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  • · Fachbeitrag · Sorgerecht

    Reise nach Russland trotz Ukraine-Krieges

    von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen

    | Das AG Wittenberg hat die Reise einer 15-Jährigen nach Russland ermöglicht und lässt die Erfahrungen dieser Reise am Maßstab des Kindeswohls die Risiken aufgrund des Ukraine-Krieges überwiegen. |

     

    Sachverhalt

    Die getrennt lebenden Eltern der Tochter T üben die elterliche Sorge gemeinsam aus. T wollte mit dem Ex-Partner P der Mutter M, zu dem sie ein enges Verhältnis hat, und seiner aus Russland stammenden Verlobten für zwei Wochen in den Sommerferien mit dem Pkw nach Russland reisen. V hielt die Reise für zu gefährlich. Das Jugendamt (JA) und die Verfahrensbeiständin (VBin) hatten sich dafür ausgesprochen, die Reise zu verschieben. M hat erfolgreich per einstweiliger Anordnung beantragt, ihr die Entscheidungsbefugnis darüber zu übertragen, für die T einen Reisepass für die Russlandreise zu beantragen.

     

    Entscheidungsgründe

    Das AG hat die Entscheidungsbefugnis der M unter Auflagen übertragen (AG Wittenberg 28.6.23, 5a F 327/23 EASO, Abruf-Nr. 236966). Einen Reisepass zu beantragen und der Reise zuzustimmen, sind Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung, § 1628 BGB. Da T ohne den Pass in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt wäre, fehlt es nach dem entscheidungsleitenden Maßstab des Kindeswohls an nachvollziehbaren Gründen für die Weigerung des V.

     

    Dem Antrag der M ist unter den Auflagen stattzugeben, dass sie sich bis zum Antritt und während der Reise täglich über aktuelle Reisehinweise und etwaige -warnungen für das Zielgebiet informiert und ihre Zustimmungserklärung unverzüglich widerruft, wenn das Auswärtige Amt eine Reisewarnung ausspricht und zudem sichergestellt ist, dass die T während der Reise erreichbar ist. Eine Auslandsreise in Begleitung eines guten Kenners des Landes dient dazu, den kulturellen Horizont der T zu erweitern. Das Auswärtige Amt rät zwar von einer solchen Reise ab. T hat aber eine hinreichende Reife, um unvorsichtige Handlungsweisen zu unterlassen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Reise mit nicht mehr hinnehmbaren Risiken verbunden wäre. Die Zielregion ist deutlich weiter vom derzeitigen Kriegsgeschehen entfernt als zu Hause. Das Risiko innerrussischer Spannungen ist durch den Begleiter und dessen russischer Verlobter beherrschbar. Zudem minimieren die Auflagen dieses Risiko.

     

    Relevanz für die Praxis

    Die Entscheidung irritiert. Sie ist mit dem Kindeswohl nicht vereinbar. Alle Bedenken des JA und der VBin sowie die Risikohinweise des Auswärtigen Amtes werden dem Interesse der T und der Kompetenz des Begleitpaares untergeordnet. Eine besondere Kompetenz des Umgangs mit dem russischen Staat gibt es nicht. Folglich kann es nicht dem Kindeswohl entsprechen, diesen Gefahren ausgesetzt zu sein. Hat in einem solchen Fall eine mündliche Verhandlung stattgefunden, sollte eine Beschwerde (§ 57 FamFG) eingelegt werden (zu Rechtsbehelfen bei einstweiligen Anordnungen Stein, FK 22, 200).

    Quelle: Ausgabe 10 / 2023 | Seite 170 | ID 49615823