen.

    Gründe

    I.

    Der Senat hat mit Beschluss vom 09. März 2021, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, die Beschwerde des Angeklagten A gegen den Haftbefehl des Landgerichts Wiesbaden vom 26. Oktober 2020 als unbegründet verworfen.

    Der Angeklagte A hat mit Schriftsatz vom 19. März 2021 Anhörungsrüge erhoben und beantragt, das Verfahren gemäß § 33a StPO in die Lage vor Erlass des Beschlusses vom 09. März 2021 zurückzuversetzen. Der Angeklagte rügt, dass der Senatsbeschluss in mehrfacher Weise gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verstoße, insbesondere die Rechtsprechung des BFH übergangen und keine Möglichkeit zu einer Stellungnahme zur Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes eingeräumt worden sei.

    II.

    Die Anhörungsrüge gemäß § 33a StPO mit dem Ziel, das Verfahren in die Lage vor Erlass der Entscheidung vom 09. März 2021 zurückzuversetzen, ist unbegründet.

    Ein angeblicher Gehörsverstoß im Rahmen der Beschwerdeentscheidung durch den Senat liegt nicht vor. Der Angeklagte A hatte ausreichend Gelegenheit im Verfahren über die von ihm eingelegte Haftbeschwerde Stellung zu nehmen und hat davon in mehreren Stellungnahmen ausgiebig Gebrauch gemacht. Der Senat hat das Vorbringen des Angeklagten A umfänglich zur Kenntnis genommen und seinen Antrag mit Beschluss vom 09. März 2021 beschieden. Die nunmehr im Rahmen der Gehörsrüge vorgebrachten Ansichten erschöpfen sich in einer wiederholenden Zusammenstellung und Aufbereitung der von ihm bereits zuvor vertretenen. Neue Tatsachen, die zu einer Veränderung der zu beurteilenden Sachlage führen könnten, sind nicht vorgetragen. Dass der Senat den Rechtsansichten des Angeklagten nicht folgt, begründet keinen Gehörsverstoß.

    Soweit der Angeklagte einwendet, der Senat habe sich nicht mit der einschlägigen Rechtsprechung des BFH zu sog. „Cum-/Ex“-Geschäften auseinandergesetzt, ist dies unzutreffend. Dass die Finanz- und Steuerbehörden und die Finanzgerichtsbarkeit in ihren Entscheidungen eine Strafwürdigkeit in vergleichbaren Konstellationen nicht festgestellt hätten, geht gänzlich fehl. Hierzu verhält sich bereits eingehend der Senatsbeschluss vom 09. März 2021. Soweit der Angeklagte erneut für seine falsche Behauptung die steuerrechtliche Betrachtungsweise des BFH (Urteil vom 15. Dezember 1999 - Az. I R 29/97 -) zu sog. „Cum-/Ex“-Geschäften mit Aktien, welche in der späteren Entscheidung des BFH (Urteil vom 16. April 2014 - Az. I R 2/12 -) in einer Bewertung möglichen wirtschaftlichen Eigentums bei Leerverkäufen mündet, anfügt, lagen den Entscheidungen gerade gänzlich andere Fallgestaltungen zugrunde, die hier vom Angeklagten in missbräuchlicher Weise verkürzt dargestellt werden. Der hier gegenständliche Komplex eines von Anfang an angelegten Betrugssystems mit dem alleinigen Ziel, sich eine nur einmal einbehaltende Steuer zweimal auszahlen zu lassen, ist vom BFH gerade nicht bestätigt worden.

    Nach dem in der Anklageschrift vom 27. September 2017 und dem Haftbefehl vom 26. Oktober 2020 dargestellten ermittelten Sachverhalt ist der Angeklagte A nach Beurteilung des Senats - über die dortige rechtliche Einordnung der verwirklichten Straftatbestände der Steuerhinterziehung hinaus - dringend tatverdächtig von Januar 2006 bis 08. Oktober 2012 gewerbsmäßig als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Betrügereien verbunden hat, den deutschen Steuerzahler um ca. 113 Mio € betrogen und zumindest Teile der Tatbeute außer Landes gebracht zu haben. Damit ist neben einer Strafbarkeit nach dem Vergehenstatbestand des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO zudem die Tatbestandsmäßigkeit des Verbrechenstatbestands des § 263 Abs. 5 StGB erfüllt.

    Diese rechtliche Bewertung ist auch entgegen der Behauptung des Angeklagten weder „neu“ noch „überraschend“.

    Die Bewertung als banden- und gewerbsmäßiger Betrug ergibt sich zwanglos aus der über 900-seitigen Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft. Dass die Generalstaatsanwaltschaft die Anklage letztlich nur auf den Tatbestand der Steuerhinterziehung gestützt hat, hat den verfahrensökonomischen Vorteil, dass das Verfahren vor dem Hintergrund der Flucht des Angeklagten mit den übrigen Mitgliedern der Bande vereinfacht verhandelt werden kann.

    Dieser Ansatz der Generalstaatsanwaltschaft ist insoweit auch naheliegend, da es bei diesem größten Betrugssystem in der Geschichte der Bundesrepublik zunächst darum geht, dieses komplexe Betrugssystem einer strafrechtlichen Aufarbeitung innerhalb der Verjährungsfristen zuzuführen. Da der Strafrahmen sowohl des § 370 Abs. 3 AO dafür eine ausreichende Sanktionierungsgrundlage bietet und die Voraussetzungen für eine Verurteilung nach § 370 Abs. 3 AO gegenüber dem § 263 Abs. 5 StGB geringer sind, stellt sich dieser Ansatz zunächst als vertretbar dar. Gleichwohl hatte die Generalstaatsanwaltschaft mit ihren akribischen Ermittlungen von Anfang an die für eine mögliche Verurteilung auch nach § 263 Abs. 5 StGB notwendigen Beweismittel zusammengetragen, so dass der Senat vor dem Hintergrund der vom Angeklagten selbst beantragten Haftbeschwerde eine voll umfängliche Prüfung und rechtliche Bewertung vornehmen konnte und auch musste.

    Dabei ist bereits die Bewertung einer „normalen Steuerhinterziehung“ als „normalen Betrug“ weder überraschend, noch neu. Sie ist nahezu selbstverständlich, weil in der Regel die Steuerhinterziehung einen Spezialfall des Betruges mit herabgesetzten Anforderungen an die Verurteilung darstellt. Der Tatbestand des Betruges hat gegenüber der Steuerhinterziehung eine überschießende Innentendenz, verlangt also wesentlich mehr Feststellungen und Nachweise für seine Annahme. Insoweit verdrängt nach ständiger Rechtsprechung üblicherweise die Steuerhinterziehung den „normalen Betrug“ wenn der Geschädigte der Fiskus - mithin die steuerzahlenden Bürger des Landes - sind.

    Liegen hingegen - wie vorliegend - auch die Voraussetzungen eines banden- und gewerbsmäßigen Betruges nach § 263 Abs. 5 StGB vor, ist ein Verbrechen gegeben, das von einem Vergehen wie dem der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 3 AO grundsätzlich nicht verdrängt werden kann (so bereits BGH, NJW 1978, 2040 zur Tateinheit zwischen § 218 StGB und § 226 StGB). Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der gesetzgeberischen Einordnung in das StGB und in die AO. Darüber hinaus ergibt sich dies aus dem sachlichen Regelungsgehalt der Vorschriften des § 263 Abs. 5 StGB einerseits und des § 370 Abs. 3 AO andererseits.

    Dazu kommt, dass der strafwürdige Vorwurf bei einer banden- und gewerbsmäßigen Begehung zur Erlangung unmittelbarer Steuern in der Abgabenordnung nicht normiert ist. Es gibt insoweit keine Spiegelvorschrift im Steuerstrafrecht, das diese besondere kriminelle Form des strafrechtlichen Agierens erfasst. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass in § 370 AO nur „Vergehen“ und damit strafniedrigere, dafür aber typisierte Regelverstöße normiert sind, während in § 263 Abs. 5 StGB besonders strafwürdiges Handeln erfasst wird. § 263 Abs. 5 StGB und § 370 AO sind insoweit nicht nur was die Tatbestandsmerkmale angeht, sondern auch was die Strafwürdigkeit des Handels angeht, nicht deckungsgleich. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO erfordert nach dem Wortlaut eine Steuerverkürzung oder Erlangung nicht gerechtfertigter Steuervorteilen in großem Ausmaß. Demgegenüber setzt eine Strafbarkeit nach § 263 Abs. 5 StGB kumulativ eine gewerbs- und bandenmäßige Tatbegehung voraus. Damit sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 263 Abs. 5 StGB im Kernstrafrecht deutlich höher als die des § 370 Abs. 3 AO. Dies zeigt sich konsequenterweise auch bei den Rechtsfolgen, die im Anwendungsbereich des § 263 Abs. 5 StGB schärfer sind.

    Dazu kommt die unterschiedliche Zielrichtung der Tatbestände.

    Betrug ist die zur Erlangung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils mittels Täuschung über Tatsachen unternommene und durch eine irrtumsbedingte Vermögensverfügung realisierte Schädigung fremden Vermögens mit Bereicherungsabsicht. Der Betrugstatbestand des § 263 StGB setzt voraus, dass die Täuschung des Täters den Irrtum des Getäuschten hervorruft, der Irrtum zu einer Vermögensverfügung und diese dann zu einem Vermögensschaden führt.

    Das Unrecht der Steuerhinterziehung besteht hingegen „nur“ darin, dass der Täter seine steuerlichen Offenbarungs- und Wahrheitspflichten verletzt und dadurch Steuern verkürzt. Die Tathandlung des § 370 Abs. 1 AO besteht in der Folge auch nur darin, dass den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht werden (Nr. 1) oder dass die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen werden (Nr. 2). § 370 AO ist damit ein betrugsähnlicher Straftatbestand, dessen Handlungsunrecht ähnlich wie beim Betrug im Ausnutzen eines Informationsdefizits beim Geschädigten besteht, der allerdings weder eine Täuschungshandlung noch einen Irrtum oder Unkenntnis auf Seiten der Finanzbehörden und auch keinen realen Vermögensschaden und zumindest bei Anmeldesteuern auch keine Vermögensverfügung voraussetzt (vgl. Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rn. 40ff; MüKo zum StGB, 3. Aufl. 2019, § 370 AO Rn. 8, beide beck-online mwN.).

    Der Tatbestand der Steuerverkürzung gemäß § 370 AO verlangt daher im Vergleich zu dem Tatbestand des § 263 StGB ein „Weniger“ an Tatbestandvoraussetzungen. Dies führt dazu, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 263 StGB auch immer der Tatbestand des § 370 AO erfüllt ist, aber nicht umgekehrt. Gesetzeskonkurrenz zwischen Steuerhinterziehung als speziellere Norm des Steuerstrafrechts und dem Betrugstatbestand im Kernstrafrecht besteht in der Folge dann, wenn sich der Erfolg der Handlung in der Verkürzung der Steuereinnahmen erschöpft.

    Der Gesetzgeber hat diese unterschiedliche Betrachtung, die im Wesentlichen an die strafniedrigeren dafür aber typisierten Regelverstöße der Steuerhinterziehung ansetzt auch im Bereich der „tätigen Reue“ unterschiedlich ausgeformt. So hat er den Tätern einer Steuerhinterziehung nach § 371 AO den Weg für eine strafbefreiende Selbstanzeige eröffnet. Bei Vorliegen eines besonders schweren Falls gemäß § 370 Abs. 3 AO hat er dies wegen § 371 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO bereits nur noch unter den weitergehenden Voraussetzungen des § 398a AO zugelassen. Beim Betrug besteht hingegen gerade keine Möglichkeit Straffreiheit nach Vollendung der Tat zu erlangen. Hier fließt die Schadenswiedergutmachung nur als Strafmilderungsgesichtspunkt ein, verhindert aber die Strafsanktion selbst nicht.

    Bestätigung findet dies auch in der Normengenese und der gesetzgeberischen Einordnung.

    Betrug ist die durch Täuschung verursachte Vermögensschädigung eines anderen in Bereicherungsabsicht; geschütztes Rechtsgut ist das Vermögen. Der Straftatbestand des § 370 AO schützt das öffentliche Interesse des Staates am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen bestimmter einzelner Steuern (vgl. BGH, Urteil vom 01. Februar 1989 - 3 StR 179/88 -, NJW 1989, 1619; Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rn. 2, beck-online, jeweils mwN.).

    Vor dem Hintergrund des Aufkommens und der Konsequenzen systematisch betriebener Steuerhinterziehung im Bereich der Organisierten Kriminalität hatte der Gesetzgeber im Jahr 2001 mit § 370a AO a.F. einen eigenen Verbrechensstraftatbestand in die Steuerstrafrechtsvorschriften aufgenommen (vgl. BT-Drucksache 14/7471, S. 9). § 370a AO a.F. sah für gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung in großem Ausmaß eine Mindeststrafe von einem Jahr vor. Der BGH (vgl. u.a. Beschluss vom 22. Juli 2004 - 5 StR 85/04) äußerte in der Folgezeit wiederholt Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift. Diese gründeten insbesondere auf der tatbestandlichen Abgrenzung der Merkmale der Gewerbsmäßigkeit und „in großem Ausmaß“ unter Bedacht auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG. Dies, da Steuerhinterziehungsdelikte durch eine serielle Begehungsweise geprägt sind und sich einmal begonnenes steuerunehrliches Verhalten gleichsam deliktstypisch über längere Zeiträume hinzieht und auf Wiederholung angelegt ist. Dies führte letztlich zur Streichung des § 370a AO a.F. mit Wirkung zum 31. Dezember 2007 und teilweise geänderte Aufnahme des Regelungsgehalt des früheren § 370a AO in § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO (vgl. BT-Drucksache 16/5846, S. 74). Die bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern stellt nach § 370 Abs. 3 Nr. 5 AO nunmehr ein Regebeispiel für einen besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung dar. Bei diesen Änderungen der AO ging es dem Gesetzgeber darum, den vom BGH geäußerten Bedenken Rechnung zu tragen und zugleich Wertungswidersprüche zu den Straftatbeständen der §§ 373, 374 AO zu beseitigen, nicht jedoch, jegliche gewerbs- und bandenmäßige Tatbegehung abseits dessen nicht mehr zu pönalisieren (vgl. BT-Drucksache 16/5846, S. 74). Die Einordnung der Steuerhinterziehung in großem Ausmaß (§ 370 Abs. 3 Nr. 1 AO) als Vergehenstatbestand lässt indes eine Tatbestandsverwirklichung im Kernstrafrecht nach den strengeren Voraussetzungen des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs gemäß § 263 Abs. 5 StGB ausdrücklich unberührt.

    Das Verständnis des Senats, dass neben einer Strafbarkeit nach § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO auch die Tatbestandsmäßigkeit des § 263 Abs. 5 StGB erfüllt sein kann, steht im Übrigen im Einklang mit der langjährigen Rechtsprechung des BGH. Soweit der Angeklagte A vorträgt, die rechtliche Würdigung des Senats sei überraschend, ist dies bereits deshalb nicht nachvollziehbar, als nach der Rechtsprechung des BGH bis zum Jahre 1989 schon bei einfacher Steuerhinterziehung eine Verurteilung wegen Betrugs in Betracht kam, teilweise sogar explizit der Vorrang eingeräumt wurde. So hat der BGH die Anwendung des § 370 AO in mehreren Entscheidungen dann abgelehnt, wenn der gesamte Steuervorgang zum Zwecke der Täuschung erfunden worden und Gegenstand einer Vorspiegelung im Sinne des § 263 StGB war (vgl. BGH, NJW 1972, 1287; Urteil vom 28. Januar 1986 - 1 StR 611/85 - juris). Der BGH legte der Beurteilung den Tatbestand des § 263 StGB zugrunde, weil bei fingierten Vorgängen das Vermögen des Staates, nicht jedoch der Steueranspruch verletzt oder gefährdet werde.

    Erst in der Entscheidung des BGH (Urteil vom 01. Februar 1989 - 3 StR 179/88 -, NJW 1989, 1619) wurde in dieser Allgemeinheit an dieser Auffassung nicht mehr festgehalten und in Erkennung der Parallelität des § 263 StGB und 370 AO eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 370 AO gegenüber dem klassischen Betrugstatbestand gemäß § 263 StGB bezogen auf indirekte Steuern vorgenommen. Danach ist § 370 AO dann gegenüber dem einfachen Betrug vorrangig, wenn ein tatsächlich existierender Unternehmer gegenüber der Finanzbehörde steuerlich erhebliche Tatsachen vortäuscht, die zu einer Vorsteuererstattung führen sollen, obwohl er keine Umsätze getätigt hat und der steuerliche Vorgang insgesamt erfunden ist. Dem liegt die Beurteilung zugrunde, dass es sich zumindest bezogen auf indirekte Steuern bei § 370 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 6 AO um eine abschließende Sonderregelung handelt, die gemäß ihrem gesetzgeberischen Zweck den allgemeinen Betrugstatbestand verdrängt, sofern der Täter nicht mittels Täuschung über den ungerechtfertigten Steuervorteil hinausgehende Vorteile erlangt. In Fortführung dieser Rechtsprechung sind nach der Entscheidung des BGH (Beschluss vom 23. März 1994 - 5 StR 91/94 -) Fälle, in denen die Existenz eines Unternehmens nur vorgetäuscht wird, für das sodann ohne Bezug auf reale Vorgänge fingierte Umsätze angemeldet und Vorsteuererstattungen begehrt werden, nicht als Betrug, sondern „nur“ als Steuerhinterziehung zu beurteilen. Werden hingegen - wie vorliegend - direkte Steuern betrügerisch hinterzogen, gilt dies nicht gleichermaßen, da die besonderen Regelungen im § 370 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 6 AO, auf die der BGH rekurriert, gerade nicht für direkte Steuern gelten.

    In diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung des BGH (Urteil vom 19. Dezember 1997 - 5 StR 569/96 - NJW 1998, 1568), dass eine Abwendung der Betreibung von Säumnis- und Verspätungszuschlägen sowie Zwangsgeldern als steuerlichen Nebenleistungen durch Täuschung wegen des im Vordergrund stehenden Beuge- und Sanktionscharakter nicht vom wirtschaftlichen Vermögensbegriff erfasst wird und damit weder einer Strafbarkeit nach § 370 AO noch nach § 263 StGB unterfällt, zu sehen.

    Dass das Landgericht Wiesbaden und die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main den gegenständlichen Sachverhalt bisher unter dem Tatbestand der Steuerhinterziehung in großem Ausmaß gemäß § 370 AO Abs. 3 Nr. 1 AO angenommen haben, ist nicht zu beanstanden. Eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift ist auf jeden Fall gegeben. Die Einordnung der Tatbegehung als Steuerhinterziehung entspricht der in der Praxis üblichen Handhabung und Vorgehensweise bei der Verfolgung von Steuerdelikten, da durch die geringeren Tatbestandsvoraussetzungen jedenfalls die Verwirklichung des Straftatbestands der Steuerhinterziehung in der Regel unproblematisch gegeben ist.

    Das vorliegende komplexe Betrugssystem erfüllt jedoch darüber hinaus auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 263 Abs. 5 StGB. Der Angeklagte A, der frühere Beschuldigte B und die früheren Mitangeklagten, die damals sämtlich Mitarbeiter der Bank1 waren, haben durch die geschaffene Unternehmensstruktur der Vorname1 B2 (A/B) und der im gemeinschaftlichen Zusammenwirken umgesetzten Handelsstruktur der Aktienleerverkaufstransaktionen einen planvoll organisierten und arbeitsteilig durchgeführten „beispiellosen Steuerraubzug“ mittels Griffs in die öffentlichen Kassen zum Nachteil des deutschen Steuerzahlers veranlasst. Das „Cum-/Ex“-Leerverkaufsmodell ist in seiner Verbreitung und Ausmaß als eine der größten Wirtschaftsstraften in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland anzusehen.

    Eine vorherige Anhörung des Angeklagten A zu der strafrechtlichen Wertung des Senats wäre nach § 33 Abs. 3 StPO nur geboten gewesen, wenn der Senat bei seiner Entscheidung Tatsachen oder Beweisergebnisse verwendet hätte, zu denen der Angeklagte kein rechtliches Gehör hatte. Dies war vorliegend nicht der Fall. Dass der Betrug und dabei insbesondere der Verbrechenstatbestand des § 263 Abs. 5 StGB nicht durch die Abgabenordnung verdrängt wird, wie der Angeklagte A vertritt, hat ersichtlich keinen rechtlichen Hintergrund, sondern ist alleine dadurch begründet, dass er damit vermeintlich die Regelungen des Auslieferungsübereinkommens mit Land1 unterlaufen will.

    Es liegt auch weiterhin der Haftgrund der Flucht gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO vor. Der Angeklagte A hat sich durch Flucht in Land1 bisher seiner Festnahme und auch dem weiteren Verfahren entzogen. Seit seiner Flucht betreibt der Angeklagte A das Verfahren aus sicherer Entfernung aus Land1 heraus dergestalt, dass er mit allen Mitteln eine Verfahrensverzögerung und damit letztlich die Strafverfolgungsverjährung herbeiführen will. Dies zeigte sich jüngst darin, dass der Angeklagte P gerichtlichen Terminsladung keine Folge leistete und zur Hauptverhandlung vor dem Landgericht Wiesbaden am 25. März 2021 nicht erschien. Insofern der Angeklagte A insoweit eine nicht ordnungsgemäße Ladung vorschob, ist dies angesichts der von ihm selbst unter dem 20. Februar 2018 seinem Verteidiger Rechtsanwalt Q erteilten Ladungsvollmacht nach § 145a Abs. 2 StPO ersichtlich falsch. Gleichwohl hat das Landgericht Wiesbaden das Verfahren gegen den Angeklagten A - wie von ihm erhofft - zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt. Dieses Verhalten belegt zwanglos, dass der Angeklagte A auch tatsächlich nicht beabsichtigt, sich dem gegen ihn gerichteten Verfahren zu stellen und zu Hauptverhandlungsterminen vor der Strafkammer zu erscheinen.

    Für die Anordnung eines Aufschubs der Vollstreckung gem. § 47 Abs. 2 StPO besteht daher keine Veranlassung.

    RechtsgebieteStGB, AO, StPOVorschriften§ 263 Abs. 5 StGB, § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO, § 33a StPO

    Karrierechancen

    Zu TaxTalents