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  • · Fachbeitrag · Interview

    Die Verfahrensdokumentation aus Sicht einer Betriebsprüfung

    | Die Verfahrensdokumentation ‒ laut GoBD brauchen sie alle, laut Steuerberatern will sie keiner. Die Beurteilungen gehen weit auseinander und reichen von „Bürokratie-Monster“ bis sinnvoller Einstieg in die Prozessberatung. Mit der Betriebsprüferin Andrea Köchling (Hamburg) sprach KP Kanzleiführung professionell über Sinn und Zweck der Verfahrensdokumentation und darüber, welche Rolle sie künftig in der Betriebsprüfungspraxis spielen wird. |

    Warum nimmt das Thema gerade jetzt Fahrt auf?

    JÜRGEN DERLATH: Das Thema Verfahrensdokumentation ist nicht neu: Forderungen nach so etwas wie einer Verfahrensdokumentation enthielten bereits vor über 20 Jahren die GoBS aus 1995. Und dann zog sich das weiter durch. Aber aus meiner Sicht ist das Thema erst mit der Novellierung der GoBD 2019 so richtig ins Bewusstsein gelangt. Warum?

     

    ANDREA KÖCHLING: Die Digitalisierung ist im Rechnungswesen angekommen. Überall erleben wir den Umbruch in den Prozessen von Papier zu digital ‒ bei den Unternehmen, in den Kanzleien und in der Finanzverwaltung. In der Betriebsprüfung heißt das z. B. ganz konkret, dass kaufmännische Prozesse, die jahrzehntelang in der Mehrzahl der Unternehmen immer gleich abliefen, wie z. B. die Bearbeitungsschritte einer Papier-Eingangsrechnung, heute mit verschiedenen Softwarelösungen abgebildet werden. Und in diese manchmal sehr individuellen Lösungen müssen Betriebsprüfer sich hineinfinden.

     

    Gleichzeitig will die Finanzverwaltung auch nicht als Bremser des technischen Fortschritts auftreten. Natürlich sollen die Steuerpflichtigen von den neuen effizienteren Möglichkeiten wie ersetzendes Scannen, digitale Belegbearbeitung und Ablage profitieren. Allerdings sind auch die elektronischen Möglichkeiten, die Ausgangsdaten nachträglich zu bearbeiten, heute vielfältiger als bei Papierbelegen. Außerdem setzen wir heute in der Betriebsprüfung neue Tools und Techniken ein wie IDEA, das MUS-Verfahren (Monetary Unit Sampling), die SRP (summarische Risikoprüfung) usw.

    Das Damokles-Schwert in Rz. 155 der GoBD

    JÜRGEN DERLATH: In Rz. 155 heißt es wörtlich: „Soweit eine fehlende oder ungenügende Verfahrensdokumentation die Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit nicht beeinträchtigt, liegt kein formeller Mangel mit sachlichem Gewicht vor, der zum Verwerfen der Buchführung führen kann.“ Was will mir dieser ‒ vermutlich absichtsvoll genau so hingezirkelte und auf den ersten Blick positiv wirkende ‒ Satz sagen?

     

    ANDREA KÖCHLING: Dann nehmen Sie doch mal die doppelte Verneinung raus.

     

    JÜRGEN DERLATH: Dachte ich mir, klingt gleich viel weniger freundlich. Aber in welchen realistischen Fällen werden denn Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit dadurch (also kausal) beeinträchtigt, dass keine oder eine unzureichende Verfahrensdokumentation vorgelegt wird? Es ging doch bisher auch ohne. Außerdem können sich die Prüfenden die Vorgänge ja immer noch erklären lassen, was sie im Zweifel bis dato auch schon taten.

     

    ANDREA KÖCHLING: Aber man darf nicht vergessen, ganz so einfach kann man eine Buchführung nicht verwerfen. Im Prinzip ist das eine Gesamtschau. Welche formellen Mängel finde ich? Welche materiellen Mängel liegen vor ‒ und jeweils von welchem Gewicht? Daraus bilde ich mir als Prüferin ein Gesamturteil. Wenn es dann in der Gesamtschau zu viel ist, dann bin ich verpflichtet zu schätzen. § 162 AO kennt kein Ermessen. Für mich steht in der Rz. 155 eben auch, wenn die Verfahrensdokumentation der einzige Mangel ist, dann kann ich die Buchführung nicht verwerfen.

    Darf die Finanzverwaltung überhaupt so was fordern?

    JÜRGEN DERLATH: Speziell zu Rz. 155 gibt es Stimmen, die meinen, dass ein so weitreichender Eingriff in die unternehmerische Organisation mit der möglichen Rechtsfolge einer Erschütterung der gesetzlichen Vermutungswirkung des § 158 AO einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage bedarf. § 145 AO (Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Buchführung) reicht wohl nicht aus. Mit anderen Worten: Hier wird ex ante ein hoher administrativer Aufwand vom Steuerpflichtigen eingefordert, ohne dafür eine gesetzliche Grundlage zu haben. Oder gibt es noch eine andere Begründung als § 145 AO? Zumindest der wird vonseiten der Finanzverwaltung ja immer angeführt.

     

    ANDREA KÖCHLING: Also im Bereich der Kasse haben wir mit dem Gesetz gegen die Manipulation von digitalen Grundaufzeichnungen solch eine gesetzliche Vorschrift. Und da geht es auch nicht allein um die Manipulierbarkeit. Bei den elektronischen Kassen gibt es zig Systeme. Da ist allein schon der Datenexport aus der Kasse heraus jedes Mal anders. Und das ist ein Problem. Denn wie soll unsere Prüfungssoftware wissen, wo im exportierten Datensatz welche Daten zu finden sind. Deswegen haben wir ja die einheitliche digitale Schnittstelle für elektronische Kassensysteme (DSFinV-K).

     

    JÜRGEN DERLATH: Ja, aber Buchführungssysteme müssten doch weniger Probleme machen. Anders als die Kassenanbieter kennen die Anbieter von Buchführungssystemen das Spiel mit der elektronischen Datenübergabe schon viel länger. Warum holen Sie sich denn die Daten nicht alle aus der FiBu? Dann würden doch eine Verfahrensdokumentation zum ersetzenden Scannen und eine zur Kasse im Prinzip reichen.

     

    ANDREA KÖCHLING: Weil manche Informationen aus den Vorsystemen eben nicht oder nur verdichtet an die Buchhaltung übergeben werden und so Manipulationen in den Vorsystemen nicht mehr erkennbar sind. Manche Sachverhalte lassen sich einfach anhand von Daten aus den Vorsystemen besser nachvollziehen. In manchen Fällen gibt es aber auch steuerlich relevante Voreinstellungen in den Vorsystemen, die nicht mal dem Anwender bekannt sind. Ich habe einmal ein Unternehmen geprüft und einen halben Tag mit dem Inhaber zusammengesessen, um alle Tools und deren Zusammenspiel zu verstehen. Und dann habe ich ihn gefragt, warum er eigentlich einen Haken bei umsatzsteuerpflichtigen Umsätzen gesetzt hat, obwohl er doch ins Drittland steuerfrei verkauft. Offenbar hatte er den Haken an dem Tag auch zum ersten Mal gesehen und ich bin mit einem ganz ordentlichen Minderergebnis nach Hause gegangen. Wahrscheinlich wäre der Fehler schon viel früher aufgefallen, wenn er eine Verfahrensdokumentation gehabt hätte. Denn dann hätte er sich mit den steuerrelevanten Einstellungen im Vorsystem systematisch auseinandersetzen müssen.

    Warum gibt die Finanzverwaltung nicht Formulare heraus?

    JÜRGEN DERLATH: Rz. 155 spricht von einer „ungenügenden“ Verfahrensdokumentation. Dieses „ungenügend“ bezieht sich auf den Kontext der Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit der Buchführung (also § 145 AO). Wann aber genügt eine Verfahrensdokumentation? Die Rz. 151-154 geben zwar Hinweise zu den Inhalten einer Verfahrensdokumentation und über die GoBD verstreut finden sich nochmal ca. 15 Stellen, in denen darauf verwiesen wird, dass die GoBD zu bestimmten Sachverhalten Aussagen enthalten muss. Wenn die Verfahrensdokumentation so zentral ist, warum gibt es nicht längst amtliche Formulare dafür?

     

    ANDREA KÖCHLING: Die Frage kommt eigentlich regelmäßig. Amtliche Formulare gehen von einem hohen Grad der Standardisierbarkeit aus, da bleibt auch viel Individuelles auf der Strecke. Das nimmt man aber bewusst in Kauf, weil Fragen wie die Typisierbarkeit schon höchstrichterlich ausgefochten sind. Eine Verfahrensdokumentation soll mir als Prüferin aber gerade beim Verstehen der Besonderheiten helfen. Oder bildlicher: Stellen Sie sich eine Tankstelle vor. Was für eine ist Ihnen eingefallen? Eine überdachte 24 h Zapfsäule, an der Sie mit der Kreditkarte zahlen oder ein REWE-Markt mit Zapfsäulen? Beide Extreme laufen unter der Bezeichnung Tankstelle. Und jetzt bringen Sie die mal mit einer Muster-Verfahrensdokumentation „Tankstellen“ auf einen Nenner. Und dieses Problem haben Sie in jeder Branche.

     

    JÜRGEN DERLATH: Im Extremfall haben dann aber alle ‒ Prüfer, Berater, Mandant, Richter ‒ eine eigene Auffassung dazu, wann im Einzelfall eine Verfahrensdokumentation genügt oder eben nicht. Vor allem kann die Rechtsprechung hier keine Klarheit bringen, weil die Rechtsprechung erst mal total kasuistisch ausfallen wird, bevor sich dann Jahre später Standards herausbilden werden.

     

    ANDREA KÖCHLING: Ja, das könnte eine mögliche Entwicklung sein. Aber man kann es auch anders sehen. Wenn die Unternehmen und die Berater sich darauf konzentrieren, den Ablauf der Geschäftsprozesse mit all den betrieblichen Besonderheiten darzustellen, dann hilft mir das in der Prüfung. Und die Prüfung ist vielleicht sogar schneller zu Ende.

    Welche Rolle spielt die Verfahrensdokumentation in der Praxis?

    JÜRGEN DERLATH: Vielleicht mal ein bisschen Empirie zwischendurch: Wie viele Verfahrensdokumentationen haben Sie denn schon zu lesen bekommen?

     

    ANDREA KÖCHLING: Also ehrlich, ich würde gerne mal eine lesen. Mir wurde bislang noch keine vorgelegt. Ich fordere die auch bewusst nicht vorab an, sondern erst in der Prüfung. Ich habe genug Möglichkeiten, mich vorzubereiten. Aber ich weiß auch, dass das Thema emotional „besetzt“ ist. Wenn ich dann vor Ort nichts bekomme, weise ich auf die Verpflichtung hin und dass das Fehlen jetzt eben einen formalen Mangel bedeutet und dass das Thema in der Anschlussprüfung wieder aufkommen werden wird.

     

    JÜRGEN DERLATH: Und wenn Sie dann doch eine Verfahrensdokumentation bekämen, was würden Sie mit der machen?

     

    ANDREA KÖCHLING: Für die Prüfung einer Verfahrensdokumentation haben wir keine Checklisten. Wichtig ist aber, dass wir erkennen, dass die Verfahrensdokumentation den tatsächlichen Verhältnissen im Betrieb entspricht, also auch so gelebt wird und dass sie versioniert wird. Mir würde sie eben dabei helfen, betriebliche Besonderheiten schneller zu verstehen, also welche Prozesse laufen hier anders als in anderen, typischen Unternehmen der Branche.

     

    JÜRGEN DERLATH: Angenommen, Sie können etwas nicht nachvollziehen und werden auch aus der Verfahrensdokumentation nicht schlau. Dann wäre die Verfahrensdokumentation ungenügend i. S. v. Rz. 155. Damit Rz. 155 Sinn macht, dürften Sie den Steuerpflichtigen aber jetzt bloß nichts fragen. Denn womöglich hat er eine Erklärung, die Sie nachvollziehen können und dann ist der „ganze schöne“ formale Mangel kaputt. Richtig?

     

    ANDREA KÖCHLING: Nein, wie gesagt, es geht um die Summe der formellen und materiellen Mängel und deren Schwere. Außerdem muss ich nach § 199 Abs. 1 AO auch Sachverhalte berücksichtigen, die sich zugunsten des zu Prüfenden auswirken und nach § 2 BPO muss ich die zutreffende Besteuerung sicherstellen.

    Ausblick ‒ Das Interne Kontrollsystem Steuern (IKS)

    JÜRGEN DERLATH: In den Rz. 100 ff. geht es um das interne Kontrollsystem Steuern (IKS), das auch in die Verfahrensdokumentation gehört. Meiner Wahrnehmung nach wird das IKS in der Diskussion viel weniger thematisiert, obwohl doch jede Verfahrensdokumentation zumindest unvollständig ist, wenn sie nicht die erforderlichen Aussagen zum IKS enthält.

     

    ANDREA KÖCHLING: Ja. Im Grunde stellen sich dieselben Fragen; denn wie das IKS konkret auszusehen hat, hängt von der Komplexität der Geschäftstätigkeit und der Organisationsstruktur des einzelnen Unternehmens ab. Da sind wir wieder bei der Zapfsäule auf dem Land bzw. dem REWE mit Zapfsäulen. Ich denke, dazu braucht es auch noch konkretere Angaben als das, was heute in den GoBD steht. Allerdings wird das keine weiteren 20 Jahre brauchen.

    Quelle: Ausgabe 07 / 2021 | Seite 127 | ID 47234513

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