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  • · Fachbeitrag · Der praktische Fall

    Wie, alles geklärt!? ‒ Anwaltsfalle materielle Rechtskraft

    von RiOLG a.D. Günther Geldmacher, Düsseldorf

    | Kann der Mieter sich gegenüber einer auf eine fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzug gestützten Räumungs- und Herausgabeklage darauf berufen, aufgrund einer einen anderen Zeitraum betreffenden rechtskräftig abgewiesenen Zahlungsklage stehe fest, dass er zur Minderung berechtigt sei? Mit dieser Frage musste sich der BGH beschäftigen. Er nutzt die Gelegenheit zu allgemeinen Ausführungen über die Grenzen der Rechtskraft. |

    Sachverhalt

    Die Beklagten mindern die Miete seit 1999 wegen Mängeln der Wohnung. In einem zwischen ihnen und der Voreigentümerin geführten Rechtsstreit hat das LG Dresden die auf Zahlung von Miete für die Zeit von 1/03 bis 4/08 gerichtete Klage mit Urteil vom 10.12.10 rechtskräftig abgewiesen. Grund: Die Miete für die von den Beklagten genutzte Wohnung sei wegen bestimmter Mängel gemindert. In einem weiteren auf Mietzahlung für den Zeitraum von 11/10 bis 9/12 gerichteten Rechtsstreit hat dasselbe Gericht ‒ wiederum rechtskräftig ‒ mit Urteil vom 1.2.17 entschieden, dass die Miete wegen weiterer Mängel gemindert sei. Von 3/14 bis 5/17 zahlten die Beklagten statt vereinbarter 785 EUR nur 253,43 EUR monatlich.

     

    Die Klägerin kündigte das Mietverhältnis mit Schreiben vom 29.12.15 wegen Zahlungsverzug fristlos, hilfsweise ordentlich und erklärte während des Räumungs- und Herausgabeverfahrens noch weitere sechs Kündigungen. Das Berufungsgericht weist die Klage unter Hinweis auf die rechtskräftigen Urteile des LG Dresden ab ‒ zu Unrecht, wie der BGH entscheidet.

     

    Wird eine Klage auf Zahlung von Miete ganz oder teilweise mit der Begründung abgewiesen, die Miete sei aufgrund von Mängeln gemindert, erwachsen ‒ als bloße Vorfragen ‒ weder die Ausführungen zum Bestehen von Mängeln noch die vom Gericht angesetzten Minderungsquoten in Rechtskraft (Abruf-Nr. 209087).

     

    Entscheidungsgründe

    Das Berufungsgericht hat bereits im Ausgangspunkt verkannt, dass die Rechtskraftwirkung eines Urteils nach §§ 265, 325 Abs. 1 ZPO nicht weiter reichen kann als die materielle Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO. Ein rechtskräftiges Urteil wirkt nach § 325 Abs. 1 ZPO für und gegen den Rechtsnachfolger, also in gleicher Weise wie gegenüber der ursprünglichen Partei.

     

    Von der materiellen Rechtskraft der beiden in den Vorverfahren ergangenen Urteile des LG Dresden werden jedoch weder die dort angenommenen Mängel der Wohnung der Beklagten noch die diesbezüglich zuerkannte Mietminderung erfasst, da Gegenstand beider Verfahren nicht etwa eine Klage auf Feststellung (§ 256 Abs. 1 ZPO) von Mängeln der Wohnung und einer daraus folgenden Minderung der Miete war, sondern jeweils eine Klage der Rechtsvorgängerin der Klägerin gegen die Beklagten auf Zahlung rückständiger Miete.

    Relevanz für die Praxis

    Die Grenzen der Rechtskraft werden in der mietrechtlichen Praxis oft verkannt. Urteile sind der Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO nur insoweit fähig, als über den durch Klage oder Widerklage erhobenen Anspruch entschieden worden ist. Damit sind der Rechtskraft bewusst enge Schranken gezogen; die Urteilselemente, die bedingenden Rechte und Gegenrechte erfasst sie nicht. Sie wird vielmehr auf den unmittelbaren Gegenstand des Urteils beschränkt, also auf diejenige Rechtsfolge, die aufgrund einer Klage oder Widerklage beim Schluss der mündlichen Verhandlung den Gegenstand der Entscheidung bildet.

     

    1. Tatsächliche Feststellungen erwachsen nicht in Rechtskraft

    • Wird z. B. die Räumungsklage im Vorprozess rechtskräftig abgewiesen, steht damit lediglich fest, dass dem Kläger im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung kein Räumungsanspruch zustand. Einer weiteren Klage, mit der die Beendigung des Mietverhältnisses durch erneute Kündigung geltend gemacht wird, steht die rechtskräftige Entscheidung im Vorprozess nicht entgegen (BGH WuM 12, 152).

     

    • Ist eine Räumungsklage abgewiesen, steht damit nicht zugleich rechtskräftig fest, dass die Kündigung, auf die die Klage gestützt war, das Mietverhältnis nicht beendet hat. Die Rechtskraft des klageabweisenden Räumungsurteils hindert den Mieter deshalb nicht daran, seinerseits zur Abwehr der gegen ihn geltend gemachten Schadenersatzansprüche vorbeugend klageweise feststellen zu lassen, dass das Mietverhältnis infolge der Kündigung nicht mehr bestehe (BGHZ 43, 144).

     

    • Die Abweisung einer auf eine außerordentliche Kündigung gestützten Räumungsklage hindert den Vermieter nicht, eine erneute Kündigung und Räumungsklage darauf zu stützen, der Mieter habe das beanstandete Verhalten nach der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses fortgesetzt (BGH NJW 98, 374).

     

    • Dem Vermieter ist es ferner nicht verwehrt, eine erneute Kündigung nach § 543 BGB auf solche Gründe zu stützen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Vorprozesses zwar schon objektiv vorlagen, ihm aber erst nach diesem Zeitpunkt bekannt geworden sind (BGH, a. a. O).

     

    PRAXISTIPP | Der Rechtsanwalt des Vermieters sollte seinen Mandanten ‒ auch wenn die Räumungsklage in einem Vorprozess abgewiesen wurde ‒ danach fragen, ob sich nicht nachträglich weitere Gründe ergeben haben, die eine erneute Kündigung des Mietverhältnisses rechtfertigen.

     

    2. Präjudizielle Rechtsverhältnisse erwachsen nicht in Rechtskraft

    Ebenfalls nicht in Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO erwachsen die Feststellungen über die der Entscheidung zugrunde liegenden präjudiziellen Rechtsverhältnisse, wie etwa die Wirksamkeit einer Kündigung oder die Nichtigkeit eines Vertrags (BGH NJW-RR 2008, 1397; NJW 1992, 1897).

     

    • Beispiel

    Klagt der Vermieter wie im Fall des OLG Düsseldorf (MK 17, 105, Abruf-Nr. 193984) rückständige Miete für bestimmte Monate ein und wird der Klage rechtskräftig stattgegeben, weil die außerordentliche Kündigung des Mieters das Mietverhältnis nicht beendet habe, ist Streitgegenstand des Verfahrens allein der geltend gemachte Zahlungsrückstand und nicht der Fortbestand des Mietverhältnisses aufgrund der angenommenen Unwirksamkeit der Kündigung. Folge: Die rechtskräftige Entscheidung des Vorprozesses entbindet das Gericht nicht davon, wiederum zu prüfen, ob das Mietverhältnis aufgrund der Mieterkündigung beendet ist, wenn der Vermieter in einem weiteren Prozess für einen späteren Zeitraum erneut auf Mietzahlung klagt.

     

    3. Mängel und Mietminderung nicht rechtskräftig entschieden

    So liegt der Fall auch, wenn das Gericht ‒ wie hier ‒ die Klage des Vermieters in einem Vorprozess auf Zahlung rückständiger Miete rechtskräftig abgewiesen und hierzu festgestellt hat, dass Mängel vorgelegen haben und die Miete daher in Höhe des eingeklagten Betrags gemindert sei. Klagt der Vermieter in einem späteren Prozess auf Räumung und Herausgabe der Mieträume, handelt es sich bei den im Vorprozess getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu Mietmängeln und Mietminderung lediglich um Vorfragen, die nicht von der Rechtskraft der dort streitgegenständlichen Zahlungsklage erfasst werden.

     

     

    PRAXISTIPP | Wollen die Parteien Vorfragen oder präjudizielle Rechtsverhältnisse abschließend geklärt haben, steht ihnen die nicht an ein besonderes Feststellungsinteresse anknüpfende Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) und die Feststellungsklage (§ 256 Abs. 1 ZPO) offen. So kann etwa der auf Mietzahlung verklagte Mieter widerklagend den Antrag stellen, „festzustellen, dass das Mietverhältnis zum … geendet habe“.

     

    Beachten Sie | Werden die Weichen im (Vor-)Prozess ‒ wie im Fall des OLG Düsseldorf (a.a.O) ‒ falsch gestellt, kann es für den Vermieter und seinen Anwalt ein „böses Erwachen“ geben und es kommt ein Regressanspruch des Mandanten in Betracht.

     

    4. Bindungswirkung rechtskräftiger Entscheidungen

    Aus dem in der materiellen Rechtskraft liegenden Verbot einer wiederholten Entscheidung über denselben Streitgegenstand folgt allerdings eine Bindungswirkung der in einem Vorprozess rechtskräftig getroffenen Entscheidung, soweit diese für die Entscheidung im Folgeprozess vorgreiflich ist.

     

    • Ist Streitgegenstand des Vorprozesses die Feststellung, dass das Mietverhältnis ungeachtet der Kündigungserklärung des Mieters „bis … fortbesteht“, kann das Gericht im nachfolgenden Zahlungsprozess solange frei über diese Frage entscheiden, als über sie nicht (im Erstprozess) rechtskräftig entschieden ist.
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    • Wird das Urteil des Vorprozesses aber rechtskräftig (z. B. die Revision wird vor der letzten mündlichen Verhandlung im Zweitprozess zurückgenommen), kann der Mieter seiner Zahlungspflicht nicht mehr mit Erfolg entgegenhalten, seine Kündigung habe das Mietverhältnis beendet. Hierüber ist im Vorprozess abschließend entschieden, auch wenn der Mieter als Grund für seine Kündigung im Zweitprozess erstmals einen Schriftformmangel nachgeschoben hat (BGH NZM 04, 99).

     

    • Wird der rechtskräftig zur Räumung verpflichtete Grundstückspächter zur Zahlung von Nutzungsentschädigung verurteilt, weil er das Grundstück nicht geräumt hat, ist er durch die Präklusionswirkung des Räumungsurteils daran gehindert, Tatsachen vorzubringen, die ihn im Vorprozess von seiner Pflicht zur Räumung entbunden hätten (OLG Frankfurt a. M. NZM 99, 969).

     

    • Ist der Mieter im Vorprozess rechtskräftig zur Mietzinszahlung verurteilt worden, kann er im Folgeprozess den Kündigungsgrund nicht wegen fehlenden Mietrückstandes bestreiten (KG ZMR 12, 693).

     

    Weiterführender Hinweis

    • Nichts geht mehr nach rechtskräftiger Abweisung, MK 12, 10
    Quelle: Ausgabe 11 / 2019 | Seite 194 | ID 46183500