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  • 09.04.2019 · IWW-Abrufnummer 208201

    Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg: Beschluss vom 19.12.2018 – 12 S 2166/18

    In der Vorlage eines ärztlichen Attestes durch einen Betroffenen, der damit sein Nichterscheinen bei Gericht begründen will, liegt die konkludente Erklärung, dass der Betroffene den ausstellenden Arzt bei etwaigen Nachfragen des Gerichts hinsichtlich des Grundes für sein Nichterscheinen von der Schweigepflicht entbindet.


    Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg

    Beschl. v. 19.12.2018

    Az.: VGH 12 S 2166/18

    In der Verwaltungsrechtssache
    - Kläger -
    - Antragsteller -
    prozessbevollmächtigt:
    gegen
    Stadt Radolfzell,
    vertreten durch den Oberbürgermeister,
    Marktplatz 2, 78315 Radolfzell, Az:
    - Beklagte -
    - Antragsgegnerin -

    wegen Ausweisung
    hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

    hat der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
    am 19. Dezember 2018

    beschlossen:

    Tenor:

    Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 2. August 2018 - 9 K 7625/17 - wird abgelehnt.

    Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

    Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

    Gründe

    Der nach § 124a Abs. 4 Sätze 1 und 4 VwGO rechtzeitig gestellte und begründete, auf den Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO gestützte Antrag des Klägers bleibt ohne Erfolg.

    1. Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht am 2. August 2018 weder persönlich anwesend noch zu diesem Zeitpunkt anwaltlich vertreten gewesen ist, rügt die Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter. Er trägt hierzu unter anderem vor, ausweislich der Verfügung vom 1. August 2018 sei sein Terminsverlegungsantrag abgelehnt worden, nachdem der Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Kontakt zu seinem Hausarzt aufgenommen habe. Mit der Anfrage zur Verhandlungsfähigkeit könnte der Richter den Arzt zu einer Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht, einer vorsätzlichen Tat nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, angestiftet haben. Der Arzt habe unter anderem Auskunft über die verschriebene Medikation gegeben und damit einen der ärztlichen Verschwiegenheit unterliegenden Umstand offenbart, der sich für den Kläger negativ ausgewirkt habe. Eine ausdrückliche Entbindung von der Schweigepflicht habe nicht vorgelegen, auch keine konkludente Entbindung. Der Arzt dürfte sich ggfs. in einer Überrumplungssituation befunden haben und angesichts der vermeintlichen Machtbefugnisse des Richters auf einen Entschuldigungsgrund berufen können. Das müsse aber nicht abschließend entschieden werden, da die Besorgnis der Befangenheit ausreiche. Sinn und Zweck des Anrufs des Richters beim Arzt sei gewesen, Informationen über die Verhandlungsfähigkeit des Klägers zu erhalten. Der Richter habe entweder einen Grund finden wollen, der für die Terminsaufhebung ausreiche oder der für die Terminsaufhebung nicht ausreiche. In beiden Fällen stelle dies eine Verletzung der gebotenen Unparteilichkeit dar. Weil dieser Richter abzulehnen gewesen sei (§ 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 2 ZPO), sei die Richterbank nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen. Die Besetzungsrüge könne auch jetzt noch erhoben werden, weil die Umstände erst mit der gemeinsamen Übermittlung von Urteil und Protokoll bekannt geworden seien.

    2. Die Rüge des Klägers genügt schon nicht den Darlegungsanforderungen des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Diese erfordern es, dass ein Verfahrensmangel sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert und schlüssig dargetan wird (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 124 Rn. 218). Ausgehend von den Regelungen in § 146 Abs. 2 VwGO sowie § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 512 ZPO setzt die an den Vorwurf der Befangenheit anknüpfende Besetzungsrüge im Rahmen des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO die Darlegung voraus, dass der als Mangel gerügte Vorgang einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl., § 124 Rn. 13 i.V.m. § 54 Rn. 22; Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 54 Rn. 128b). Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden kann. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.03.2013 - 1 BvR 2853/11 - juris Rn. 26). Dass der vom Kläger beanstandete Vorgang einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dargestellten könnte, ist nicht einmal in Ansätzen ausgeführt. Solches ist im Übrigen auch nicht ersichtlich.

    Unabhängig davon kann der Zulassungsantrag auch deshalb keinen Erfolg haben, weil eine Berufung auf die Besorgnis der Befangenheit gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 43 ZPO verwirkt ist.

    Nach diesen Bestimmungen kann eine Partei einen Richter dann nicht mehr wegen der Besorgnis der Befangenheit ablehnen, wenn sie sich bei ihm, ohne den ihr bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Die Vorschrift des § 43 ZPO gibt einen allgemeinen Rechtsgedanken wieder, der im Falle einer unterbliebenen Rüge in der mündlichen Verhandlung dazu führt, dass der Verfahrensfehler nach Abschluss der Instanz nicht mehr geltend gemacht werden kann (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 25.01.2016 - 2 B 34.14 - NVwZ-RR 2016, 428 [BVerwG 25.01.2016 - BVerwG 2 B 34.14, 2 PKH 1.14] - Rn. 26; BGH, Urteil vom 07.12.2005 - XII ZR 94.03 - BGHZ 165, 223 - Rn. 15). Der Ausschluss erfolgt indessen nicht nur dann, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung anwesend waren und auf die Rüge verzichtet haben, sondern auch dann, wenn sie nicht anwesend waren, hierfür jedoch kein erheblicher Grund im Sinne der § 173 Satz 1 VwGO, § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO gegeben war (BVerwG, Beschluss vom 29.06.2016 - 2 B 18.15 - juris Rn. 39).

    Ausgehend hiervon ist die Berufung des Klägers auf die Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossen, weil er nicht an der mündlichen Verhandlung vom 2. August 2018 teilgenommen hat und weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgelegen hat, der zu einer Verlegung des Termins hätte führen müssen.

    In der Ladung zur mündlichen Verhandlung mit Verfügung vom 5. Juni 2018 ist der damals noch anwaltlich vertretene Kläger darauf hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann. Am Nachmittag des 31. Juli 2018 ist dem Verwaltungsgericht per Fax eine am 31. Juli 2018 erstellte und bis 3. August 2018 geltende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung übermittelt worden, die die Diagnosen nach ICD-10 "J20.9G" und "R51G" enthält. Aus der vorgelegten Bescheinigung lässt sich dem Verwaltungsgericht zufolge lediglich entnehmen, dass der Kläger wegen "akuter Bronchitis" und "Kopfschmerzen" bis voraussichtlich 3. August 2018 arbeitsunfähig ist, nicht aber, dass ihm die Teilnahme an der Verhandlung nicht möglich ist. Das Verwaltungsgericht hat unter dem 1. August 2018 dem Kläger daher mitgeteilt, dass er nicht glaubhaft gemacht habe, er sei aus erheblichen Gründen verhandlungsunfähig. Es hat ihn nochmals darauf hingewiesen, dass - falls er nicht erscheint - ohne ihn verhandelt und entschieden wird. Die entsprechende Verfügung, aus der sich zudem ergibt, dass der Vorsitzende telefonisch beim Arzt des Klägers Nachfragen zu dessen gesundheitlichem Zustand gestellt hat, ist dem Kläger persönlich unter seiner Anschrift am 1. August 2018 noch zugegangen. Der Kläger hat weder hierauf reagiert, noch ist er in der mündlichen Verhandlung erschienen.

    Schließlich ist auch der Vortrag, der Richter habe durch die Nachfrage beim Hausausarzt des Klägers zur Verletzung von Privatgeheimnissen angestiftet, ohne jegliche Grundlage. Ausweislich eines Aktenvermerks vom 1. August 2018 hat der Richter im Rahmen seiner Nachfrage zum Attest den Arzt darüber belehrt, dass er nur in den Grenzen seines Arztgeheimnisses antworten dürfe (Bl. 109 der Akte des Verwaltungsgerichts).

    Abgesehen davon hat der Kläger beim Gericht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt, die sogar die Diagnosen enthält, weshalb sein Vortrag, er habe auch nicht konkludent auf die Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht verzichtet, schon nicht plausibel ist. Im Übrigen kann in der Vorlage eines ärztlichen Attestes durch einen Betroffenen, der damit sein Nichterscheinen bei Gericht begründen will, nach ständiger Rechtsprechung die konkludente Erklärung gesehen werden, dass der Betroffene den ausstellenden Arzt bei etwaigen Nachfragen des Gerichts hinsichtlich des Grundes für sein Nichterscheinen von der Schweigepflicht entbindet (vgl. etwa OLG München, Beschluss vom 27.06.2017 - 5 OLG 15 Ss 173/17 - juris Rn. 16; OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.01.2009 - 2 St OLG Ss 259/08 - juris Rn. 12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.04.2006 - 1 Ss 137/06 - juris Rn. 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28.10.1993 - 3 Ws 154/93 - juris Rn. 8 f.; jeweils zu § 329 Abs. 1 StPO; siehe auch Fromm in Fromm, Verteidigung in Straßenverkehrs-OWi-Verfahren, 2. Aufl., 2014, Kapitel 9 Gerichtliches Bußgeldverfahren, VII 2) b) ee)).

    Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).

    Die Kostenentscheidung folgt aus §154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2 GKG.

    Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

    RechtsgebietZPOVorschriften§ 43 ZPO; § 227 Abs. 1 ZPO

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