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  • · Fachbeitrag · Apothekenentwicklung

    Zielgruppenmanagement in Apotheken: Woran leiden und sterben die Deutschen?

    von Apotheker und Unternehmensberater Dr. Reinhard Herzog, Tübingen

    | Ein genauer Blick auf die Diagnosen in den Arztpraxen, auf epidemiologische Daten sowie auf die Sterbe- und Todesursachen kann der Apotheke helfen, Zielgruppen zu identifizieren und das Sortiment der eigenen Apotheke kunden- und nachfragegerecht auszurichten. Wer Lösungen anbietet, sollte erst einmal die Probleme und Leiden seiner Kunden kennen. Ansonsten besteht schnell die Gefahr, Angebote an den Bedürfnissen vorbei zu kreieren und Antworten auf Fragen zu geben, die kaum jemand überhaupt gestellt hat. |

    Häufige ambulante Diagnosen

    Für die Offizinapotheke sind die Diagnosen aus dem ambulanten Bereich ?sicher am interessantesten. Dazu gibt der jährlich erscheinende Arztreport der BARMER GEK umfassende Einblicke (aktuell der Arztreport 2013 mit einer Datengrundlage von fast 9 Mio. dort Versicherten). Angesichts dieses Datenumfangs lässt sich das Diagnosegeschehen mit hoher Genauigkeit auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen.

     

    PRAXISHINWEIS | Der praktische Wert dieser Zahlen zeigt sich, wenn es darum geht, mögliche Zielgruppen für Beratungs-, Aktions- und Selbstmedikationsangebote zu identifizieren. Oft hält sich der Erfolg von Aktionen deshalb in Grenzen, weil die Zahl der Betroffenen viel zu klein ist. Die Empfehlung lautet daher: Machen Sie sich Gedanken über das Einzugsgebiet. Wie hoch ist die Zahl der Menschen, die Sie mit Ihrer Ansprache und Ihrer Werbung erreichen können, und wie viele Betroffene dürften überhaupt darunter sein? Hierfür reichen grobe Abschätzungen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, ob Sie vielleicht nur 10 oder 20 oder aber viele hundert Interessenten finden dürften.

     

    Im Arztreport sind in „Diagnosekapiteln“ nach ICD 10 einzelne Diagnosen organ- bzw. symptombezogen zusammengefasst. Diese zeigen, wo es derzeit „zwickt“. Im Bezugsjahr 2011 litten von der Bevölkerung rund:

     

    • 50 Prozent an Krankheiten des Muskel- und Skelettsystems
    • 48 Prozent an Atemwegserkrankungen aller Art
    • 40 Prozent an Herz-Kreislauf-Erkrankungen
    • 40 Prozent an endokrinen Erkrankungen und Stoffwechselerkrankungen
    • 33 Prozent an psychischen Störungen
    • 29 Prozent an Infektionen aller Art
    • 22 Prozent an Neubildungen aller Art (nicht nur, aber oft Krebs)

     

    Hinweis | Dass die Summe dieser Prozentangaben weit über 100 Prozent liegt, erklärt sich aus Mehrfachdiagnosen bei demselben Patienten.

     

    Hinsichtlich des Beratungs- und Selbstmedikationspotenzials stechen zudem folgende (detailliertere) Diagnosegruppen ins Auge:

     

    • Tabelle 1: Betroffene in Prozent der Bevölkerung nach ausgewählten Diagnosegruppen und Geschlecht
    Diagnosegruppe ICD 10
    männlich
    weiblich

    Arthropathien (Gelenkerkrankungen)

    21,4

    27,6

    Psyche: neurotische, somatoforme und Belastungsstörungen

    12,3

    24,0

    Dermatitis und Ekzeme,?speziell Akne

    13,0 ?2,1

    17,4 ?4,2

    Krankheiten der Venen, Lymphgefäße und -knoten

    10,5

    17,6

    Erkrankungen von Speiseröhre, Magen, Zwölffingerdarm

    11,7

    14,1

    Diabetes mellitus

    10,1

    8,3

    Mykosen, ?speziell Hautpilze

    6,2 ?3,7

    9,2 ?3,2

    Affektionen der Konjunktiva (Augen-Bindehaut)

    6,2

    7,8

    Zerebrovaskuläre Erkrankungen

    4,9

    4,8

    Krankheiten des Pankreas, der Gallenblase und -wege

    3,3

    5,5

    Anämien, ernährungsbedingt

    1,4

    3,7

    Polyneuropathien

    2,7

    2,4

     

    Häufige Diagnosen im Krankenhaus

    Auf der Basis von rund 18,8 Mio. Krankenhausfällen im Jahr 2011 zeigt die Tabelle 2 die häufigsten „stationären“ Diagnosen. Sie stellen lediglich rund ?16 Prozent aller Krankenhausfälle dar, was das enorm breite Spektrum im Krankenhaus illustriert und eine Ursache für die hohen Kosten ist. Nicht aufgeführt ist übrigens die mit Abstand häufigste „Diagnose“ Entbindung.

     

    • Tabelle 2: Die häufigsten Krankheitsdiagnosen in Krankenhäusern
    Diagnose
    Fälle 2011

    Herzinsuffizienz

    380.291

    Psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch Alkohol

    338.471

    Vorhofflattern und -flimmern

    262.964

    Intrakranielle Verletzung

    247.179

    Angina pectoris

    245.829

    Hirninfarkt

    234.632

    Pneumonie, Erreger nicht näher bezeichnet

    224.918

    Cholelithiasis

    217.996

    Akuter Myokardinfarkt

    217.681

    Essentielle (primäre) Hypertonie

    215.854

    Gonarthrose [Arthrose des Kniegelenks]

    201.734

    Chronische ischämische Herzkrankheit

    193.648

     

     

    Hinweis | Einige Diagnosen weisen deutliche Geschlechtsunterschiede auf, so zum Beispiel die Alkoholprobleme (73 Prozent Männer), Herzinfarkte ?(65 Prozent Männer) oder Kopfverletzungen (55 Prozent Männer).

    Erkrankungsrisiken und Inzidenzen

    Diagnosen bilden zu einem guten Teil die Krankheitsbiografie (Lebens-Längsschnitt) ab. Davon zu unterscheiden sind die Risiken, im Verlaufe eines Jahres von einem der gefürchteten Krankheitsereignisse wie Schlaganfall oder Krebs ereilt zu werden, was das Leben oft um 180 Grad verändert.

     

    • Tabelle 3: Neuerkrankungsraten pro Jahr (Inzidenzen) von einigen, gefürchteten Krankheiten
    Inzidenz pro Jahr in % der jeweiligen Personen, Orientierungswerte

    Alter 60 - 69

    Alter 70 - 79

    Alter 80 - 89

    Demenz ?Männer ?Frauen

    ?0,2 ?0,2

    ?0,7 ?0,8

    ?1,5 ?2,0-2,5

    Schlaganfall?Männer ?Frauen

    ?0,6 ?0,4

    ?1,1 ?0,8

    ?1,6 ?1,6

    Herzinfarkt?Männer ?Frauen

    ?0,75 ?0,25

    ?1,5 ?0,75

    ?2,5 ?2,0

    Krebserkrankung?Männer?Frauen

    ?1,6 ?1,0

    ?2,7 ?1,4

    ?2,7 ?1,8

     

    Mit steigendem Lebensalter nimmt also das Erkrankungsrisiko insbesondere für die häufigen und gefürchteten Krankheitsereignisse (wie Infarkte, Demenz u.a.) erheblich zu. Auch wenn man die Risiken nicht einfach addieren kann, so bleibt doch festzustellen, dass bereits im siebten Lebensjahrzehnt das jährliche Risiko für eine ausgesprochen ernste Erkrankung im deutlichen Prozentbereich liegt. Dies steigert sich mit fortschreitendem Lebensalter erheblich. Liegen weitere Risikofaktoren vor, können die Werte förmlich explodieren. Statistisch gut untermauerte Tests wie der PROCAM oder diverse andere Studien ergeben dann sogenannte Zehn-Jahres-Erkrankungsrisiken beispielsweise für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall von teilweise über 30 Prozent.

     

    PRAXISHINWEIS | Werte dieser Art können als „Motivationshilfe“ für Präventionsangebote der Apotheke oder als Anreiz dienen, sich mit diesen allgegenwärtigen, „leisen“ Lebensrisiken aktiv auseinanderzusetzen, die im Gegensatz zu publikumswirksamen Ereignissen wie Verbrechen, Katastrophen oder Unfällen weit unterschätzt werden. Das beginnt beim Lebensstil, geht über aktives „Gesundheitsmanagement“ und die sorgfältige Einhaltung von Behandlungsrichtlinien (Compliance) und endet bei Fragen zu Patientenverfügungen und wie es im „Fall des Falles“ weitergehen soll. Apotheken können sich an etlichen Punkten hilfreich einbringen.

     

    Todesursachen

    2011 wurden in Deutschland 852.300 Sterbefälle gezählt. Das gesamtdeutsche Minimum in den letzten 50 Jahren waren 818.300 im Jahr 2004, das Maximum 989.600 im Jahr 1975.

     

    Aktuell sterben rund 40 Prozent der Bevölkerung an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, fast 27 Prozent an Krebserkrankungen (mit steigender Tendenz) und mit weitem Abstand 7,0 Prozent an Atemwegserkrankungen. Darauf folgen Krankheiten des Verdauungssystems (4,8 Prozent) und Unfälle aller Art, Vergiftungen und sonstige äußere Ursachen (3,9 Prozent). Stoffwechselkrankheiten zeichnen für 3,5 Prozent, psychische Erkrankungen für immerhin ?3,2 Prozent und das Nervensystem im engeren Sinne für 2,7 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Bereits bei den Diagnosen (siehe oben Tabelle 1) sorgt der Anteil der psychischen Erkrankungen für Überraschungen - hier zeigt sich das Megathema Psyche noch einmal eindrücklich. Auf einzelne Diagnosen gemäß den dreistelligen ICD 10-Schlüsseln herunter gerechnet stellen sich die „Top 10“ der Todesursachen wie folgt dar:

     

    • Tabelle 4: Todesursachen nach ICD 10-Diagnoseschlüsseln
    Enger gefasste Todesursache
    Prozent-Anteil an den Gestorbenen 2011

    Chronische ischämische Herzkrankheit

    8,3

    Akuter Myokardinfarkt

    6,1

    Herzinsuffizienz

    5,3

    Bösartige Neubildung der Bronchien und der Lunge

    5,2

    Sonstige chronische obstruktive Lungenkrankheit

    3,1

    Schlaganfall, nicht als Blutung oder Infarkt bezeichnet

    2,5

    Hypertensive Herzkrankheit

    2,5

    Pneumonie, Erreger nicht näher bezeichnet

    2,1

    Bösartige Neubildung der Brustdrüse

    2,1

    Bösartige Neubildung des Dickdarms

    2,0

     

     

    PRAXISHINWEIS | 44.000 Tote durch Bronchial-/Lungenkrebs sowie 26.000 infolge COPD geben insofern zu denken, als dass Rauchen hier nach wie vor die dominante Ursache spielt. In den Herz-Kreislauf-Toten verbirgt sich ebenfalls ein beträchtlicher Raucheranteil, doch ist dieser hier bei weitem nicht so hoch. Jede Apotheke mag für sich entscheiden, wie sie sich in diese Thematik einbringen mag. Immerhin verspricht die Raucherentwöhnung in Form von Nikotinersatzpräparaten und anderen Hilfsmitteln einige Umsätze.

     

    Bewegt sich das allgemeine Sterberisiko pro Jahr unterhalb von 60 Jahren noch mehr oder weniger deutlich unter 1 Prozent, überschreiten Männer diese Schwelle danach erstmals knapp - die Frauen erreichen diese Schwelle etwa 8 Jahre später. Mit 80 beträgt das Risiko schon knapp 7 Prozent (Männer) und gut 4 Prozent (Frauen), im Alter von 90 Jahren lauten die Werte 17 bzw. 15 Prozent. Wer Alten- und Pflegeheime beliefert, weiß um die praktischen Konsequenzen dieser Tatsachen.

     

    Megathema Psyche

    Sie wundern sich über die vielen, wunderlichen Reaktionen Ihrer Kunden, zweifeln manchmal am Verstand Ihrer Mitmenschen? Doch die nüchternen Zahlen zeigen: Etwa 1 Prozent der Bevölkerung leidet an Schizophrenie (dieser Wert verändert sich kaum und gilt länderübergreifend). Wesentlich kultur- und länderabhängiger ist das Auftreten von Depressionen. 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung leiden dabei unter schweren und schwersten Formen (früher auch als „endogene Depression“ bezeichnet). Um ein Vielfaches höher ist die Quote leichterer Formen (siehe Tabelle 1). Hinzu kommen mehr oder weniger schwere neurotische Störungen, Borderline-Syndrome sowie die zahlreichen Phobien und Angststörungen. Außerdem ist nicht zu vergessen, dass rund ein Viertel der vorzeitigen Berufsunfähigkeiten psychischen Leiden geschuldet ist. In der Krankheitstagestatistik imponieren ebenfalls seit Jahren die Steigerungsraten.

     

    Kinder und junge Erwachsene sind offenkundig immer stärker von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) betroffen. Hochrechnungen ergeben etwa 757.000 Erkrankte in Deutschland, gut 80 Prozent davon in der Altersgruppe der unter 20-Jährigen. In dieser Gruppe der Kinder bzw. jungen Erwachsenen beträgt der Anteil der Betroffenen etwa 4,2 Prozent. Vom 9. bis 15. Lebensjahr sind stets mehr als 10 Prozent der Jungen (Maximum 12 Prozent bei Zehnjährigen) und lediglich gut 3 Prozent (Maximum 4,4 Prozent) der Mädchen mit der Diagnose ADHS konfrontiert. Über alle Altersklassen hinweg sind zwei Drittel der Erkrankten männlich. Der Anteil der Patienten an der Gesamtbevölkerung ist dabei von 2006 bis 2011 um stolze 49 Prozent gestiegen. Speziell bei den Jugendlichen (15 bis 19 Jahre) hat er sich glatt verdoppelt, bei den 20- bis 24-Jährigen sogar verdreifacht!

     

    PRAXISHINWEIS | All diese Daten zeigen: Psyche ist ein Megathema! In der Apotheke findet das seinen Niederschlag in zahlreichen Verordnungen und ist - neben den verbreiteten Schmerzpflastern - dafür verantwortlich, dass Betäubungsmittelverordnungen ihr früheres Schattendasein verlassen haben. 336.000 ADHS-Patienten erhalten 1.931.000 Verordnungen (zu 90 Prozent Methylphenidat), verteilt auf 62,1 Mio. Tagesdosen (Zunahme in den letzten fünf Jahren um etwa 43 Prozent), 87 Prozent davon werden Männern zuteil. Jede Apotheke bedient so statistisch etwa 90 Verordnungen pro Jahr. Man kann dies als „negative Globalisierungsdividende“ oder als Tribut an eine von zunehmender Komplexität und von steigenden Unsicherheiten geprägten Wohlstandsgesellschaft sehen. Eine Umkehr dieses Trends ist jedoch nicht absehbar. Damit ergeben sich für die Apotheken neue Herausforderungen und etliche Marktchancen.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Arztreport 2013 der BARMER GEK, abrufbar unter www.barmer-gek.de, Rubrik Infothek - ?Reports
    • Epidemiologische und Krankheitsdaten beim Robert-Koch-Institut: www.rki.de 
    • C. Günster/J. Klose/N. Schmacke, Versorgungs-Report 2011, Schattauer Verlag Stuttgart
    • Gesundheitsdaten und Sterbestatistiken des Statistischen Bundesamtes, Statistisches Jahrbuch sowie Gesundheitsberichterstattung des Bundes: www.destatis.de
    Quelle: Ausgabe 06 / 2013 | Seite 7 | ID 38977910