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  • 16.01.2024 · IWW-Abrufnummer 239184

    Oberlandesgericht Brandenburg: Urteil vom 14.06.2023 – 4 U 93/22

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Oberlandesgericht Brandenburg 

    Urteil vom 14.06.2023

    4 U 93/22

    In dem Rechtsstreit
    ...
    - Klägerin und Berufungsklägerin -
    Prozessbevollmächtigte:
    ...
    gegen
    ...
    - Beklagter und Berufungsbeklagter -
    Prozessbevollmächtigte:
    Rechtsanwälte ...
    hat das Brandenburgische Oberlandesgericht - 4. Zivilsenat - durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht xxx, die Richterin am Landgericht xxx und den Richter am Oberlandesgericht xxx aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023 für Recht erkannt:

    Tenor:

    1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 27.05.2022, Az. 5 O 39/20, abgeändert:
      Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 366.758,24 € nebst weiterer Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.02.2020 aus 308.394,50 € zu zahlen.
      Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere 1.232 € nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.12.2021 zu zahlen.
    2. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
    3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
    4. Der Streitwert wird auf bis zu 380.000 € festgesetzt.

    Gründe

    I.

    Die klagende Bank nimmt den Beklagten aus einer Höchstbetragsbürgschaft vom 04.04.2012 auf Zahlung von 308.394,50 € nebst Zinsen in Anspruch.

    Hauptschuldnerin war die ("Firma") GmbH & Co KG, der die Klägerin einen Kontokorrentkredit von bis zu 500.000 € gewährt hatte. Der Beklagte war Geschäftsführer der Komplementärin der Hauptschuldnerin und hatte sich für dieses Darlehen bis zu einer Höhe von 400.000 € selbstschuldnerisch verbürgt.

    In den AGB der Klägerin zum Bürgschaftsvertrag wurde die Verjährungsfrist wie folgt geregelt:

    "Die gesetzliche Verjährungsfrist für die Ansprüche aus dieser Bürgschaft wird auf 5 Jahre verlängert."

    Neben der Bürgschaft war das Darlehen mit weiteren Sicherungsmitteln abgesichert: einer Höchstbetragsbürgschaft der ("Name Nachname") über 675.000 €, der Verpfändung eines Kontoguthabens sowie mit drei Buchgrundschulden im Nominalwert von insgesamt 784.606 €.

    Nachdem die Hauptschuldnerin im Jahr 2015 in Insolvenz geriet, kündigte die Klägerin das zum damaligen Zeitpunkt mit 337.024,71 € valutierende Darlehen und forderte den Beklagten mit Schreiben vom 24.09.2015 zur Zahlung bis zum 02.11.2015 auf.

    Der Beklagte verzog am XX.XX.2018 in die Schweiz, was die Klägerin nicht wusste. Die von ihr im Oktober 2018 und November 2019 beantragten Mahnbescheide konnten deshalb nicht zugestellt werden. Adressermittlungen, u.a. bei der Mutter des Beklagten und durch einen Dienstleister, blieben ohne Erfolg.

    Bereits mit der beim Landgericht am 03.03.2020 eingegangenen Klage hat die Klägerin die öffentliche Zustellung der Klage beantragt und dazu die Ergebnisse der ausführlichen Adressrecherchen vorgelegt. Mit Verfügung vom 31.03.2020 hat das Landgericht weitere Nachforschungen verlangt, denen die Klägerin mit Schriftsatz vom 04.05.2020 - mit negativem Ergebnis - nachgekommen ist. Mit Verfügung vom 11.05.2020 hat das Landgericht die Postadresse in der Schweiz einer Person gleichen Namens mitgeteilt, die aus einem anderen Verfahren bekannt sei. Mit Schriftsatz vom 30.06.2020 hat die Klägerin die Zustellung an die Schweizer Adresse beantragt, nachdem sie die Identität des Beklagten verifiziert hatte. Mit Verfügung vom 02.07.2020 ordnete das Landgericht die Zustellung der Klage an und erließ einen Beschluss, den die Geschäftsstelle als Anordnung zur öffentlichen Zustellung interpretierte. Diese wurde von der - unterbesetzten - Geschäftsstelle allerdings erst am 18.03.2021 ausgeführt; die Aushangfrist endete am 19.04.2021. Zuvor hatte die Klägerin - beginnend ab dem 14.10.2020 - regelmäßig bei der Geschäftsstelle nach dem Stand der Zustellung nachgefragt. Erst nach einem Dezernatswechsel wurde die Klägerin mit Verfügung vom 21.05.2021 darauf hingewiesen, dass die öffentliche Zustellung mangels richterlicher Anordnung nicht wirksam sei. Die Zustellung (u.a.) der Klageschrift über die schweizerischen Behörden wurde sodann veranlasst und am 02.12.2021 durch Übergabe an den Beklagten vollzogen.

    Der Beklagte hat gemeint, er hafte nicht aus der Bürgschaft, weil er seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Komplementärin bereits zum 31.12.2013 gekündigt habe. Die Bürgschaft sei wegen Übersicherung sittenwidrig; jedenfalls sei die Forderung verjährt. Darüber hinaus liege ein Haustürgeschäft vor und die Widerrufsfrist habe mangels Belehrung noch nicht zu laufen begonnen; seine darauf gerichtete Willenserklärung habe der Beklagte mit Schriftsatz vom 21.02.2021 widerrufen.

    Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Forderung sei verjährt. Die Verlängerung der Verjährungsfrist in den AGB der Klägerin sei - mangels hinreichender Kompensation des damit verbundenen Nachteils - unangemessen und deshalb unwirksam. Es greife demnach die regelmäßige Verjährung von drei Jahren. Auf die Unkenntnis der Zustelladresse des Beklagten könne sich die Klägerin nicht berufen, weil sie jedenfalls zum Zeitpunkt der ersten Geltendmachung im Jahre 2015 die entsprechende Kenntnis gehabt habe. Die Erhebung der Verjährungseinrede sei auch nicht treuwidrig. Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

    Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die ihren Anspruch in voller Höhe weiterverfolgt. Sie vertieft ihre Auffassungen, dass die Vereinbarung einer verlängerten Verjährungsfrist in ihren AGB wirksam sei, dass die gesetzliche Verjährungsfrist nicht abgelaufen sei, weil diese nicht vor Kenntnis von der neuen Adresse des Beklagten zu laufen beginne und dass die Erhebung der Verjährungseinrede treuwidrig sei, weil der Beklagte - aus verschiedenen Gründen - verpflichtet gewesen sei, seine geänderte Postadresse der Klägerin bekannt zu machen.

    Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 27.05.2022, Az. 5 O 39/20, abzuändern und den Beklagten zu verurteilen,

    an die Klägerin 366.758,24 € nebst weiterer Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07.02.2020 aus 308.394,50 € zu zahlen;

    an die Klägerin weitere 1.232 € nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

    Der Beklagte beantragt,

    die Berufung zurückzuweisen.

    Er verteidigt das angefochtene Urteil.

    II.

    Die zulässige Berufung ist begründet und führt zur Verurteilung des Beklagten.

    Die Klägerin hat gegen den Beklagten gemäß §§ 765 Abs. 1, 488 Abs. 1 S. 2 BGB einen Zahlungsanspruch in der geltend gemachten Höhe.

    1.
    Der Zahlungsanspruch ergibt sich aus dem Bürgschaftsvertrag, § 765 Abs. 1 BGB. Dieser wurde weder wirksam widerrufen noch gekündigt; auch ist er nicht wegen Übersicherung sittenwidrig.

    a) Ein wirksamer Widerruf der auf den Bürgschaftsvertrag gerichteten Willenserklärung des Beklagten liegt nicht vor. Es fehlt an einer Darlegung der vom Beklagten behaupteten "Haustürsituation" im Sinne des § 312b BGB a.F. Die Darlegungs- und Beweislast trägt insofern nach allgemeinen Grundsätzen der Verbraucher (vgl. Grüneberg, § 312b, Rn. 3 m.w.N.), d.h. hier der Beklagte.

    b) Der Beklagte hat den Bürgschaftsvertrag nicht wirksam gekündigt. In Ziffer 8 des Bürgschaftsvertrages ist zwar die Möglichkeit einer Kündigung vorgesehen; eine solche lässt jedoch den Bestand der bis zur Kündigung aufgelaufenen Bürgschaftsverpflichtung unberührt. Als Kündigung der Bürgschaft ist das - nicht an die Klägerin, sondern an die Hauptschuldnerin gerichtete - Schreiben des Beklagten vom 13.06.2013 im Übrigen nicht auszulegen. Die Klägerin hat zudem den Erhalt einer Kündigung bestritten und der Beklagte hat hierzu kein geeignetes Beweismittel benannt.

    Die Behauptung des Beklagten, er habe seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Komplementärin zum 31.12.2013 gekündigt, ist für das hier in Rede stehende Vertragsverhältnis nicht relevant. Die Beendigung der Stellung des Beklagten als Geschäftsführer der Komplementärin lässt die Wirksamkeit der Bürgschaft grundsätzlich unangetastet.

    c) Der Bürgschaftsvertrag ist auch nicht wegen Übersicherung sittenwidrig. Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Bezug genommen, die in der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen werden.

    2.
    Der Bestand des Darlehensvertrages zwischen der Klägerin und der Hauptschuldnerin steht ebenso wenig im Streit, wie die Wirksamkeit der Kündigung des Darlehensvertrages durch die Klägerin, so dass die Hauptforderung aus § 488 Abs. 1 S. 2 BGB dem Grunde nach besteht.

    Der Höhe nach ist der Forderungsbestand zum Zeitpunkt der Kündigung der Klägerin mit 337.024,71 € unstreitig. Die Klägerin hat ausweislich der Abrechnung den auf die Hauptforderung gezahlten Betrag der ("Name Nachname") in Höhe von 28.630,21 € als Erfüllung berücksichtigt, so dass sich die Hauptforderung auf 308.394,50 € reduziert. Weiterhin macht die Klägerin Zinsforderungen von insgesamt 58.363,74 € für die Zeit bis zum 06.02.2020 geltend, die sie in der Anlage K8 nachvollziehbar aufgelistet hat.

    Soweit der Beklagte mit Nichtwissen bestreitet, dass das Darlehen nicht noch weiter getilgt worden sei, ist dieses Bestreiten unerheblich, da nach allgemeinen Grundsätzen der Schuldner - und damit der Beklagte - die Darlegungs- und Beweislast für die Erfüllung der Forderung trägt.

    3.
    Die Bürgschaftsforderung ist - selbst unter Zugrundelegung der dreijährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB und ungeachtet der Verlängerung der Verjährungsfrist in den AGB der Klägerin - nicht verjährt.

    a) Es kann im Ergebnis dahinstehen, ob die Verlängerung der Verjährungsfrist in den AGB der Klägerin auf fünf Jahre wegen unangemessener Benachteiligung gemäß § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist. Grundsätzlich kann gemäß § 202 Abs. 2 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist durch Vereinbarung bis zur Dauer von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn verlängert werden. Eine solche Vereinbarung ist zwar auch in AGB möglich, unterliegt dann jedoch gemäß § 307 Abs. 3 S. 1 BGB der AGB-Kontrolle, da die Klausel von der gesetzlichen Regelverjährungsfrist des § 195 BGB abweicht. Die Regelverjährungsfrist nach § 195 BGB von drei Jahren gehört zu den wesentlichen Grundgedanken des Verjährungsrechts, sodass bei einer Abweichung davon in AGB nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Zweifel eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners anzunehmen ist. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn die betreffende Klausel auf Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung in ihrer Gesamtheit den Kunden nicht unangemessen benachteiligt (vgl. BGH, Urteil vom 21.04.2015, XI ZR 200/14, Rn. 17 ff., juris). Eine formularmäßige Verlängerungen der Verjährungsfrist ist dann nicht unangemessen, wenn diese sachlich gerechtfertigt ist und maßvoll erfolgt. Dabei spricht es für die inhaltliche Ausgewogenheit einer solchen Klausel, wenn die Begünstigung des Verwenders durch Vorteile für dessen Vertragspartner kompensiert wird (vgl. BGH, Urteil vom 05.10.2005, VIII ZR 16/05).

    Zwar kann eine Verlängerung der Verjährungsfrist bei Bürgschaften auf fünf Jahre in AGB als maßvoll und wirksam angesehen werden, wenn sie zugleich die kenntnisunabhängige Verjährung erfasst und insofern den Bürgen begünstigt (BGH, Urteil vom 21.04.2015, XI ZR 200/14, Rn. 17, juris). Denn bei einer Bürgschaft ist es in der Regel wirtschaftlich sinnvoll, dass der Gläubiger zunächst einmal den Hauptschuldner in Anspruch nimmt und erst später den Bürgen. Die damit einhergehende Verzögerung der Inanspruchnahme des Bürgen kann eine Verlängerung der Verjährungsfrist in AGB deshalb grundsätzlich durchaus rechtfertigen. Denn jedenfalls bei einer selbstschuldnerischen Bürgschaft ist es regelmäßig auch im Interesse des Bürgen, dass der Gläubiger zunächst versucht, den Hauptschuldner in Anspruch zu nehmen. Eine Verlängerung der Verjährungsfrist entlastet insoweit nicht nur den Gläubiger davon, den Bürgen möglichst zeitnah in Anspruch zu nehmen, sondern in vergleichbarer Weise auch den Bürgen vor einer Inanspruchnahme trotz wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Hauptschuldners. Trotz dieser allgemein dem Bürgschaftsrecht innewohnenden Umstände hat der Gesetzgeber auch Bürgschaftsansprüche der allgemeinen Verjährung unterworfen, so dass eine pauschale Verlängerung der "gesetzlichen Verjährungsfrist" grundsätzlich eine Abweichung vom gesetzlichen Leitbild mit der Folge begründet, dass nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Zweifel von einer unangemessenen Benachteiligung auszugehen ist. Einer endgültigen Klärung bedarf diese Rechtsfrage hier nicht, da die Bürgschaftsforderung - wie weiter unten dargelegt - auch nach der Verjährungsfrist des § 195 BGB nicht verjährt ist.

    b) Die Verjährungsfrist des § 195 BGB ist nicht abgelaufen. Diese Frist beginnt gemäß § 199 Abs. 1 BGB mit dem Schluss des Jahres, in dem der Bürgschaftsanspruch der Klägerin entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Der Anspruch aus der selbstschuldnerischen Bürgschaft des Beklagten ist mit Fälligkeit der gesicherten Forderung, d.h. mit Zugang der Kündigung bei der Hauptschuldnerin im Jahr 2015, entstanden (vgl. BGH, Urteil vom 23.09.2008 - XI ZR 395/07 -, Rn. 10, juris).

    Die Verjährungsfrist begann hier erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Klägerin die Wohnadresse des Beklagten mit gerichtlicher Verfügung vom 11.05.2020 bekannt gegeben worden war, d.h. mit dem Schluss des Jahres 2020. Denn erst mit der gerichtlichen Verfügung hatte die Klägerin die für den Fristbeginn erforderliche Kenntnis von der Person des Schuldners. Diese liegt im Allgemeinen vor, wenn dem Gläubiger die Erhebung einer Klage Erfolg versprechend, wenn auch nicht risikolos, möglich ist. Hierzu bedarf es nicht nur der Kenntnis des Namens des Schuldners, sondern auch der Anschrift des Schuldners (vgl. BGH, Urteil vom 03.06.2008 - XI ZR 319/06). Das Tatbestandsmerkmal der "Person des Schuldners" erfasst deshalb nicht nur dessen Namen, sondern auch dessen aktuelle Anschrift (Grüneberg/Ellenberger, § 199 Rn. 35 m.w.N.). Verliert der Gläubiger seine Kenntnis von der aktuellen Anschrift des Schuldners, weil dieser zwischenzeitlich umzieht, ohne seine neue Anschrift mitzuteilen, entfällt das Tatbestandsmerkmal der Kenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB. Maßgeblich ist insoweit die Kenntnis des Gläubigers von der "richtigen" (= aktuellen) Adresse des Schuldners (vgl. BGH, Urteil vom 28.02.2012, XI ZR 192/11, Rn. 16, juris).

    Der Auffassung, wonach der Wegfall der Kenntnis von der aktuellen Schuldneranschrift nach § 206 BGB zu behandeln sei (so Staudinger/Peters/Jacoby (2019) BGB § 199, Rn. 53), ist nicht zu folgen. Denn ob dem Gläubiger die Anschrift des Schuldners bereits bei Entstehung des Anspruchs unbekannt ist oder der Gläubiger diese Kenntnis später - z.B. wegen eines unbekannt gebliebenen Umzugs des Schuldners - wieder verliert, ist von zufälligen Umständen außerhalb der Sphäre des Gläubigers abhängig, die eine rechtlich unterschiedliche Behandlung nicht zu rechtfertigen vermögen. Während nach § 199 BGB positive Kenntnis oder grobe Fahrlässigkeit des Gläubigers für den Beginn der Verjährung maßgeblich sind, werden für eine Hinderung im Sinne des § 206 BGB deutlich höhere Maßstäbe an die Sorgfalt des Gläubigers angelegt ("alle erdenklichen Mühen" vgl. Staudinger/Peters/Jacoby (2019) BGB § 199, Rn. 53; "äußerste Sorgfalt", vgl. Ellenberger/Grüneberg, § 206 Rn. 4). Die Anwendung des § 206 BGB würde den in § 199 BGB normierten Sorgfaltsmaßstab unterlaufen. Dem ist auch nicht mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung zu begegnen. Denn die Möglichkeit der öffentlichen Zustellung steht der Kenntnis der Anschrift nicht gleich, weil bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 185 Nr. 1 ZPO die subjektiven Voraussetzungen des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB denknotwendig ausgeschlossen sind (vgl. BGH 28.02.2012, XI ZR 192/11, Rn. 21 ff., juris; Grüneberg/Ellenberger § 199 Rn. 35).

    c) Eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB von der Anschrift des Beklagten liegt nicht vor. Die Bank trifft als Bürgschaftsgläubiger nach Fälligkeit der Bürgschaftsforderung die besondere Obliegenheit, die ihr bei Abschluss des Bürgschaftsvertrages angegebene Anschrift des Bürgen zeitnah auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (vgl. BGH, Urteil vom 23.09.2008 - XI ZR 395/07 -, Rn. 14, juris). Der nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB anzulegende Maßstab für das Vorliegen grob fahrlässiger Unkenntnis ist demnach für die klagende Bank erhöht. Grob fahrlässige Unkenntnis liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen (vgl. BGH, Urteil vom 13.12.2004, II ZR 17/03). Eine Bank als Bürgschaftsgläubiger hat zu bedenken, dass der Anspruch aus der Bürgschaft nicht bereits mit Vertragsabschluss, sondern erst mit der Fälligkeit der Hauptforderung entsteht. Wegen des unter Umständen langen Zeitablaufs seit Vertragsschluss kann sich die Wohnanschrift des Bürgen geändert haben, ohne dass der Bürgschaftsgläubiger davon Kenntnis erlangt hat; eine entsprechende Benachrichtigungspflicht des Bürgen besteht nämlich nicht. Aufgrund dessen trifft die Bank im eigenen Interesse die Obliegenheit, sich im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Entstehung des Bürgschaftsanspruchs zu vergewissern, ob die ihr bekannte Wohnanschrift des Bürgen noch aktuell ist, und sich gegebenenfalls nach der neuen Adresse des Bürgen zu erkundigen, sofern ihr diese nicht z.B. aus einer anderen mit dem Bürgen bestehenden Geschäftsverbindung ohnehin bekannt ist. Mit dem Eintritt des Sicherungsfalls besteht für die Bank Anlass, die ihr für die notleidend gewordene Hauptforderung gewährten Sicherheiten auf ihre Werthaltigkeit zu überprüfen. Bei einer Bürgschaft gehört hierzu auch die Feststellung der aktuellen Anschrift des Bürgen, um ihn überhaupt in Anspruch nehmen zu können (so BGH, Urteil vom 23.09.2008 - XI ZR 395/07 -, Rn. 14, juris).

    Gemessen in diesen Maßstäben liegt keine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin von der Anschrift des Beklagten vor. Die Klägerin hat sich nach Fälligkeit der Bürgschaftsforderung zeitnah um die (damals) zutreffende Anschrift des Beklagten bemüht. Insbesondere hatte die Klägerin den Beklagten wegen einer anderen Forderung in einem anderen Verfahren in Anspruch genommen und kannte daher dessen damals aktuelle Anschrift. Dass die Kenntnis um die aktuelle Anschrift später entfiel, ist der Klägerin nicht zur Last zu legen. Der Beklagte verzog - für die Klägerin unangekündigt - in die Schweiz, ohne den Umzug selbst oder seine neue Anschrift mitzuteilen. Die Klägerin erfuhr erst durch das Scheitern der Zustellung des Mahnbescheids im Jahr 2018 davon, dass die ursprüngliche Anschrift in ("Ort") nicht mehr zutreffend war. Daraufhin eingeleitete Adressermittlungen, u.a. bei der Mutter des Beklagten und durch einen Dienstleister, blieben ohne Erfolg. Weitere erfolgversprechende Ansätze, die aktuelle Anschrift des Beklagten in Erfahrung zu bringen, waren nicht ersichtlich; insbesondere kannte die Klägerin die aktuelle Anschrift des Beklagten auch nicht aus Parallelverfahren. Dass die Schweizer Anschrift des Beklagten dem Landgericht - aus einem anderen dort geführten Verfahren - bekannt war, konnte die Klägerin nicht wissen. Nach Bekanntwerden der aktuellen Adresse des Beklagten hat die Klägerin die Zustellung der Klage dorthin zeitnah beantragt. Weitere relevante Umstände sind nicht ersichtlich und auch nicht vom - insoweit darlegungs- und beweisbelasteten - Beklagten vorgetragen.

    d) Die Klageforderung ist auch nicht deshalb verjährt, weil bis zum Umzug des Beklagten in die Schweiz bereits ein Zeitraum von zwei Jahren und drei Monaten der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen war, in dem die Klägerin Kenntnis von der zutreffenden Anschrift des Beklagten hatte. Es kann hier dahinstehen, ob in Fällen des Wegfalls der Kenntnis von der zutreffenden Anschrift die zuvor verstrichene Zeit anzurechnen ist. Denn selbst wenn eine solche Anrechung vorzunehmen wäre, wäre die Verjährung durch Klageerhebung gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB rechtzeitig gehemmt worden.

    aa) Für den im Jahr 2015 fällig gewordenen Bürgschaftsanspruch hatte die Klägerin in der Zeit bis zum 31.03.2018 die Kenntnis von der (zunächst) zutreffenden Anschrift des Beklagten in ("Ort"), was einem Zeitraum von zwei Jahren und drei Monaten entspricht, beginnend mit dem Ablauf des Jahres 2015 als dem frühestmöglichen Verjährungsbeginn.

    bb) Die Kenntnis von der neuen Anschrift des Beklagten in der Schweiz hatte die Klägerin erst durch die gerichtliche Verfügung vom 11.05.2020 erlangt, so dass erst ab diesem Zeitpunkt ein Weiterlauf der Verjährungsfrist in Betracht kommt. Anhaltspunkte für eine frühere Kenntnis der Klägerin sind vom - insoweit primär darlegungs- und beweisbelasteten (vgl. Grüneberg/Ellenberger, § 199 Rn. 50 m.w.N.) - Beklagten nicht vorgetragen.

    cc) Nachdem die Klägerin mit Schriftsatz vom 30.06.2020 die Zustellung der Klageschrift in die Schweiz beantragt hatte, ist - trotz des langen Zeitraums bis zur tatsächlichen Zustellung an den Beklagten - die Zustellung der Klageschrift noch demnächst im Sinne des § 167 ZPO erfolgt.

    Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Zustellung "demnächst" im Sinne der gesetzlichen Regelung erfolgt ist, darf nicht auf eine rein zeitliche Betrachtungsweise abgestellt werden. Vielmehr sollen die Parteien bei der Zustellung von Amts wegen vor Nachteilen durch Verzögerungen innerhalb des gerichtlichen Geschäftsbetriebes bewahrt werden, weil sie von ihnen nicht beeinflusst werden können. Daher gibt es keine absolute zeitliche Grenze, nach deren Überschreitung eine Zustellung nicht mehr als "demnächst" anzusehen ist. Dies gilt auch im Hinblick auf mehrmonatige Verzögerungen. Einer Partei sind jedoch solche nicht nur ganz geringfügigen Verzögerungen der Zustellung zuzurechnen, die ihr Prozessbevollmächtigter bei sachgerechter Prozessführung hätte vermeiden können. Eine Klage ist nur dann "demnächst" zugestellt, wenn die Partei und ihr Prozessbevollmächtigter unter Berücksichtigung der Gesamtumstände das ihr Zumutbare für die alsbaldige Zustellung getan haben. Dazu gehört es auch, dass sie im Sinne einer "möglichsten" Beschleunigung wirken. Daran fehlt es, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter vorwerfbar zu einer nicht bloß geringfügigen Zustellungsverzögerung beigetragen haben. So verhält es sich schon, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter erkennen kann, dass die Zustellung einer Klage aussteht, und nach dem Grund hierfür nicht fragt (st. Rspr. vgl. BGH, Urteil vom 11.07.2003 - V ZR 414/02 -, Rn. 13 f., juris, m.w.N.).

    Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Klägerin rechtzeitig alles aus ihrer Sicht für eine Zustellung Erforderliche getan. Nachdem die neue Adresse des Beklagten bekannt geworden war, lagen den Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung nach § 185 ZPO nicht mehr vor. Der geänderten Verfahrenslage wurde die Klägerin durch den mit Schriftsatz vom 30.06.2020 gestellten Antrag auf Zustellung an die Anschrift in der Schweiz gerecht. Die weiteren Verzögerungen bei der Zustellung sind nicht der Klägerin anzulasten, spätestens nachdem die Klägerin - beginnend mit Schriftsätzen ab dem 14.10.2020 - bei Gericht wiederholt nach dem Stand der Zustellung angefragt hatte. Die Klägerin brauchte grundsätzlich weder einen Antrag auf Zustellung zu stellen noch oblag es ihr, um die Zustellung der Klage in bestimmter Form zu ersuchen. Die Verantwortung für die korrekte und effiziente Durchführung des Verfahrens bei Zustellungen im Ausland liegt nach der gesetzlichen Regelung allein bei den Justizbehörden. Diese haben dafür Sorge zu tragen, dass eine wirksame Zustellung erreicht und das hierfür notwendige und geeignete Rechtshilfeersuchen gestellt wird (vgl. BGH, Urteil vom 11.07.2003 - V ZR 414/02 -, Rn. 20, juris). Die Verzögerungen durch die gerichtliche Sachbehandlung sind dem Zustellungsbetreiber grundsätzlich nicht anzulasten (vgl. Zöller/Greger/Stöber, ZPO, 34. Aufl. § 167 Rn. 15). Auch die weiteren Verzögerungen, die die erforderliche Zustellung in die Schweiz mit sich brachte, sind der Klägerin nicht anzulasten, da sie weitgehend den Besonderheiten des Zustellungsverfahrens selbst geschuldet sind (vgl. Zöller/Greger, ZPO, § 167 Rn. 12).

    Der Beklagte kann sich insofern nicht mit Erfolg darauf berufen, er werde in seinem Vertrauen auf den Eintritt der Verjährung beeinträchtigt (zu diesem Argument vgl. Zöller/Greger, ZPO, § 167 Rn. 12). Zwar traf ihn keine Verpflichtung, der Klägerin seine aktuelle Anschrift mitzuteilen. Nachdem die Klägerin ihn bereits vorgerichtlich vor Ablauf der Verjährungsfrist in Anspruch genommen hatte, konnte er - auch angesichts der erheblichen Höhe des Anspruchs - nicht damit rechnen, dass die Klägerin ihren Anspruch fallen lassen würde. Nachdem der Beklagten vor Ablauf der Verjährungsfrist unangekündigt in die Schweiz ohne Mitteilung seiner neuen Anschrift verzogen war, musste er davon ausgehen, dass die Zustellung gerichtlicher Dokumente an ihn nicht würde erfolgen können. Ob und ggf. wann die Klägerin Kenntnis von seiner Anschrift erhalten würde, war offen. Der Beklagte zeigt auch nicht auf, wie die Klägerin zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von seiner Anschrift hätte erhalten können. Vor diesem Hintergrund konnte der Beklagte nicht davon ausgehen, dass der geltend gemachte Anspruch verjährt sei.

    Der Umstand, dass die Klägerin den Beklagten wegen einer anderen Bürgschaftsforderung nur teilweise, d.h. in Höhe von 50.000 €, in Anspruch genommen hatte, begründet keinen Vertrauenstatbestand. Denn ein Umstandsmoment dergestalt, dass die Klägerin auf die hier im Streit stehende Forderung ganz oder teilweise verzichten würde, lässt sich aus ihrem Verhalten in anderer Sache nicht ableiten. Besondere Umstände, die eine andere Würdigung rechtfertigen könnten, sind hier nicht ersichtlich.

    4.
    Die Klägerin hat gemäß §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 BGB Anspruch auf Ausgleich der Kosten, die ihr infolge des (abgebrochenen) Mahnverfahrens entstanden sind. Der Beklagte befand sich seit dem 02.11.2015 mit dem Ausgleich der Bürgschaftsforderung in Verzug, so dass die Klägerin grundsätzlich auch die aufgewendeten Kosten einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung als Schadenersatz verlangen kann. Dass die Klägerin, nachdem sich die Unzustellbarkeit des Mahnbescheides herausgestellt hatte, dieses nicht weiter betrieben hat und damit im späteren Klageverfahren zusätzliche Kosten entstanden sind, kann ihr nicht als Mitverschulden nach § 254 BGB angerechnet werden. Denn gemäß § 688 Abs. 2 Nr. 3 ZPO findet das Mahnverfahren nicht statt, wenn der Mahnbescheid öffentlich zugestellt werden müsste. Der Übergang ins streitige Klageverfahren ist in einer solchen Konstellation ausgeschlossen (BGH, Beschluss vom 17.06.2004, IX ZB 206/03; a.A. Zöller/Vollkommer, § 688 Rn. 8 m.w.N.).

    5. 
    Der (weitergehende) Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 BGB.

    III.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

    Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

    Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

    RechtsgebietVerjährung