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  • · Fachbeitrag · Berufsrecht

    Arzt verstößt gegen das Fernbehandlungsverbot und muss Medikamentenkosten selbst zahlen

    von RA, FA MedR Philip Christmann, Berlin/Heidelberg, christmann-law.de

    | Stellt ein Arzt Verordnungen von Medikamenten aus, ohne sich zuvor persönlich vom Krankheitszustand der Patienten zu überzeugen, so verstößt er gegen das Fernbehandlungsverbot und damit gegen seine vertragsärztlichen Pflichten. Die so entstandenen Medikamentenkosten sind von ihm im Wege des Regresses zurückzuzahlen (Sozialgericht [SG] München, Urteil vom 15.05.2018, Az. S 28 KA 367/17). |

    Der Fall

    Der Kläger ist Praktischer Arzt und seit 1993 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Auf seiner Homepage wirbt er für seine „Arztpraxis mit Schwerpunkt Strophantintherapie“. Früher hieß es auf seiner Homepage im Zusammenhang mit Strophantin: „Ich versende auch Medikamente für Patienten im Ausland. Ich versorge Sie mit Kassenrezepten und benötige von Ihnen: Versicherungskarte und 10 Euro Praxisgebühr und frankierten Rückumschlag.“ Im Anschluss an die Kontaktdaten hieß es: „Ich verschicke Ihnen Strophantin auf Kassenrezept“. Der Kläger wurde von Patienten aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland kontaktiert. Diese übersandten ihm Arztbriefe. Der Kläger sprach mit den Patienten am Telefon. Ohne diese persönlich untersucht zu haben, verordnete er ihnen Strophantin auf Kassenrezept. Im Rahmen des in der Folge eingeleiteten Regressverfahrens verwies der Kläger auf eine telefonische Auskunft der KV Bayerns, wonach die Lösung G-Strophantin 12 mg/ml wie auch die Urtinktur Strophantus gratus auf Kassenrezept verordnungsfähig seien.

     

    • Strophanthin ‒ gute Alternative oder obsolet?

    Die KV Niedersachsen schreibt 2016 im Niedersächsischen Ärzteblatt: „Die Strophanthine sind zweifellos pharmakologisch interessante Substanzen. Die auf mechanistischen und Beobachtungen gründenden Hypothesen zum therapeutischen Nutzen bedürfen jedoch einer Bestätigung durch aussagekräftige klinische Studien.“ Die Empfehlung der Autoren daher: „Bei fehlendem Wirksamkeitsnachweis und erheblichem Risikopotenzial raten wir von individuellen Heilversuchen mit g-Strophanthin ab. Aus klinisch-pharmakologischer Sicht ist die Anwendung von g-Strophanthin nur im Rahmen randomisierter, kontrollierter prospektiver Studien akzeptabel.“ (Quelle: „Strophanthin ‒ gute Alternative oder obsolet?“, Niedersächsisches Ärzteblatt 05/2016, Shortlink ogy.de/qzdb)

     

    Mit Prüfbescheid vom 25.6.2013 setzte die Prüfungsstelle aufgrund einer Wirtschaftlichkeitsprüfung zunächst einen Regress i. H. v. 43.259,40 Euro fest, wogegen der Kläger Widerspruch erhob. Er wies darauf hin, dass viele seiner Patienten zu ihm persönlich in die Praxis kämen. Schwerkranke, blinde, behinderte und arme Patienten seien jedoch nicht in der Lage, zu ihm in die Praxis zu kommen. Die bei solchen Patienten vorliegenden Diagnosen seien ihm aus (Kopien von) Arztbriefen bzw. Krankenhausentlassbriefen bekannt gewesen. Neben dem telefonischen Gespräch sei es ihm damit möglich gewesen, eine Anamnese zu erstellen. Er habe mit jedem einzelnen Patienten telefonischen Kontakt gehabt. Im Übrigen habe er nicht gewusst, dass eine Fernbehandlung nicht erlaubt sei, zumal ihn auch niemand diesbezüglich ermahnt habe. Aufgrund seiner Einlassungen wurde das ursprüngliche Verfahren der Prüfungsstelle in 95 einzelne Verfahren (nach Krankenkassen und einzelnen Jahren) aufgeteilt, der Widerspruch des Klägers gegen den Prüfbescheid aber dennoch zurückgewiesen und ein Regress in Höhe von 850,89 Euro festgesetzt.

     

    Der Arzt klagte gegen den Regressbescheid. Er verschreibe Strophantin seit 1995 und habe ca. 20.000 Patienten damit behandelt. Er habe 100 Prozent positive Rückmeldungen bei dieser Therapie. Er habe durch die Behandlung mit Strophantin tausende Euro zugunsten der Kassen gespart. Die Krankenkassen hätten Anfragen der Patienten, ob er Strophantin zu ihren Lasten verordnen dürfe, stets bejaht. Er sei von den Krankenkassen bzw. von der KV Bayerns nie davor gewarnt worden, das Medikament (weiter) zu verordnen.

    Die Entscheidung

    Das SG München ließ die vom Arzt angeführten Gründen für sein Verhalten nicht gelten, bestätigte den Regress und führte dazu aus, dass er gegen seine vertragsärztlichen Pflichten verstoßen habe, indem er die streitgegenständlichen Verordnungen von Strophantin ausgestellt hat, ohne sich zuvor persönlich vom Krankheitszustand der Patienten zu überzeugen.

     

    Es handelt sich bei allen Patienten um solche, deren Wohnorte sich weit entfernt vom Vertragsarztsitz des Klägers befinden. Laut den Behandlungsausweisen hat der Kläger an den Tagen der Rezeptausstellungen jeweils die 01430 oder die 01435 EBM abgerechnet, die jeweils keinen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt voraussetzen. Aus den Behandlungsscheinen ergeben sich auch keine früheren persönlichen Untersuchungen der Patienten durch den Kläger, sodass kein Hinweis für (ggf. zulässige) Ausstellungen von Wiederholungsrezepten besteht. Derartige persönliche Kontakte hat der Kläger auch nicht behauptet.

     

    Das Gericht hat keine Zweifel, dass es sich jeweils um Patienten handelt, die vom Kläger durch seine Homepage, andere Informationen im Internet oder durch sonstige Empfehlungen erfahren haben. Diese Patienten haben ihn ‒ wie in den zahlreichen vorgelegten Briefen ‒ schriftlich und/oder telefonisch wegen der Verordnung von Strophantin kontaktiert und von ihm die gewünschten Verordnungen erhalten, ohne zuvor von ihm (jemals) persönlich untersucht worden zu sein. Hierin ist sowohl ein Verstoß gegen § 15 Abs. 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) als auch gegen § 7 Abs. 4 Berufsordnung für die Ärzte Bayerns (BOÄ Bayern) zu sehen.

     

    • § 15 Abs. 2 BMV-Ä

    „Verordnungen dürfen vom Vertragsarzt nur ausgestellt werden, wenn er sich persönlich von dem Krankheitszustand des Patienten überzeugt hat oder wenn ihm der Zustand aus der laufenden Behandlung bekannt ist. Hiervon darf nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden.“

     

     

    • § 7 Abs. 4 BOÄ Bayern

    „Der Arzt darf individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass ein Arzt den Patienten unmittelbar behandelt.“

     

    Telefonate mit Patienten und die Kenntnis von Arztbriefen allein genügen nicht, damit sich der Arzt ein umfassendes Bild vom Krankheitszustand der Patienten machen kann. Der Kläger handelte mindestens fahrlässig und somit schuldhaft. Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Vertragsarzt musste er so essenzielle Pflichten wie die persönliche Untersuchung des Patienten vor Verordnung eines Arzneimittels und die Dokumentations- und Übermittlungspflicht kennen.

    Fernbehandlungsverbot inzwischen gelockert

    Das Urteil des SG München wurde genau 5 Tage vor dem Beschluss des 121. Deutschen Ärztetags gefällt, das Fernbehandlungsverbot zu lockern und die (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte entsprechend zu ändern.

     

    • § 7 Abs. 4 MBO-Ä (neue Fassung)

    Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt, insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation, gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.

     

    Inzwischen ist diese neue Regelung auch in die Berufsordnungen vieler (noch nicht aller) Landesärztekammern übernommen worden. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Ausnahmeregelung („im Einzelfall“). Es bleibt bei dem Grundsatz, dass das Einholen des klinischen Eindrucks erforderlich ist.

     

    Auch ist die neue Möglichkeit zur Fernbehandlung mit erheblichen rechtlichen Risiken für den Arzt verbunden (u. a. Regress, Arzthaftung wegen Übersehens von Befunden usw.), weil noch nicht geklärt ist, wann genau die Fernbehandlung „ärztlich vertretbar“ und wann die erforderliche ärztliche Sorgfalt „gewahrt“ ist. Dies muss im Einzelnen entweder in Leitlinien festgelegt oder von der Rechtsprechung ausformuliert werden. Auch der Inhalt der dann erforderlichen Aufklärung des Patienten, über die Eigenheiten einer Fernbehandlung, ist noch nicht klar. Der Ärztetag in Erfurt hat bereits verlangt, dass Medikamente, Physiotherapie, AU-Bescheinigungen und Überweisungen im Rahmen einer Fernbehandlung nur verordnet werden dürfen, wenn zuvor ein persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Überdies sind die weiterbehandelnden Ärzte von dem fernbehandelnden Arzt über die Durchführung einer Fernbehandlung zu informieren.

     

    FAZIT | Nach derzeitigem Stand ist es für Ärzte der sicherste Weg, auf Fernbehandlungen zu verzichten, bis der rechtliche Rahmen geklärt ist.

     
    Quelle: Ausgabe 07 / 2019 | Seite 15 | ID 45395424