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  • 26.11.2013 · IWW-Abrufnummer 133827

    Finanzgericht München: Urteil vom 26.09.2013 – 5 K 1610/12

    1. Sowohl aus dem Kindergeldmerkblatt 1998 als auch aus dem Merkblatt des Jahres 1999 lässt sich für einen Laien keine eindeutige
    Mitteilungspflicht für den Fall des mehrjährigen Schulbesuchs des Kindes im Ausland erkennen.
    2. Gleiches gilt für den Fall, dass die Kindergeldberechtigte „ins Ausland verzieht”, da sich hieraus eine Meldepflicht nur
    ergibt, wenn sie den Wohnsitz im Inland aufgibt.
    3. Ohne weitere Ermittlungen der Familienkasse kann insbesondere bei Sprachschwierigkeiten der Kindergeldberechtigten nicht
    davon ausgegangen werden, dass diese durch die weitere Entgegennahme des Kindergeldes eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige
    Steuerverkürzung begangen hat.


    IM NAMEN DES VOLKES
    Urteil
    In der Streitsache
    hat der 5. Senat des Finanzgerichts München durch … ohne mündliche Verhandlung am 26. September 2013 für Recht erkannt:
    1. Der Bescheid vom 13. Juli 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 23. April 2012 werden für den Kindergeldzeitraum September
    2003 bis Dezember 2006 in Höhe von 6.160 EUR aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
    2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin zu 51%, die Beklagte zu 49%.
    3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in
    Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit
    in derselben Höhe leistet.
    Gründe
    I.
    Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für ihren Sohn …, geboren am 28. Oktober 1996, für
    den Zeitraum September 2003 bis Juni 2010 und die Rückforderung von Kindergeld in Höhe von 13.028 EUR.
    Die Familienkasse (Beklagte) hob die Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 13. Juli 2011 auf und begründete dies mit dem
    Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen ab September 2003. Im Zuge von Ermittlungen war der Beklagten zunächst bekannt geworden,
    dass sich die Klägerin im Juli 2007 von München mit unbekanntem Ziel abgemeldet hatte. Über den Kindsvater war ihr dann mitgeteilt
    worden, dass sich die Klägerin und das Kind bereits im September 2003 in die Türkei begeben hätten, da das Kind dort die Schule
    besuche. Zeitpunkt der Abreise und Aufenthaltsort der Klägerin und des Kindes sind unstreitig. Bereits in der Anhörung vor
    dem Erlass des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids hatte die Klägerin vorgetragen, das Kind sei nach wie vor in Deutschland
    gemeldet und halte sich auch regelmäßig im Inland auf. Dieser Vortrag wurde im Einspruchsverfahren aufrecht erhalten, und
    es wurde hierzu je eine Bescheinigung des Bezirkspolizeipräsidiums Narlidere mit Ein- und Ausreisedaten der Klägerin bzw.
    des Kindes über türkische Flughäfen für den Zeitraum 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2010 vorgelegt. Ferner wurde der Einwand
    der Festsetzungsverjährung erhoben. Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 23. April 2012 als unbegründet
    zurück. Das Kind könne nach § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht berücksichtigt werden, da es seinen
    inländischen Wohnsitz mit dem Beginn der Schulausbildung im September 2003 aufgegeben habe. Zudem sei die Klägerin auch nicht
    kindergeldberechtigt, da sie selbst nicht über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland verfüge. Die Aufhebung
    ab September 2003 sei zulässig, da die Klägerin der Beklagten nicht mitgeteilt habe, dass sie und ihr Kind in die Türkei zurückgekehrt
    seien. Deshalb liege Steuerhinterziehung vor, und die Festsetzungsfrist verlängere sich auf zehn Jahre.
    Im Klageverfahren trägt die Klägerin vor, es sei zumindest bis Dezember 2006 Festsetzungsverjährung eingetreten. Ihr Sohn
    besuche in der Türkei eine deutsch-türkische Schule, wohne jedoch noch in der Wohnung seines Vaters in München und sei dort
    auch gemeldet. Er halte sich dort regelmäßig auf und habe dort viele Freunde und seinen Lebensmittelpunkt. Steuerhinterziehung
    liege nicht vor, da die Klägerin nur eingeschränkt der deutschen Sprache mächtig sei. Die Klägerin und ihr Kind hätten sich
    während der türkischen Schulferien (3,5 Monate Sommerferien, 2 Wochen Winterferien) bis 2007 jeweils in der Wohnung der Klägerin
    und danach in der Wohnung des Kindsvaters in München aufgehalten. Eine entsprechende Unterkunft habe der Kindsvater dort vorgehalten;
    der Mietvertrag und Fotos würden nach gereicht. Die Klägerin und ihr Ehemann seien stets davon ausgegangen, dass sie Anspruch
    auf Kindergeld hätten, zumal der Ehemann der Klägerin stets seinen Wohnsitz im Inland gehabt habe und sich der Sohn nur zur
    Ausbildung in der Türkei aufhalte und nach deren Beendigung wieder zurückkehren wolle. Wenn schon strittig sei, ob der Sohn
    seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei oder im Inland habe, könne nicht von vorsätzlicher Steuerhinterziehung oder leichtfertiger
    Steuerverkürzung ausgegangen werden.
    Die Klägerin beantragt,
    den Bescheid vom 13. Juli 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 23. April 2012 aufzuheben.
    Die Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen.
    Aus den vorgelegten Ein- und Ausreisedaten ergebe sich nicht, dass die Klägerin im strittigen Zeitraum einen Wohnsitz oder
    gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt habe. Deshalb fehle ihr nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG die Anspruchsberechtigung für
    das Kindergeld. Das Kind könne nach § 63 Abs. 1 S. 3 EStG nicht berücksichtigt werden, da die Registrierung bei der Meldebehörde
    lediglich Indizwirkung entfalte, der inländische Wohnsitz aber wegen des langjährigen Schulbesuchs in der Türkei aufgegeben
    worden sei. Auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) werde insoweit verwiesen. Eine eventuelle Rückkehrabsicht
    nach Beendigung der Ausbildung sei nicht entscheidend. Die – soweit überhauptnachgewiesenen Inlandsaufenthalte hätten lediglich
    Besuchscharakter gehabt. Die Klägerin wäre nach § 68 EStG verpflichtet gewesen, die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes der
    Familienkasse gegenüber anzuzeigen. Darauf weise das Merkblatt 1999 hin. Sie habe das Kindergeld mit bedingtem Vorsatz weiter
    bezogen, denn auch bei mangelnden Deutschkenntnissen könne niemand davon ausgehen, dass der Kindergeldanspruch in Deutschland
    trotz des Wegzugs weiterhin bestehe. Die strafrechtliche Verfolgungsverjährung beginne erst mit der letzten Kindergeldauszahlung,
    hier im Juni 2010; auf den Aufsatz von Lindwurm, AO-Steuerberater – AO-StB – 2012, 339 werde verwiesen. Unabhängig vom Vorliegen
    einer Steuerhinterziehung oder einer leichtfertigen Steuerverkürzung habe die Kindergeldfestsetzung daher aufgehoben werden
    können, und die Rückforderung sei in voller Höhe berechtigt.
    Zur Ergänzung des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Akten und die Schriftsätze sowie den Beschluss
    des Senats in Sachen Aussetzung der Vollziehung vom 11. Oktober 2012 5 V 2370/12 verwiesen.
    Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
    II.
    Die Klage ist teilweise begründet. Hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung bis einschließlich Dezember 2006 ist Festsetzungsverjährung
    eingetreten. Ab Januar 2007 konnte die Beklagte dagegen die Kindergeldfestsetzung aufheben und das gezahlte Kindergeld zurückfordern.
    1. Zeitraum September 2003 bis Dezember 2006:
    Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergelds mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben
    oder zu ändern, wenn in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten. Die Regelung
    betrifft den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs
    maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (BFH-Urteil vom 20. November
    2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564). Unabhängig von der Frage der Anspruchsberechtigung der Klägerin und des Wohnsitzes des
    Kindes kommt eine Änderung wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung jedoch nicht in Betracht.
    Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) darf die Festsetzung einer Steuervergütung – als solche gilt auch das Kindergeld,
    vgl. § 31 Satz 3 EStG – nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr aufgehoben werden. Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen
    beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO) zehn Jahre und bei leichtfertiger Steuerverkürzung
    (§ 378 AO) fünf Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO).
    Im Streitfall ist die Festsetzungsfrist für das noch streitgegenständliche Kindergeld einschließlich Dezember 2006, die grundsätzlich
    vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO) beträgt, spätestens zum 31. Dezember 2010 abgelaufen. Sie begann mit Ablauf des Jahres,
    in dem die Steuer(-vergütung) entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO), hier also für den durch die Aufhebung der streitigen Kindergeldfestsetzung
    zuletzt betroffenen Monat des Jahres 2006 (Dezember 2006) mit Ablauf des Jahres 2006 und endete für die Kindergeldfestsetzung
    bis Dezember 2006 spätestens mit Ablauf des Jahres 2010.
    Da der ursprünglich streitgegenständliche Aufhebungsbescheid erst am 13. Juli 2011 ergangen ist, ist die Aufhebung des Kindergelds
    für den Zeitraum September 2003 bis Dezember 2006 (vorbehaltlich der Ausführungen von Lindwurm, am angegebenen Ort – a.a.O.
    – zum Fristbeginn) nur dann rechtmäßig, wenn der Klägerin für diesen Streitzeitraum eine Steuerhinterziehung bzw. für 2006
    zumindest eine leichtfertige Steuerverkürzung zur Last zu legen ist.
    Nach Auffassung des Senats hat die Klägerin keine Steuerhinterziehung und auch keine leichtfertige Steuerverkürzung begangen,
    da keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Klägerin die Familienkasse im Jahr 2003 und in der Folgezeit
    ihre Mitteilungspflicht nach § 68 Abs. 1 EStG vorsätzlich oder leichtfertig dadurch verletzt hat, dass sie die Beklagte nicht
    über den Schulbesuch ihres Kindes in der Türkei ab September 2003 in Kenntnis gesetzt hat. Dem der Klägerin mit der Bewilligung
    des Kindergelds im Jahr 1999 übersandten Merkblatt (Stand: Dezember 1998) war ein eindeutiger Hinweis auf eine entsprechende
    Mitteilungspflicht schon nicht zu entnehmen. Nach Ziffer 17 dieses Merkblatts ist die Familienkasse unverzüglich zu benachrichtigen,
    wenn eine Beschäftigung im Ausland aufgenommen wird oder der Kindergeldberechtigte oder das Kind ins Ausland verzieht. Dass
    die Klägerin eine Beschäftigung in der Türkei aufgenommen hätte, ist weder vorgetragen noch nachgewiesen. Die Formulierung
    „ins Ausland verziehen” ist unklar und missverständlich, weil schon offen bleibt, ob dies nach wie vor eine Anknüpfung an
    den Begriff des Wohnsitzes ausdrückt (vgl. insoweit bereits zum Merkblatt 1995 mit der Formulierung „unter Aufgabe des Wohnsitzes
    ins Ausland verzieht” Urteil des Senats vom 14. Juni 2012 5 K 1058/10, juris). Inhaltlich ist auch die Fassung 1999 unklar
    und missverständlich und lässt für einen Laien keine eindeutige Mitteilungspflicht erkennen. Der Senat hatte zum Merkblatt
    1995 folgendes ausgeführt: „Da die Klägerin zum einen der Auffassung ist, dass das Kind seinen Wohnsitz in Deutschland mit
    Beginn des Schulbesuchs in der Türkei nicht aufgegeben hat, zum anderen die Beantwortung der Frage, ob der Wohnsitz aufgegeben
    wurde, eine rechtliche Wertung voraussetzt, zu der die Klägerin insbesondere in Anbetracht ihres Bildungsstandes (es bestehen
    nach Aktenlage, insbesondere nach dem Schriftbild der vorliegenden Anträge, Zweifel, in welchem Umfang sie überhaupt des Schreibens
    mächtig ist) auch im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre ggf. gar nicht in der Lage war, ergab sich aus diesem
    Hinweis für die Klägerin keine eindeutige Benachrichtigungspflicht.” Auch wenn das Merkblatt 1999 den Wohnsitzbegriff nicht
    mehr explizit enthält, erscheint doch genauso fraglich, ob „verziehen” mit „endgültig wegziehen” gleichzusetzen ist, zumal
    die Klägerin nach den Ermittlungen der Beklagten bis Juli 2007 selbst noch in München unter einer eigenen Wohnanschrift gemeldet
    war.
    Hinzuweisen ist auch darauf, dass das Merkblatt 1999 keine Hinweispflicht mehr für den Fall enthält, dass der Kindergeldberechtigte
    als ausländischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet wohnt und sich eines der Kinder ins Ausland zur Schul- oder Berufsausbildung
    begibt.
    Schließlich spricht gegen den Vorsatz und die Leichtfertigkeit der Klägerin, dass sie die Kindergeldberechtigung aufgrund
    des Wohnsitzes des Kindsvaters im Inland weiterhin als gegeben ansah und dies als laienhafte Wertung – vor allem in den ersten
    Jahren, in denen noch Ein- und Ausreisedaten vorliegen – nicht völlig unverständlich erscheint.
    2. Kindergeldzeitraum Januar 2007 bis Juni 2010:
    Kindergeldberechtigt ist, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen
    Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 oder Abs. 3 EStG der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht unterliegt, § 62 Abs. 1 EStG.
    Die Klägerin hat nicht nachgewiesen, dass sie ab 2007 noch einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt hat.
    Aus den vorgelegten Daten über die Ein- und Ausreise in die Türkei lassen sich nur für die Vorjahre bis 2005 einige Ein- und
    Ausreisetermine entnehmen. Auch wenn die Klägerin erst im Juli 2007 melderechtlich mit unbekanntem Ziel abgemeldet wurde,
    kann daraus nicht gefolgert werden, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
    verfügt hat. Ab August 2007 hat sie ihren Vortrag, der Kindsvater habe in seiner Wohnung Räume für Aufenthalte während der
    türkischen Schulferien bereitgehalten, nicht durch die schriftsätzlich angekündigten Fotos bzw. den Mietvertrag über eine
    entsprechend große Wohnung untermauert; zudem fehlen auch hier Ein- und Ausreisedaten, auch für das Kind.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
    auf § 90 Abs. 2 FGO und der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz
    auf § 151 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 und Abs 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

    VorschriftenEStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 63 Abs. 1 S. 3, AO § 169, AO § 370, AO § 378

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