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  • 17.06.2015 · IWW-Abrufnummer 144681

    Kammergericht Berlin: Beschluss vom 20.02.2015 – 4 Ws 20/15

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Kammergericht Berlin

    Beschl. v. 20.02.2015

    Az.: 4 Ws 20/15 - 141 AR 62/15

    Tenor:

    1. Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 3. Februar 2015 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. November 2014 - (350 Gs) 284 Js 883/14 (2609/14) - aufgehoben.

    2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
    Gründe

    Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten zur Last, in der Zeit vom 25. Oktober 2004 bis zu einem nicht näher bestimmbaren Tag im Zeitraum zwischen dem 23. April 2009 und dem 6. Juli 2010 zu Lasten der am 25. Oktober 1996 geborenen G sieben Straftaten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes begangen (je zwei Berührungen mit der Hand im Schrittbereich oberhalb bzw. unterhalb der Kleidung; versuchter Zungenkuss; Berühren und Lecken an der Scheide) und dabei in einem Fall zugleich die Voraussetzungen des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB sowie einer vorsätzlichen Körperverletzung verwirklicht zu haben (schmerzhaftes versuchtes Eindringen mit dem Penis in die Scheide). Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe verweist der Senat auf den Inhalt der Anklageschrift vom 19. Januar 2015.

    Das Verfahren gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt: Am 17. Juni 2013 erstattete die Zeugin G auf dem Polizeiabschnitt 11 eine Strafanzeige gegen den Angeklagten wegen Missbrauchshandlungen, die dieser begangen habe, als sie zwischen 7 und 14 Jahren alt gewesen sei. In der Anzeige ist vermerkt, die Zeugin habe sich ihrem - namentlich nicht genannten - Freund offenbart, der sie zu der Anzeige überredet habe. Eine Befragung zu dem Entschluss zur Anzeigenerstattung erfolgte nicht. Die sodann mit der Sache betraute Kriminalbeamtin legte in einem Vermerk vom 4. Juli 2013 nieder, die Zeugin habe ihr telefonisch berichtet, dass sie ihre Mutter, die Lebensgefährtin des Angeklagten, am 19. Juni 2013 von den Geschehnissen in Kenntnis gesetzt habe. Diese habe erklärt, sie werde den Angeklagten, der erst am Wochenende wieder nach Berlin kommen werde, zur Rede stellen und ihn aus der Wohnung weisen.

    Bei der am 4. Juli 2013 durchgeführten Vernehmung der Zeugin G war deren Freund R, dessen genauen Personalien nicht aufgenommen wurden, durchgehend anwesend. Dieser war weder zuvor selbst als Zeuge vernommen worden, noch ist seine Befragung bislang erfolgt; in der Anklage ist er nicht als Zeuge benannt. Auch in dieser Vernehmung wurde der Entschluss der Zeugin, die Anzeige zu erstatten, nicht erörtert. In einem Vermerk über die Vernehmung notierte die Kriminalbeamtin, dass G auf der Anwesenheit des Freundes bestanden und während der Vernehmung "mehrmals intensiven Blickkontakt" zu diesem gesucht habe. Die Geschädigte habe mitgeteilt, Streit mit ihrer Mutter zu haben, da diese ihr zwar glaube, sich aber nicht dauerhaft von dem Angeklagten trennen wolle. In der Vernehmung hatte die Zeugin auch angegeben, sie habe im Tatzeitraum ihre Mutter gebeten, auf den Angeklagten wegen dessen übergriffigen Verhaltens (Berührungen am Gesäß oberhalb der Kleidung) einzuwirken, allerdings erfolglos. Eine Vernehmung der Mutter, die nach der Schilderung der Zeugin G in tatnahen Situationen das Handeln des Angeklagten durch ihr Erscheinen mitunter gestört haben soll, auch nachdem sie - die Zeugin - nach ihr gerufen habe, ist bislang ebenfalls nicht erfolgt. Da die Zeugin G nach dem Eindruck der vernehmenden Beamtin im Verlaufe der Vernehmung "zunehmend überfordert" schien, wurde die Befragung auf Vorschlag der Beamtin beendet, um sie zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen.

    Zu dieser weiteren Vernehmung kam es am 4. Oktober 2013. Die Zeugin erschien erneut mit ihrem Freund sowie in weiterer Begleitung ihrer Betreuerin aus einer Einrichtung des Betreuten Wohnens, in der sie seit Anfang September 2013 lebt. In dieser Vernehmung versuchte die ermittelnde Kriminalbeamtin u.a., den unter Ziffer 7. zur Anklage gelangten Fall (S-straße) aufzuklären. Nachdem die Zeugin eine aus Sicht der Beamtin unklare bzw. nicht ganz widerspruchsfreie Aussage gemacht hatte, hielt die Beamtin ihr dies vor, worauf als "Antwort" der Zeugin lediglich notiert ist: "(überlegt)". Sodann folgt die das Protokoll abschließende Notiz: "Mit der Jugendlichen wird ein längeres Gespräch geführt. Sie erklärt im Anschluss, mit ihrer Betreuerin erst einmal eine Beratungsstelle aufsuchen zu wollen." In einem Vermerk zu der Vernehmung legte die Beamtin nieder, dass die Zeugin abermals die Anwesenheit ihres Freundes bei der Vernehmung gewünscht und erneut mehrmals den intensiven Blickkontakt zu diesem gesucht habe. Die Zeugin habe ferner mitgeteilt, dass der Angeklagte sich nach Auskunft ihrer Mutter wieder bei dieser aufhalte, eine zeitlang in München gearbeitet habe und an den Wochenenden "auf dem Grundstück in C" sei. Abschließend führte die Beamtin in Bezug auf die Probleme der Zeugin mit einer schlüssigen Schilderung der besprochenen Tat(en) und die erneute Beendigung der Vernehmung noch aus, man habe "letzten Endes" vereinbart, "dass sich die Zeugin zunächst an eine Beratungsstelle wenden wird, um sich auch im Hinblick auf rechtlichen Beistand beraten zu lassen". Der Inhalt des "längeren Gesprächs" lässt sich dem Vermerk nicht entnehmen.

    Auf ein Ersuchen des LKA Berlin teilte die Revierpolizei in P unter dem 18. November 2013 noch mit, dass der Angeklagte am 7. Juni 2013 von der Anschrift in C auf Anregung der Polizei von Amts wegen abgemeldet worden sei, nachdem er dort über längere Zeit nicht anzutreffen gewesen sei und zwar der Briefkasten im Abstand von mehreren Wochen geleert werde, das Haus aber dem äußeren Anschein nach nicht bewohnbar und mit Müll voll gestellt sei. Hausermittlungen am 14. Januar 2014 an der Wohnanschrift der Mutter der Zeugin in Berlin ergaben durch Befragung des Halbbruders der Zeugin, dass der Angeklagte nur noch manchmal zu Besuch sei, auf dem Bau arbeite, zuletzt wohl in München, und sich ansonsten wohl in C aufhalte. Eine Befragung der bei der Arbeit befindlichen Mutter erfolgte, obgleich der Sohn deren Handynummer mitteilte, nicht.

    Zu einer Fortsetzung der am 4. Oktober 2013 abgebrochenen Vernehmung der Zeugin kam es nicht mehr. Die Kriminalbeamtin legte in einem Zwischenbericht vom 16. April 2014 die dargestellten Ermittlungsergebnisse zur Kenntnisnahme durch die Staatsanwaltschaft dar. Ohne weitere aktenkundige Erkenntnisse beantragte die Staatsanwaltschaft - knapp sieben Monate später - gegen den Angeklagten einen Haftbefehl. Diesen erließ das Amtsgericht Tiergarten antragsgemäß am 17. November 2014. Der dringende Tatverdacht folge aus den "Angaben der Zeuginnen G, KHKin R". Zum Haftgrund heißt es ohne jede Erläuterung: "Es besteht der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO".

    Der Angeklagte wurde am 21. Dezember 2014 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 22. Dezember 2014 vom Amtsgericht Tiergarten eröffnet. Der Angeklagte bestritt die Tatvorwürfe und gab an, in C, zu wohnen. Das Amtsgericht befragte ihn nicht weiter und entschied - in Bezug auf den Haftgrund zweifellos fehlerhaft -, der Haftbefehl sei "aus den Gründen seiner Anordnung" zu vollziehen.

    Nach der Festnahme erfolgte als weitere Ermittlungsmaßnahme noch eine Vernehmung der Zeugin G durch die Polizei am 8. Januar 2015. Diese Vernehmung beschränkte sich auf die - jeweils ohne Nachfragen hingenommenen - Mitteilungen der Zeugin, dass sie bereits von ihrer Mutter kurz vor Weinachten von der Festnahme des Angeklagten erfahren habe, "noch nicht bei einer Rechtsanwältin gewesen" sei und sich nach der letzten Vernehmung für drei Wochen "in der Psychiatrie" befunden habe. In Bezug auf den Tatvorwurf wurde die abgebrochene Vernehmung vom 4. Oktober 2013 nicht wieder aufgenommen, vielmehr findet sich hinsichtlich des Verfahrensgegenstands ausschließlich die Frage der Beamtin: "Bleiben Sie denn bei Ihrer Aussage, dass er sie missbraucht hat?" und die Antwort: "Ja". Nach der von der Zeugin verneinten Frage, ob ihr nach der zweiten Vernehmung noch etwa eingefallen sei, was wichtig wäre, wurde die Zusammenkunft mit der Aushändigung eines Flyers von "Kind im Zentrum" und einer "Opferfibel" sowie einer Frage nach dem Schulbesuch beendet.

    Im Termin zur Haftprüfung am 3. Februar 2015 vor der Strafkammer legte der Angeklagte für die Anschrift C, eine Anmeldbescheinigung vom 6. November 2014 vor; auch in diesem Termin erfolgte keine weitere Befragung. In ihrem Haftfortdauerbeschluss sah die Kammer in Bezug auf den Tatverdacht eine "polizeiliche Vernehmung" der Mutter und des Freundes der Zeugin "im Zwischenverfahren" als nicht erforderlich an; jedoch seien diese Zeugen für den Fall der Eröffnung in der Hauptverhandlung zu hören. Die Kammer bejahte den Haftgrund der Fluchtgefahr mit Blick auf eine zu erwartende erhebliche Freiheitsstrafe. Hierbei vertrat sie die Auffassung, der Angeklagte sei "nach wie vor als ohne festen Wohnsitz anzusehen", weil die Polizei am 4. Oktober 2013 (in einem Erzwingungshaftverfahren) mitgeteilt habe, dass er "auch in den letzten Wochen trotz ständiger Überprüfungen dort nicht angetroffen worden und das betreffende Haus nicht bewohnbar" sei.

    Der am selben Tage erhobenen Beschwerde des Angeklagten hat die Kammer nicht abgeholfen. Der Angeklagte wendet sich mit jeweils näheren Ausführungen gegen den dringenden Tatverdacht und die Annahme von Haftgründen. Die Sache ist am 10. Februar 2015 bei dem Senat eingegangen. Er hat inzwischen durch eine Nachfrage bei der Strafkammer in Erfahrung gebracht, dass diese bereits am 10. Februar 2015 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und drei Termine zur Hauptverhandlung (25. März sowie 15. und 20. April 2015) anberaumt hat.

    Das Rechtsmittel hat Erfolg. Der angefochtene Beschluss und der Haftbefehl sind aufzuheben.

    1. Von einer abschließenden Erörterung des dringenden Tatverdachts (§ 112 Abs. 1 StPO) sieht der Senat ab, auch weil es für die vorzunehmende Prüfung derzeit an einem hinreichenden Ermittlungsergebnis fehlt. Schon die Vernehmung der Zeugin G ist unvollständig geblieben und wurde letztlich abgebrochen, wobei durchaus unklar ist, ob dies allein aus Gründen der Fürsorge gegenüber der Zeugin geschah oder weil für die Ermittlungsführerin erkennbar wurde, dass die Zeugin jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt keine stringente, verwertbare Aussage zu machen imstande war. Die Aussage der Zeugin und ihr Verhalten weisen auch nach Auffassung des Senats erörterungsbedürftige Besonderheiten auf. Es ist deutlich, dass die Ermittlungsführerin die Vernehmung der Zeugin am 4. Oktober 2013 als nicht abgeschlossen angesehen hat. Demgemäß hat sie den Ermittlungsstand nur als "Zwischenbericht" der Staatsanwaltschaft "zur Kenntnis" gebracht. Hinzu tritt, dass es an einer zureichenden Aufklärung der in der vorliegenden Konstellation besonders wichtigen Aussagegenese mangelt. Dass die Aussagen des Freundes und der Mutter der Zeugin G, die die Staatsanwaltschaft nicht einmal als Zeugen benannt hat, unerlässlich sein werden, hat die Strafkammer selbst erkannt, ohne hieraus indessen die nötigen Folgerungen für die Beurteilung des dringenden Tatverdachts zu ziehen. Zwar mag eine genauere Klärung des Sachverhalts in anderen Fällen der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben, nicht jedoch vertretbar ist es, in einem Verfahren, in dem Untersuchungshaft vollzogen wird, auf der Grundlage eines auch nach Einschätzung des Gerichts unzureichenden Ermittlungsergebnisses diesen tief greifenden Grundrechtseingriff vorzunehmen. Der Senat sieht im Übrigen davon ab, sich mit der ausführlichen Beschwerdebegründung des Verteidigers zur Frage des Tatverdachts zu befassen; er geht davon aus, dass das Landgericht die darin angesprochenen Aspekte bei der Erhebung und Würdigung der Beweise ohnehin bedenken wird. Auch kam eine Nachholung der notwenigen Ermittlungen (Vernehmung des Offenbarungszeugen, der Mutter und sodann abschließende Vernehmung der Geschädigten) im Haftbeschwerdeverfahren nicht in Betracht, weil dies zu einer unzulässigen erheblichen Verzögerung des Verfahrens führen würde. Für die vom Senat zu treffende Entscheidung kommt es auf die Frage des dringenden Tatverdachts im Ergebnis auch nicht an.

    2. Es ist kein Haftgrund gegeben.

    a) Der dem Haftbefehl zugrunde liegende Haftgrund der Flucht war zu keinem Zeitpunkt belegt. Flucht ist anzunehmen, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt absetzt, um für die Strafverfolgungsbehörden und das Gericht in dem gegen ihn anhängigen Verfahren unerreichbar zu sein. Der Haftgrund enthält das Erfordernis des Willens, sich dem Strafverfahren - dauernd oder zumindest für eine längere Zeit - zu entziehen. Wer also aus verfahrensunabhängigen Gründen, ohne Wissen der Strafbarkeit eines Verhaltens, ohne Kenntnis eines gegen ihn eingeleiteten Verfahrens und ohne den Willen, unerreichbar zu sein, seinen ursprünglichen Aufenthaltsort verlässt, ist nicht flüchtig, auch wenn er tatsächlich nicht erreichbar ist (vgl. nur Hilger in LR-StPO 26. Aufl., § 112 Rn. 28 f. mwN). Die subjektive Komponente des hiernach erforderlichen Fluchtwillens ist eine bestimmte Tatsache im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO, für deren Vorliegen - soll die Haftanordnung darauf gestützt werden - eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben sein muss. Dafür fehlt es hier an hinreichenden Feststellungen.

    Soweit es die Abmeldung von Amts wegen von der Anschrift im C angeht, auf die der Haftgrund ersichtlich gestützt worden ist, da sie die These vom fehlenden festen Wohnsitz belegen soll, datieren die dieser Maßnahme zugrunde liegenden Annahmen der örtlichen Polizei aus einer Zeit vor der Anzeigenerstattung. Hiernach konnte der erforderliche Zusammenhang zwischen einem (zu unterstellenden) Absetzen des Angeklagten von seinem Wohnort und dem Ermittlungsverfahren von vornherein nicht vorliegen. Dass der Angeklagte tatsächlich nicht erreichbar war, ist im Übrigen nicht hoch wahrscheinlich; mögliche Ermittlungen wurden jedenfalls nicht angestellt. Insbesondere erfolgte keine Befragung der Lebensgefährtin des Angeklagten, der Mutter der Zeugin G, obgleich aus den Angaben der Zeugin G und deren erwachsenen Halbbruders Anhaltspunkte dafür bestanden, dass der Angeklagte nach wie vor Kontakt zu seiner Lebensgefährtin hatte und sich bei dieser jedenfalls besuchsweise auch aufhielt. Darüber hinaus erscheint ein bis in die Gegenwart fortbestehender Kontakt angesichts dessen wahrscheinlich, dass die Mutter unmittelbar nach der Festnahme des Angeklagten von dieser Maßnahme Kenntnis hatte. Der Umstand, dass der Angeklagte - nach Aktenlage seit mindestens 2004 - als Handwerker tätig ist und hierbei auch längere Zeit auswärts beschäftigt ist, was entsprechende Abwesenheitszeiten erklären kann, war ebenfalls bekannt. Anlässlich seiner Festnahme fand die Bundespolizei bei der vom Angeklagten freiwillig gestatteten Durchsuchung neben anderen Dingen, die für einen gefestigten Aufenthalt sprechen, mehrere Kundenkarten, die einen Bezug zu einer Handwerkstätigkeit aufweisen (u.a. der Firma K), sowie eine Handwerkskarte, die den Angeklagten als bei der Handwerkskammer registrierten Inhaber eines Handwerkbetriebes ausweist.

    Während auch insoweit die möglichen Ermittlungen zu den Lebensverhältnissen des Angeklagten unterblieben, wurden die Haftentscheidungen allein auf der Grundlage älterer polizeilicher Vermerke getroffen. Die Verlässlichkeit dieser Aktennotizen wurde hierbei zu keiner Zeit überprüft. Eine vom Senat eingeholte Auskunft bei der Polizeibehörde in Prenzlau hat ergeben, dass die Polizei dort im wahrsten Wortsinn "dem äußeren Anschein nach" geurteilt hat. Das Anwesen wurde weder betreten, noch wurden, obwohl es sich um eine Hälfte eines Doppelhauses handeln soll und sich auch weitere Wohnhäuser in der Nähe befinden, Nachbarn zu einem möglichen, auch nur zeitweiligen, Aufenthalt des Angeklagten dort befragt. Ergänzend sei bemerkt, dass in dem von der Strafkammer herangezogenen Erzwingungshaftverfahren noch am 15. Juni 2013, als die auf äußerem Anschein der Unbewohnbarkeit gegründete Abmeldung von Amts wegen bereits umgesetzt worden war, eine Zustellung an den Angeklagten bewirkt wurde, die in jenem Verfahren als wirksam erachtet worden ist. Dies spricht dafür, dass nach Auffassung des Zustellers der Deutschen Post AG dort ein die Zustellung erlaubender Wohnsitz vorgelegen hat. Ob die These zutrifft, die Anschrift werde nicht bewohnt und sei auch gar nicht bewohnbar, ist im Übrigen weiterhin offen, jedenfalls aber nicht hoch wahrscheinlich. Der Angeklagte hat unter Vorlage von Unterlagen unwiderlegt vorgetragen, dass seine betagte Mutter dort lebt. Deren Anmeldung unter der Anschrift ist durch die vom Senat eingeholte Auskunft der Polizei in P bestätigt worden. Nach den vom Angeklagten eingereichten Unterlagen hat sich seine Mutter unter Vorlage von Personalpapieren und Angabe der (vermeintlich unbewohnbaren) Anschrift persönlich angemeldet und bei ihrer Rentenstelle registrieren lassen. Ob das - nach den unwiderlegten Angaben des Angeklagten in seinem Eigentum stehende - Haus tatsächlich nicht bewohnt und bewohnbar ist, und ob der Angeklagte dort bis zu seiner Festnahme am 21. Dezember 2014 gewohnt hat, ist auch nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin offen geblieben. Da die einer Untersuchungshaftanordnung zugrunde liegenden Tatsachen allerdings hoch wahrscheinlich sein müssen und die diesem Urteil zugrunde liegenden Erkenntnisse von den Ermittlungsbehörden und Gerichten festgestellt sein müssen, können dieser und auch andere ungeklärte, weil nicht überprüfte Aspekte entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft nicht zu Lasten des Angeklagten der Haftentscheidung zugrunde gelegt werden.

    b) Auch der vom Landgericht angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) ist bei Anwendung der maßgeblichen Grundsätze (vgl. Senat StV 2012, 350) nicht feststellbar.

    Die der Prüfung zugrunde liegende Straferwartung für den Angeklagten, der nach der Anklageschrift und Lage der dem Senat zur Verfügung gestellten Akten unbestraft ist, hat sich inzwischen durch einen Verständigungsvorschlag, den das Gericht in Absprache mit der Anklageverfasserin der Verteidigung unterbreitetet hat, dahin konkretisiert, dass bei einem umfassenden Geständnis eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen einem Jahr und acht Monaten und zwei Jahren bei jeweils zu gewährender Strafaussetzung zur Bewährung auszusprechen sei. Für die Strafzumessungsbewertung im Falle eines streitigen Verfahrens ist zugrunde zu legen, dass die Differenz zu der für den Fall eines Geständnisses zugesagten Strafobergrenze nicht zu groß sein darf, im Vergleich zum einvernehmlichen Verfahren also eine angemessene Erhöhung ins Auge zu fassen ist. Auch wenn man eine mathematische Betrachtung des angemessenen "Strafrabatts" wegen der stets zu beachtenden Besonderheiten des Einzelfalles nicht befürworten mag (vgl. BGH StV 2011, 202, 204), kann in dem Zwischenstadium einer Haftentscheidung die verbreitete Auffassung einen ersten Anhaltspunkt bieten, wonach der angemessene Strafrabatt in der Regel nicht mehr als 20 % bis 30 % betragen darf bzw. Erhöhungen um mehr als ein zusätzliches Drittel der nach einem Geständnis zu verhängenden Strafe nicht zu rechtfertigen sind (vgl. Stuckenberg in LR-StPO 26. Aufl., § 257c Rn. 50; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 57. Aufl., § 257c Rn. 19 mwN). Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass dem Angeklagten bei einer Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren und acht Monaten keine derart hohe Strafe droht, die ihn dazu veranlassen könnte, unter Zurücklassen seiner langjährigen Heimat und sozialen Bindungen sowie seiner beruflichen Stellung unterzutauchen oder sich in ein Land zu begeben, von dem er annehmen kann, dass von dort seine - zweifellos zu beantragende - Auslieferung nicht alsbald bewirkt werden würde.

    Eine hinreichende Verwurzelung des Angeklagten in Deutschland wird auch dadurch dokumentiert, dass er bei seiner Festnahme neben den bereits genannten Unterlagen auch einen deutschen Führerschein, Bankkarten der Postbank, eine Kreditkarte sowie eine Gesundheitskarte bei sich führte. Zwar ist den Akten nicht zu entnehmen, welche Betriebs- oder Wohnanschrift auf der Handwerkskarte vermerkt ist. Dem Angeklagten ungünstige Folgerungen lassen sich daraus indessen nicht ableiten. In dem Festnahmebericht der Bundespolizei ist jedenfalls als Wohnort des Angeklagten die Anschrift C, aufgeführt. Weitere Umstände, die die Untersuchungshaftanordnung erforderlich erscheinen lassen, sind nicht feststellbar. Die Festnahme des Angeklagten erfolgte, als dieser Beifahrer eines Pkw war, der - wohl aus Polen kommend - sich auf der Bundesstraße 104 in der Ortschaft Li in Fahrtrichtung Lö befand. Von dort gelangt man bei Fahrtrichtung Lö auf dem kürzestem Weg nach C. Gegen die Annahme, der Angeklagte wolle sich dem Verfahren entziehen, spricht die Tatsache, dass er bislang mit den Ermittlungsbehörden kooperiert, auch freiwillig eine Speichelprobe abgegeben hat. Schließlich hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger eine auf diesen ausgestellte schriftliche Ladungsvollmacht im Sinne des § 145a Abs. 2 StPO vorgelegt, die selbst bei Zugrundelegung einer fraglichen Zustellungsanschrift Ladungen des Angeklagten im vorliegenden Verfahren sicherstellt; dieses Verhalten spricht für dessen Willen, sich dem Verfahren zu stellen (vgl. OLG Dresden StV 2007, 587; Krauß in Graf, StPO, § 112 Rn. 9; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt aaO. Rn. 13). Der Angeklagte will sich gegen die Tatvorwürfe verteidigen und hat derzeit keinen Grund zu der Annahme, seine Lage sei hoffnungslos, er werde ohne jeden Zweifel ohnehin verurteilt. Es ist nicht anzunehmen, dass er, eine mit einer Flucht einhergehende Verschlechterung seiner Position in Kauf nehmend, sich in vorgerücktem Alter unter ungewissen Bedingungen absetzen oder untertauchen sollte, statt sich der Hauptverhandlung zu stellen, um die auch in seinem Interesse liegende baldige Klärung der Vorwürfe zu erreichen.

    3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last, weil kein anderer für sie haftet.

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