02.02.2012 · IWW-Abrufnummer 120344
Sozialgericht Marburg: Urteil vom 23.11.2011 – S 11 KA 414/10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
S 11 KA 414/10
1) Die Bescheide vom 26.11.2008, 22.10.2009 und der Honorarbescheid für das Quartal I/09 sowie die Bescheide vom 26.02.2009, 22.10.2009 und der Honorarbescheid für das Quartal II/09, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.04.2010 werden aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2) Die Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um eine Sonderregelung im Rahmen des Regelleistungsvolumens und über die Honorarbescheide für die beiden Quartale I und II/09.
Die Klägerin ist seit dem 28.06.1994 als Fachärztin für Kinderheilkunde und seit dem 29.09.1998 zusätzlich als Fachärztin für Humangenetik zugelassen. Sie führt seit dem 02.01.1995 eine Einzelpraxis und nimmt seit dem 01.10.1998 an der hausärztlichen Versorgung teil. Sie verfügt seit dem 25.09.2001 über eine sog. Doppelzulassung und ist in die Honorar(unter-)gruppe der Ärzte für Humangenetik eingruppiert. Diese Fachgruppe umfasste in den streitgegenständlichen Quartalen insgesamt 7 Ärzte. Die Klägerin verfügt zudem über die Genehmigung zur Abrechnung von Laborleistungen nach Kapitel 32.3 EBM. Seit dem 01.07.2008 beschäftigt die Klägerin Frau E, zunächst als halbtags angestellte Ärztin und seit dem 01.04.2010 in Vollzeit. Die Honorarsituation der Klägerin stellte sich in den streitgegenständlichen Quartalen wie folgt dar:
Quartal I/09 II/09
Honorarbescheid vom 20.07.2009 11.10.2009
Nettohonorar gesamt in EUR 184.014,69 157.645,91
Bruttohonorar PK + EK in EUR 190.854,04 163.611,82
Fallzahl PK + EK 445 411
Regelleistungsvolumen in EUR 111.478,16 89.056,10
Quotiertes Regelleistungsvolumen in EUR 4.436,72 1.945,80
Fallwertzuschläge zum Regelleistungsvolumen in EUR 0 0
Übrige Leistungen innerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) 12.361,45 11.076,88
Leistungen außerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (AMG) 64.705,33 61.964,76
Regelleistungsvolumen
RLV-relevante Fallzahl 449 470
Obergrenze in EUR 84.448,71 65.630,90
Angefordert in EUR 135.233,29 105.557,77
Davon entfallen auf die Ziffern 11312, 11320, 11321 und 11322 in EUR 105.287,91 75.915,84
dies entspricht % 78% 72%
Überschreitung des RLV in EUR 50.784,58 39.926,87
RLV-Fallwert der Klägerin in EUR 278,52 296,57
RLV-Fallwert der Fachgruppe in EUR 186,41 144,60
Überschreitung in % 49,42% 105,10%
Mit Bescheiden vom 26.11.2008 und 26.02.2009 wies die Beklagte der Klägerin für die streitgegenständlichen Quartale die folgenden Regelleistungsvolumina zu.
RLV-relevante Fallzahl Fallwert Fallwertabstaffelung Altersstrukturquote Aufschlag fachgleiche BAG RLV
I/09 449 186,41EUR 0,9922 1,0169 1 84,448,71
II/09 470 144,60EUR 1,0000 0,9657 1 65.630,90
Gegen die jeweiligen Zuweisungsbescheide legte die Klägerin am 11.02.2008 bzw. 06.03.2009 jeweils Widerspruch ein. Zudem beantragte sie mit Schreiben vom 05.03.2009 und 09.03.2009 jeweils die Anpassung des Regelleistungsvolumens hinsichtlich des Fallwertes sowie der Fallzahl. Diese Anträge lehnte die Beklagte mit Bescheiden jeweils vom 22.10.2009 ab. Auch hiergegen legte die Klägerin Widerspruch mit Schreiben vom 30.12.2009 ein. Die Honorarbescheide für die streitgegenständlichen Quartale datieren vom 20.07.2009 und 11.10.2009. Auch hiergegen wendete sich die Klägerin mit einem Widerspruch. Zur Begründung ihrer Anträge und Widersprüche wies die Klägerin jeweils auf eine besondere Praxisausrichtung sowie ihren Sicherstellungsauftrag im Bereich der Syndromdiagnostik hin. In der Vergangenheit seien stets Sonderregelungen aus Sicherstellungsgründen gewährt worden. Vor diesem Hintergrund sei es unverständlich, dass nunmehr ein Honorareinbruch von 40% hingenommen werden müsse. Die Beklagte wies sämtliche Widersprüche im Widerspruchsbescheid vom 14.04.2010 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass zwar in Ziffer 3.6 Teil F des Beschlusses des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 27.08.2008 in Abschnitt 2 Ziffer 3.4 HV 2009 die Möglichkeit eingeräumt werde, im Hinblick auf die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in begründeten Fällen eine Sonderregelung zu gewähren. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Sonderregelung lägen jedoch nicht vor. Zwar würden die praxisindividuellen Fallwerte in beiden Quartalen die RLV-Fallwerte der Fachgruppe deutlich übersteigen, eine Sonderregelung sei jedoch deshalb nicht gerechtfertigt, weil nahezu alle ausführenden Vergleichspraxen diese Leistungen ebenfalls erbrächten. Das Leistungsspektrum unterscheide sich insoweit nicht von den übrigen in Hessen niedergelassenen Humangenetikern. Im Einzelnen ergebe sich für die Praxis der Klägerin die folgende Frequenzstatistik:
Quartal I/2009
GOP
GOP-Text in Kurzfassung
Wert GOP gem. EBM
Anzahl GO-Nr.
Wert GOP (Praxis) -gesamt-
Fallzahl (Praxis)
Durchschn je BHF
Anzahl GOP je 100 BHF
Ausführende Praxen in PGR
Abweichung in %
Praxis Prüfgruppe Anzahl Praxen Anz. GOP je 100 BHF Durchschn. je BHF
11230 Humangenetische Beurteilung 14,18 76 1077,68 442 2,44 17 27 6 27 3,89 -37,28
11312 Zuschlag zu Nrn. 11310, 11311 –SPEZ.DARST 44,28 288 12752,64 442 28,85 65 44 6 45 19,98 44,39
11320 Nachweis / Ausschluss einer GENOM.MUTATION 27,30 1875 51187,50 442 115,81 424 219 6 227 61,86 87,21
11321 Nachweis / Ausschluss einer GENOM.MUTATION 22,05 781 17221,05 442 38,96 177 79 6 82 18,00 116,44
11322 Nachweis / Ausschluss einer GENOM.MUTATION 98,88 244 24126,72 442 54,59 55 32 5 37 36,17 50,93
Quartal II/2009
GOP GOP-Text in Kurzfassung
Wert GOP gem. EBM
Anzahl GO-Nr.
Wert GOP (Praxis) -gesamt-
Fallzahl (Praxis)
Durchschn je BHF
Anzahl GOP je 100 BHF
Ausführende Praxen in PGR
Abweichung in % %
Praxis Prüfgruppe Anzahl Praxen Anz. GOP je 100 BHF Durchschn. je BHF
11230 Humangenetische Beurteilung 14,18 80 1134,40 408 2,78 20 24 6 25 3,52 -21,02
11312 Zuschlag zu Nrn. 11310, 11311 –SPEZ.DARST 44,28 256 11335,68 408 27,78 63 38 6 39 17,31 60,49
11320 Nachweis / Auschluss einer GENOM.MUTATION 27,30 1125 30712,50 408 75,28 276 186 6 192 52,45 43,53
11321 Nachweis / Ausschluss einer GENOM.MUTATION 22,05 518 11421,90 408 27,99 127 83 6 86 18,87 48,33
11322 Nachweis / Ausschluss einer GENOM.MUTATION 98,88 227 22445,76 408 55,01 56 56 5 64 63,14 -12,88
Dass in früheren Quartalen evtl. Sonderregelungen gewährt worden seien, stehe der neuerlichen Entscheidung unter nunmehr maßgeblichen Vorgaben nicht entgegen. Eine Fallwertabstaffelung sei lediglich im Quartal I/09 durchgeführt worden. Im Übrigen sei die Honorarberechnung gemäß den einschlägigen Rechtsgrundlagen erfolgt.
Die Honorarentwicklung der Klägerin stellt sich seit dem Jahr 2000 wie folgt dar:
Quartal/Jahr Honorar EK + PK
I/1999 223.331,22 EUR
II/1999 162.287,38 EUR
III/1999 178.131,21 EUR
IV/1999 249.871,23 EUR
I/2000 201.010,61 EUR
II/2000 185.115,87 EUR
III/2000 201.420,96 EUR
IV/2000 205.465,71 EUR
I/2001 197.447,38 EUR
II/2001 185.939,37 EUR
III/2001 195.999,84 EUR
IV/2001 208.921,87 EUR
I/2002 213.087,42 EUR
II/2002 199.674,78 EUR
III/2002 185.154,18 EUR
IV/2002 195.069,94 EUR
I/2003 238.022,94 EUR
II/2003 231.633,97 EUR
III/2003 173.483,17 EUR
IV/2003 194.027,73 EUR
I/2004 228.656,66 EUR
II/2004 216.835,79 EUR
III/2004 226.576,79 EUR
IV/2004 235.756,25 EUR
I/2005 156.656,59 EUR
II/2005 173.965,61 EUR
III/2005 273.320,19 EUR
IV/2005 262.011,36 EUR
I/2006 290.430,48 EUR
II/2006 144.023,53 EUR
III/2006 147.331,02 EUR
IV/2006 162.922,51 EUR
I/2007 208.339,92 EUR
II/2007 152.118,90 EUR
III/2007 229.901,95 EUR
IV/2007 235.786,58 EUR
I/2008 135.379,11 EUR
II/2008 144.190,51 EUR
III/2008 120.498,85 EUR
IV/2008 122.383,96 EUR
I/2009 188.803,73 EUR
I/2009 160.647,76 EUR
III/2009 177.102,45 EUR
IV/2009 159.774,92 EUR
I/2010 192.871,78 EUR
II/2010 173.127,43 EUR
III/2010 117.103,93 EUR
IV/2010 158.555,66 EUR
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 14.04.2010 richtet sich die Klage vom 17.05.2010. Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin vor, dass sie neben dem gesamten Leistungsspektrum der Humangenetik insbesondere die Syndromdiagnostik bei Kindern erbringe und die Laborleistungen hierfür zur Verfügung stelle. Sie sei im streitgegenständlichen Zeitraum neben Frau Dr. S. die einzige Humangenetikerin in Hessen gewesen, die das gesamte Leistungsspektrum (klinische Genetik, Zytogenetik, Molekulargenetik, genetische Beratung) erbracht habe, insbesondere auch die komplizierten und aufwändigen molekulargenetischen Leistungen. Sie stelle damit die humangenetische Versorgung in Hessen sicher. Dabei versorge sie weitestgehend Südhessen, während Frau Dr. S. weitestgehend den mittelhessischen Raum bediene. Alle humangenetischen Praxen mit Ausnahme derjenigen von Frau Dr. S. führten teilweise nur Beratungen durch und erbrächten alle nur das Spektrum einfacher humangenetischer Analysen insbesondere Fruchtwasseruntersuchungen, die zu den Präventivleistungen zählten und außerhalb des Regelleistungsvolumen vergütet würden. Molekulargenetische Leistungen würden von den übrigen Humangenetikern des hessischen KV Bezirks nur in geringem Umfang erbracht. Insbesondere verfügten diese nicht über ein sogenanntes DNA-Sequenzierungsgerät, mit dem die molekulargenetische Diagnostik schwerwiegender Erkrankungen erbracht würde. Es handele sich u. a. um folgende Leistungen, die in den streitgegenständlichen Quartalen ausschließlich durch sie und Frau Dr. S. und im Übrigen in der gesamten Bundesrepublik nur in vereinzelten Einrichtungen erbracht wurden:
- Morbus Sandhoff (nur bei der Antragstellerin und ihren Kolleginnen)
- AGS-CYP21A2 (Sequenzierung) – adrenogenitales Syndrom
- CF (36 häufigste Mutationen) – cystische Fibrose=Mukoviszidose
- CF Komplettsequenzierung
- familiäres Mittelmeerfieber
- Morbus Gaucher
- Morbus Tay-Sachs
- Noonan Syndrom
- Shox-Gen
- AZF-Faktor – Azoospernie-Faktor
- Fragiles X-Syndrom
- Sichelzellanämie
- Thalassämie
- HNPCC
- BRCA 1 + 2
Dies seien die schwierigsten und teuersten Untersuchungen, für die sie die Sicherstellung gewährleiste. Das Leistungsspektrum umfasse insgesamt ca. 40 verschiedene molekulargenetische Erkrankungen. Von diesen seien ausschließlich von ihr und Frau Dr. S., insbesondere die folgenden Leistungen erbracht worden, die nochmals besonders hervorzuheben seien.
1. Mukoviszidose-Komplettsequenzierung (=CF komplett inkl. MLPA)
Die Leistungen würden abgerechnet nach folgenden EBM Ziffern:
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11320 27,30 Euro 29-fach 791,70 Euro
11321 22,05 Euro 30-fach 661,50 Euro
11322 98,99 Euro 28-fach 2.771,72 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Das Vergütungsvolumen betrage 4.224,92 Euro (ohne Einbezug der Ziffer 11230) im Bereich der CF-Komplettsequenzierung.
2. Adrenogenitales Syndrom (AGS) inkl. MLPA
Die Leistungen seien abzurechnen nach den EBM-Ziffern:
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11320 27,30 Euro 6-fach 163,80 Euro
11321 22,05 Euro 6-fach 132,30 Euro
11322 98,99 Euro 19-fach 1.880,81 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Das Vergütungsvolumen betrage insgesamt 2.176,91 Euro (ohne Ziffer 11230).
3. BRCA 1-Gen (Brustkrebsgen 1) inkl. MLPA
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11320 27,30 Euro 24-fach 655,20 Euro
11321 22,05 Euro 34-fach 749,70 Euro
11322 98,99 Euro 34-fach 3.365,66 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Dies bedeute ein Vergütungsvolumen von insgesamt 5.770,56 Euro (ohne Ziffer 11230).
4. BRCA 2-Gen inkl. MLPA
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11320 27,30 Euro 24-fach 655,20 Euro
11321 22,05 Euro 42-fach 926,10 Euro
11322 98,99 Euro 42-fach 4.157,58 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Dies bedeute ein Vergütungsvolumen von insgesamt 5.738,88 Euro (ohne Ziffer 11230).
5. NOONAN-Syndrom (PTPN 11-Gen
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11321 22,05 Euro 15-fach 330,75 Euro
11322 98,99 Euro 15-fach 1.4884,85 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Dies bedeute ein Vergütungsvolumen von insgesamt 1.815,60 Euro (ohne Ziffer 11230).
6. NOON Syndrom (SOS 1-Gen
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11321 22,05 Euro 23-fach 507,15 Euro
11322 98,99 Euro 23-fach 2.276,77 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Dies bedeute ein Vergütungsvolumen von insgesamt 2.783,92 Euro (ohne Ziffer 11230).
7. Tay-Sachs-Syndrom
Ziffer GOP-Wert Ansatzhäufigkeit Wert insg.
11321 22,05 Euro 14-fach 308,70 Euro
11322 98,99 Euro 14-fach 1.385,86 Euro
(11230 14,18 Euro - optional)
Dies bedeute ein Vergütungsvolumen von insgesamt 1.694,56 Euro (ohne Ziffer 11230).
Es handele sich bei diesen Krankheitsbildern um schwerwiegende Erkrankungen mit in der Regel hohen Folgekosten bei nicht rechtzeitiger Diagnostik. Sowohl das molekulargenetische als auch das Chromosomenlabor des humangenetischen Instituts der Uniklinik A-Stadt sei schon 2007 geschlossen worden. Auch verfügten die Unikliniken ZO. und ZQ. an ihrem Institut für Humangenetik nur über ein sehr eingeschränktes Leistungsspektrum. Insgesamt müsse hinsichtlich der Diagnosen differenziert werden, weil aufgrund der identischen Abrechnungsziffern fälschlicherweise evtl. der Eindruck vermittelt werde, dass gleichartige Leistungen auch von anderen Fachkollegen erbracht würden. Tatsächlich handele es sich aber um verschiedene Leistungen, die in keinster Weise vergleichbar seien. Sie stelle teilweise sogar bundesweit einen nicht nur lokalen, sondern besonderen Versorgungsbedarf sicher. Sie sei im humangenetischen Bereich nahezu ausschließlich auf Zuweisung tätig und habe insoweit keine Steuerungsmöglichkeit in Bezug auf ihre Leistungserbringung und das Abrechnungsverhalten. Die für die Arzt/Fachgruppe der Humangenetikern gültigen RLV Fallwerte seien in keiner Weise repräsentativ für ihr Leistungsspektrum. Deshalb sei ihr eine Praxisbesonderheit zuzubilligen. Dies gelte insbesondere auch deshalb, weil für die speziellen molekulargenetischen Leistungen auch ein Sicherstellungsauftrag anzunehmen sei. Zudem habe die Beklagte im Widerspruchsbescheid festgestellt, dass sie den RLV-Fachgruppenwert deutlich mehr als 30% übersteige.
Die Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 26.11.2008, 22.10.2009 und den Honorarbescheid für das Quartal I/09 sowie die Bescheide vom 26.02.2009, 22.10.2009 und den Honorarbescheid für das Quartal II/09, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.04.2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie legt die Rechtsgrundlagen dar und weist erneut das Vorliegen von Praxisbesonderheiten zurück. Bei den abgerechneten Leistungen handele es sich um fachgruppentypische Leistungen, die eine Sonderregelung im Rahmen einer Praxisbesonderheit nicht begründen könnten. Ein Sicherstellungsauftrag könne nicht auf die Diagnostik einzelner Krankheitsbilder bezogen werden. Die von der Klägerin genannten Leistungen fielen alle unter die in der Weiterbildungsordnung genannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eines Humangenetikers und seien daher fachgruppentypisch. Die Beklagte präsentiert eine Berechnung der Praxisbesonderheit auf der Grundlage eines Vorstandbeschlusses unter Bezugnahme auf Referenzquartale im Jahr 2008. Danach übersteige zwar der Fallwert der Klägerin den RLV-Fachgruppenwert um 30%. Eine Detailprüfung sei jedoch nicht vorzunehmen, weil ein besonderer Versorgungsauftrag nicht vorliege. Auf die Bitte des Gerichts, anhand des neuen Vorstandbeschlusses vom 14.02.2011 hinsichtlich der Referenzquartale im Jahr 2009 eine Berechnung vorzulegen, verzichtete die Beklagte erneut auf eine detaillierte Berechnung, sondern wies erneut darauf hin, dass diese nicht vorzunehmen sei, da ein besonderer Versorgungsauftrag nicht vorliege.
Das Gericht hat die Akte zum Aktenzeichen S 12 KA 453/07 ER Frau Dr. S .../. KV Hessen zum Verfahren beigezogen und das Verfahren gemeinsam mit Verfahren betreffend die Klägerin hinsichtlich der Quartale IV/01 bis II/02, Az.: S 11 KA 464-466/09 sowie hinsichtlich der Quartale II/05 bis IV/07, Az.: S 11 KA 544/07, S 11 KA 903/08, verhandelt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Vertragsärzte und Psychotherapeuten verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit der Vertragsärzte und Psychotherapeuten handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die zulässige Klage ist auch begründet. Die Bescheide vom 26.11.2008, 22.10.2009 sowie der Honorarbescheid für das Quartal I/09 und die Bescheide vom 26.02.2009, 22.10.2009 sowie der Honorarbescheid für das Quartal II/09, alle in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.04.2010 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
Nach § 87b Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, 5. Buch, Gesetzliche Krankenversicherung i.d.F. des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG) mit Geltung ab 01.04.2007, BGBl. I S. 378 (im Folgenden: SGB V) werden abweichend von § 85 die vertragsärztlichen Leistungen ab dem 1. Januar 2009 von der Kassenärztlichen Vereinigung auf der Grundlage der regional geltenden Euro-Gebührenordnung nach § 87a Abs. 2 vergütet.
Nach § 87b Abs. 2 SGB V sind zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Arztes und der Arztpraxis arzt- und praxisbezogene Regelleistungsvolumina festzulegen (Satz 1). Ein Regelleistungsvolumen nach Satz 1 ist die von einem Arzt oder der Arztpraxis in einem bestimmten Zeitraum abrechenbare Menge der vertragsärztlichen Leistungen, die mit den in der Euro-Gebührenordnung gemäß § 87a Abs. 2 enthaltenen und für den Arzt oder die Arztpraxis geltenden Preisen zu vergüten ist (Satz 2). Abweichend von Absatz 1 Satz 1 ist die das Regelleistungsvolumen überschreitende Leistungsmenge mit abgestaffelten Preisen zu verg üten; bei einer außergewöhnlich starken Erhöhung der Zahl der behandelten Versicherten kann hiervon abgewichen werden (Satz 3). Bei der Bestimmung des Zeitraums, für den ein Regelleistungsvolumen festgelegt wird, ist insbesondere sicherzustellen, dass eine kontinuierliche Versorgung der Versicherten gewährleistet ist (Satz 4). Nach § 87b Abs. 3 SGB V sind die Werte für die Regelleistungsvolumina nach Absatz 2 morbiditätsgewichtet und differenziert nach Arztgruppen und nach Versorgungsgraden sowie unter Berücksichtigung der Besonderheiten kooperativer Versorgungsformen festzulegen; bei der Differenzierung der Arztgruppen ist die nach § 87 Abs. 2a zugrunde zu legende Definition der Arztgruppen zu berücksichtigen (Satz 1). Bei der Bestimmung des Regelleistungsvolumens nach Absatz 2 sind darüber hinaus insbesondere
1. die Summe der für einen Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung nach § 87a Abs. 3 insgesamt vereinbarten morbiditätsbedingten Gesamtvergütungen,
2. zu erwartende Zahlungen im Rahmen der überbezirklichen Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 75 Abs. 7 und 7a,
3. zu erwartende Zahlungen für die nach Absatz 2 Satz 3 abgestaffelt zu vergütenden und für die nach Absatz 2 Satz 6 und 7 außerhalb der Regelleistungsvolumina zu vergütenden Leistungsmengen,
4. Zahl und Tätigkeitsumfang der der jeweiligen Arztgruppe angehörenden Ärzte
zu berücksichtigen (Satz 2). Soweit dazu Veranlassung besteht, sind auch Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen (Satz 3). Die Morbidität nach Satz 1 ist mit Hilfe der Morbiditätskriterien Alter und Geschlecht zu bestimmen (Satz 6). Als Tätigkeitsumfang nach Satz 2 gilt der Umfang des Versorgungsauftrags, mit dem die der jeweiligen Arztgruppe angehörenden Vertragsärzte zur Versorgung zugelassen sind, und der Umfang des Versorgungsauftrags, der für die angestellten Ärzte der jeweiligen Arztgruppe vom Zulassungsausschuss genehmigt worden ist (Satz 6). Fehlschätzungen bei der Bestimmung des voraussichtlichen Umfangs der Leistungsmengen nach Satz 2 Nr. 3 sind zu berichtigen; die Vergütungsvereinbarungen nach § 87a Abs. 3 bleiben unberührt (Satz 7).
Nach § 87b Abs. 4 SGB V bestimmt der Bewertungsausschuss erstmalig bis zum 31. August 2008 das Verfahren zur Berechnung und zur Anpassung der Regelleistungsvolumina nach den Absätzen 2 und 3 sowie Art und Umfang, das Verfahren und den Zeitpunkt der Übermittlung der dafür erforderlichen Daten (Satz 1). Er bestimmt darüber hinaus ebenfalls erstmalig bis zum 31. August 2008 Vorgaben zur Umsetzung von Absatz 2 Satz 3, 6 und 7 sowie Grundsätze zur Bildung von Rückstellungen nach Absatz 3 Satz 5 (Satz 2). Die Kassenärztliche Vereinigung, die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen stellen gemeinsam erstmalig bis zum 15. November 2008 und danach jeweils bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres gemäß den Vorgaben des Bewertungsausschusses nach den Sätzen 1 und 2 unter Verwendung der erforderlichen regionalen Daten die für die Zuweisung der Regelleistungsvolumina nach Absatz 5 konkret anzuwendende Berechnungsformel fest (Satz 3). Nach § 87b Abs. 5 SGB V obliegt die Zuweisung der Regelleistungsvolumina an den Arzt oder die Arztpraxis einschließlich der Mitteilung der Leistungen, die außerhalb der Regelleistungsvolumina vergütet werden, sowie der jeweils geltenden regionalen Preise der Kassenärztlichen Vereinigung; die Zuweisung erfolgt erstmals zum 30. November 2008 und in der Folge jeweils spätestens vier Wochen vor Beginn der Geltungsdauer des Regelleistungsvolumens (Satz 1). § 85 Abs. 4 Satz 9 gilt (Satz 2).
Ausgehend von diesen gesetzlichen Vorgaben hat der Erweiterte Bewertungsausschuss in seiner 7. Sitzung am 27. und 28. August 2008 unter Teil F einen Beschluss gemäß § 87b Abs. 4 Satz 1 SGB V zur Berechnung und zur Anpassung von arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen nach § 87b Abs. 2 und 3 SGB V gefasst (DÄBl. 2008 (Heft 38), A-1988, zitiert nach www.kbv.de/8157.html, im Folgenden: EB7F). Nach Nr. 1.2 EB7F werden die Regelleistungsvolumina nach Maßgabe von 2. und 3. für das jeweilige Abrechnungsquartal ermittelt (Nr. 1.2.1 EB7F). Die Regelleistungsvolumen werden nach Maßgabe von 2. und 3. je Arzt ermittelt (Nr. 1.2.2 Abs. 1 EB7F). Für Vertragsärzte, die außer in ihrer Arztpraxis auch in einer oder mehreren Teilberufsausübungsgemeinschaften tätig sind, wird ein gesamtes Regelleistungsvolumen für die vom jeweiligen Vertragsarzt in der Arztpraxis und in der(n) Teilberufsausübungsgemeinschaft(en) erbrachten Leistungen ermittelt (Nr. 1.2.2 Abs. 2 EB7F). Nach Nr. 2.1 Satz 1 EB7F kommen Regelleistungsvolumen für Ärzte der in Anlage 1 genannten Arztgruppen zur Anwendung. Dabei sieht der Beschluss vor, dass die Partner der Gesamtverträge Modifikationen (z. B. Differenzierungen oder Zusammenfassungen) von relevanten Arztgruppen vereinbaren können (Nr. 2 Anlage 1 EB7F). Die Fachrichtung der Klägerin wird in dieser Anlage genannt. Die Höhe des Regelleistungsvolumens eines Arztes ergibt sich für die in Anlage 1 benannten Arztgruppen aus der Multiplikation des zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen KV-bezogenen arztgruppenspezifischen Fallwertes (FW-AG) gemäß Anlage 2 und der Fallzahl des Arztes im Vorjahresquartal (Nr. 3.2.1 Satz 2 EB7F sowie Nr. 5 Anlage 2 EB7F). Im Beschluss wird festgestellt, dass das Kriterium Geschlecht sich nicht zur Abbildung der Morbidität eignet, da das abgerechnete Volumen durch dieses Kriterium nicht signifikant beeinflusst wird (Nr. 3.2.2 Satz 1 EB7F). Zur Berücksichtigung des Morbiditätskriteriums Alter ist das RLV gemäß 3.2.1 unter Berücksichtigung der Versicherten nach Altersklassen gemäß Anlage 2 zu ermitteln (Nr. 3.2.2 Satz 2 EB7F). Die Berechnung des arztgruppenspezifischen Fallwertes gemäß 3.2.1 erfolgt zunächst - Schritt 1 - durch Ermittlung der arztgruppenspezifischen Anzahl der kurativ-ambulanten Arztfälle gemäß 2.3 des Vorjahresquartals (Nr. 4 Abs. 1 Anlage 2 EB7F). Der arztgruppenspezifische Fallwert - Schritt 2 – ist der Quotient aus dem arztgruppenspezifischen Anteil am RLV-Vergütungsvolumen eines Versorgungsbereichs (vgl. Nr. 3 Anlage 2 EB7F) und eben der arztgruppenspezifischen Anzahl der kurativ-ambulanten Arztfälle gemäß 2.3 des Vorjahresquartals (Nr. 4 Abs. 2 Anlage 2 EB7F).
Die Praxisbesonderheiten werden zwischen den Partnern der Gesamtverträge geregelt. Praxisbesonderheiten ergeben sich aus einem besonderen Versorgungsauftrag oder einer besonderen, für die Versorgung bedeutsamen fachlichen Spezialisierung, wenn zusätzlich eine aus den Praxisbesonderheiten resultierende Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30% vorliegt. Über das Verfahren der Umsetzung einigen sich die Partner der Gesamtverträge. Der Bewertungsausschuss wird die Auswirkungen seiner Vorgaben hinsichtlich der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten überprüfen und die Vorgaben mit Wirkung zum 01. Januar 2010 ggf. anpassen (Nr. 3.6 Satz 1 bis 3 EB7F). Das ermittelte Regelleistungsvolumen je Arzt ist gegebenenfalls entsprechend den nach 3.6 festgestellten Praxisbesonderheiten anzupassen (Nr. 5 Abs. 3 Anlage 2 EB7F).
Der Erweiterte Bewertungsausschuss beschloss in seiner 9. Sitzung am 15. Januar 2009 zur Umsetzung und Weiterentwicklung der arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen nach § 87b Abs. 2 und 3 SGB V (DÄBl. 2009 (Heft 7), A-308) mit Geltung ab 01.01.2009 in Teil A (im Folgenden EB9A) eine "Konvergenzphase für die Vereinheitlichung der Umsetzung der arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen". Zur Vermeidung von überproportionalen Honorarverlusten und zur Sicherung der flächendeckenden Versorgung sind die im Teil F seines Beschlusses vom 27./28.08.2008 beschlossenen Regelungen, insbesondere zu den Praxisbesonderheiten (Ziffer 3.6), deren Umsetzung zunächst den Partnern der Gesamtverträge überlassen worden war, zum Ausgleich von überproportionalen Honorarverlusten (Ziffer 3.7) – bei einem Honorarverlust von mehr als 15 % war dies in das Ermessen der KV gestellt worden - und zur Modifikation von relevanten Arztgruppen (Anlage 1) anzuwenden (vgl. Nr. 1 Satz 1 EB9A). Diese Regelungen fasste der Erweiterte Bewertungsausschuss kurz darauf neu in seiner 10. Sitzung am 27. Februar 2009 zur Änderung des Beschlusses Teil A vom 15. Januar 2009 in Teil A "Konvergenzphase für die Steuerung der Auswirkungen der Umsetzung des Beschlusses des Erweiterten Bewertungsausschusses zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung, insbesondere Teil F, Beschluss zur Berechnung und zur Anpassung der arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen nach § 87b Abs. 2 und 3 SGB V" (DÄBl. 2009 (Heft 12), A-574, im Folgenden: EB10A). Er erweiterte für eine Übergangszeit bis zum 31.12.2010 (vgl. Ziff 5 EB10A) – wobei er sich zur Beobachtung und evtl. notwendigen Anpassung selbst verpflichtete (vgl. Nr. 6 und 7 EB10A) - die Autonomie der Gesamtvertragspartner (vgl. Nr. 1 EB10A), die er lediglich an Vorgaben zur Vergütung der Psychotherapeutenvergütung und die Trennung zur haus- und fachärztlichen Versorgung (Teil F, Anl. 2, Nr. 1) band (vgl. Nr. 3 EB10A). Den Vorrang der eigenen Regelungen in Nr. 1 Satz 1 u. 2 EB9A hob er zugunsten der Vertragsautonomie ab dem 01.04.2009 – sofern in einer Region die Regelleistungsvolumina im 1. Quartal 2008 unter Vorbehalt zugewiesen wurden, kann die regionale Sonderregelung auch rückwirkend zum 01.01.2009 vereinbart werden. (Nr. 1 Fußnote 2 EB10A) -, weiterhin befristet bis Ende 2010 und mit der Vorgabe, das Konvergenzverfahren mit dem Ziel einer schrittweisen Anpassung der Steuerung der vertragsärztlichen Leistungen, insbesondere der arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumina an die sich aus der Beschlussfassung des Erweiterten Bewertungsausschusses zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung ergebenden Vorgaben auszugestalten, auf (vgl. Nr. 1 und 2 EB10A).
Nach Nr. 4 EB10A (insofern textgleich mit der vorherigen Regelung nach Nr. 3 EB9A) können die Partner der Gesamtverträge aus Gründen der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung abweichend vom Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung im Jahr 2009, Beschluss Teil F, 3.6 zur Vorgabe eines Grenzwertes zur Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe in Höhe von mindestens 30 % im Einzelfall eine Praxisbesonderheit feststellen, obwohl die so vorgegebene Überschreitung nicht vorliegt.
In Umsetzung seines Ankündigungsbeschlusses aus der 175. Sitzung am 27. Februar 2009 (DÄ 2009 (Heft 12), A-576) hat der Bewertungsausschuss mit Beschluss in seiner 180. Sitzung am 20. April 2009 zur Umsetzung und Weiterentwicklung der Regelungen zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung im Jahr 2009, Teil A "Änderung des Beschlusses zur Berechnung und zur Anpassung von arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen nach § 87b Abs. 2 und 3 SGB V" (DÄ 2009 (Heft 19), A-942, im Folgenden: B180A) mit Wirkung zum 01. Juli 2009 – sofern in einer Region die Regelleistungsvolumina im 2. Quartal unter Vorbehalt zugewiesen wurden, können die nachfolgend angekündigten Maßnahmen in dem betroffenen KV-Bezirk auf Beschluss der Partner der Gesamtverträge bereits mit Wirkung zum 1. April 2009 in Kraft gesetzt werden; in diesem Fall sind die Berechnungen und Anpassungen von arzt- und praxisbezogenen Regelleistungsvolumen auf die Abrechnungen des 2., 3. und 4. Quartals 2008 aufzusetzen (Fußnote 1 B180A) – Anpassungen der im EB7F getroffenen Regelungen vorgenommen.
Auf der Grundlage dieser Regelungen im SGB V und des Bewertungsausschusses bzw. Erweiterten Bewertungsausschusses haben die Kassenärztliche Vereinigung Hessen und die Verbände der Primärkassen sowie die Ersatzkassen einen Honorarvertrag vom 13.12.2008 für die Zeit ab 01.01.2009 geschlossen (im Folgenden: HVV). In Abschnitt II HVV werden auf der Grundlage des EB7F, B164B und EB8II (Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses gemäß § 87 Abs. 4 SGB V in seiner 8. Sitzung am 23. Oktober 2008 zur Anpassung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) sowie zur Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung im Jahr 2009, Teil A, DÄBl. 2008 (Heft 4), A 2602) weitgehend wortgleich die Regelungen des EB7F mit den Änderungen durch den B164B übernommen.
Nr. 3.4 HVV ergänzt Nr. 3.4 EB7F "Kriterien zur Ausnahme von der Abstaffelung" durch weitere Ausnahmemöglichkeiten. Über die Regelungen in Nr. 3.4 EB7F hinaus kann auf Beschluss des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen in begründeten Ausnahmefällen (Urlaub, Krankheit etc.) anstelle des entsprechenden Vergleichsquartals des Vorjahres ein anderes Quartal als Referenzquartal zugrunde gelegt werden (Nr. 3.4 Satz 3 HVV). Der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen kann außerdem im Hinblick auf die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung von einer Abstaffelung in Ausnahmefällen und auf Antrag ganz oder teilweise absehen und in begründeten Fällen Sonderregelungen beschließen (Nr. 3.4 Satz 4 HVV). Die weitere Regelung, dass dies insbesondere für Praxisbesonderheiten, die sich aus einem besonderen Versorgungsauftrag oder einer besonderen, für die Versorgung bedeutsamen fachlichen Spezialisierung ergeben, wenn zusätzlich eine aus den Praxisbesonderheiten resultierende Überschreitung des durchschnittlichen Fallwertes der Arztgruppe von mindestens 30% vorliegt (Nr. 3.4 Satz 5 HVV), greift die Regelung in Nr. 3.6 Satz 2 EB7F auf.
Soweit Nr. 3.4 Satz 5 HVV i.V.m. Nr. 3.4 Satz 4 HVV den Vorstand der Kassen ärztlichen Vereinigung Hessen im Einzelfall zur Entscheidung über eine Ausnahmeregelung ermächtigt, ist dies nicht zu beanstanden. Der Vorstand einer Kassenärztlichen Vereinigung kann zu konkretisierenden Regelungen und Einzelfallentscheidungen, insbesondere zur Beurteilung der Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Freistellung von Obergrenzen, ermächtigt werden (vgl. BSG, Urt. v. 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R - juris Rdnr. 18; BSG, Urt. v. 29.06.2011 - B 6 KA 20/10 R - juris Rdnr. 14, jeweils m.w.N.).
Die Beklagte hat hierzu ferner durch Beschluss des Vorstands vom 19.01.2009 Prüfkriterien entwickelt. Diese Prüfkriterien hat sie mit Beschluss des Vorstandes vom 14.02.2011 dahingehend geändert, dass für die Quartale I/09 bis II/10 die Ermittlung des praxisindividuellen Fallwertes nicht im entsprechenden Bezugsquartal des Jahres 2008 erfolgt, sondern im aktuellen Quartal. Grundsätzlich hält die Kammer den Vorstand für berechtigt, norminterpretierende und ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Soweit bei der Frage der Wahl des Aufsatzquartals ein Gestaltungsspielraum besteht, kommt diese Kompetenz dem Bewertungsausschuss zu, der sie im Rahmen seiner Delegationsbefugnis dann möglicherweise an die Vertragsparteien des HVV delegieren kann. Dem Vorstand selbst kommt eine solche Kompetenz nicht zu. Die für die Honorarverteilung wesentlichen Grundsätze müssen im HVV selbst geregelt werden und dürfen nicht dem Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung im Wege von Einzelfallentscheidungen überlassen bleiben. Andernfalls würde es zu einer dem Gesetz widersprechenden Kompetenzverlagerung zum Vorstand sowie zum Unterlaufen der Einbeziehung der Krankenkassen in die Honorarverteilung kommen. Dies gilt erst recht seit der ab dem Jahre 2004 vorgeschriebenen vertraglichen Vereinbarung des HVV zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkassen (vgl. BSG, Urt. v. 03.02.2010 - B 6 KA 1/09 R - SozR 4-2500 § 85 Nr. 50 = MedR 2010, 809 = USK 2010-53, juris Rdnr. 26 f.). Die Bezugnahme auf das aktuelle Quartal ist daher nur dann rechtmäßig, wenn sie bereits in der Vorgabe des Bewertungsausschusses bzw. des HVV enthalten ist. Hierfür spricht der Umstand, dass die Praxisbesonderheit im jeweils aktuellen Quartal vorliegen muss. Ziff. 3.6 EB7F enthält insoweit keine anderslautende Regelung. Diese Frage kann hier letztlich dahinstehen, da es für die Einzelfallprüfung darauf nicht ankommt.
Nicht zu beanstanden ist die Vorgehensweise der Beklagten, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die arztindividuellen Fallwerte den RLV-Fallwert um 30% überschreiten. Hierbei handelt es sich um ein bloßes Aufgreifkriterium, da Praxisbesonderheiten unterhalb der 30 %-Grenze nicht zwingend zu einer Erhöhung der Fallwerte führen müssen und Praxisbesonderheiten unterhalb der 30 %-Grenze nur in besonderen Ausnahmefällen, bei Hinzutreten weiterer Umstände, die Beklagte zu einer weitergehenden Einzelfallprüfung verpflichten können. Nach Nr. 4 EB10A können die Partner der Gesamtverträge aus Gründen der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung eine von der 30 %-Grenze abweichende Regelung treffen. Soweit es sich um Einzelfallentscheidungen handelt, kann dies dem Vorstand überlassen werden. Insofern beschränkt Nr. 3.4 Satz 5 HVV auch die Befugnis des Vorstands nicht auf die 30 % Grenze. Eine weitergehende Ermessensausübung kann aber nur verlangt werden, wenn besondere Gründe der Sicherstellung vorliegen. An einer solchen Ermessensausübung im Einzelfall unter dem Aspekt der Sicherstellung fehlt es vorliegend. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass im vorliegenden Fall besondere Gründe der Sicherstellung anzunehmen sind, es sich im Grunde bei der klägerischen Praxis um ein Paradebeispiel für einen besonderen Versorgungs- und Sicherstellungsauftrag handelt.
Zwar muss nicht jede Abweichung vom Regelfallwert oder Anerkennung einer Praxisbesonderheit zu einer Sonderregelung führen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genügt es zur Begründung einer versorgungsrelevanten Besonderheit nicht, lediglich ein "Mehr" an fachgruppentypischen Leistungen abzurechnen. Die Überschreitung des praxisindividuellen Regelleistungsvolumens muss vielmehr darauf beruhen, dass in besonderem Maße spezielle Leistungen erbracht werden. Dabei wird es sich typischerweise um arztgruppenübergreifend erbrachte spezielle Leistungen handeln, die eine besondere (Zusatz-)Qualifikation und eine besondere Praxisausstattung erfordern. Deutliches Indiz für einen solchen speziellen Leistungsbereich ist die entsprechende Ausweisung dieser Leistungen im EBM (vgl. BSG, Urt. v. 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R - juris Rdnr. 21 f.; BSG, Urt. v. 29.06.2011 B 6 KA 20/10 R - a.a.O. Rdnr. 17 f., jeweils m.w.N.). Diese zu den Praxisbudgets und den in den Quartalen II/05 bis IV/08 geltenden Regelleistungsvolumina entwickelte Rechtsprechung ist auch auf das ab dem Quartal I/09 geltende Regelwerk anzuwenden (vgl. BSG, Urt. v. 29.06.2011 - B 6 KA 17/10 R - a.a.O. Rdnr. 31; BSG, Urt. v. 29.06.2011 - B 6 KA 20/10 R - a.a.O. Rdnr. 22).
Der Beklagten ist zuzugeben, dass es sich bei den streitgegenständlichen Leistungsziffern 11312, 11320, 11321 und 11322 um fachgruppentypische Leistungen handelt. Dies sieht auch der EBM in Kapitel 11 ausdrücklich so vor. Diese Tatsache alleine erlaubt jedoch nach der BSG-Rechtsprechung nicht den zwangsläufigen Rückschluss, dass damit eine Praxisbesonderheit nicht vorliegt. Vielmehr handelt es sich bei der Ausweisung der Leistungen im EBM als fachgruppentypisch nur um ein Indiz. Darüber hinaus führt das BSG aus, dass es sich typischerweise um arztgruppenübergreifende Leistungen handeln wird, wenn eine Praxisbesonderheit angenommen wird. Ausnahmsweise – und eine solche Ausnahme ist im vorliegenden Fall anzunehmen – können jedoch auch fachgruppentypische Leistungen eine Praxisbesonderheit begründen. Die Besonderheit der Praxis der Klägerin begründen dabei verschiedene Umstände, die nach der BSG-Rechtsprechung für die Beurteilung dieser Frage zu berücksichtigen sind. Zunächst erbringt die Klägerin – als eine von zwei Humangenetikerinnen in Hessen – hochspezialisierte Leistungen der Syndromdiagnostik. Die Klägerin hat im Detail die spezifischen Diagnosen und Syndrome sowie deren Abrechnungshäufigkeit in den streitgegenständlichen Quartalen dargelegt. Das Gericht hält diese Darstellung für uneingeschränkt glaubhaft und nachvollziehbar, zumal die Beklagte dem nicht in substantiierter Weise entgegen getreten ist. Für diese Leistungserbringung ist unstreitig eine hochspezielle Qualifikation und eine besondere Praxisausstattung im Hinblick auf die benötigten Geräte erforderlich. Die Klägerin betreibt in Apparategemeinschaft das einzige DNA-Sequenzierungsgerät in Hessen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Prüfgruppe der Humangenetiker um eine extrem kleine Gruppe von 7 Ärzten handelt, was die Definition und Bewertung der Fachgruppentypik stark relativiert. Auch die Tatsache, dass andere Praxen die streitgegenständlichen Leistungen – in einem deutlich niedrigeren Umfang – erbringen, kann damit nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass die Leistung deshalb fachgruppentypisch ist. Dazu kommt, dass das 11. Kapitel des EBM in den streitgegenständlichen Quartalen keine speziellen Ziffern für die hochspezialisierten Leistungen der Klägerin vorsah. Vielmehr existierten nur die drei Ziffern 11320, 11321 und 11322, mit denen die Gendiagnostik komplett erfasst werden musste. Mit diesen Ziffern konnte deshalb sowohl die standardisierte Testung der häufigsten Gene – die in der Prüfgruppe der Klägerin auch standardmäßig vorgenommen werden – als auch die hochspezialisierte Stufendiagnostik bis hin zur Komplettsequenzierung des gesamten Genoms erfasst werden. Vor diesem Hintergrund ist es umso offensichtlicher, dass der hochspezielle Leistungsbereich der Klägerin sich in der Frequenzstatistik nicht abbilden lässt, bzw. sich "nur" in einer deutlichen Überschreitung in der Leistungshäufigkeit für diese Ziffern niederschlägt. Diese Leistungshäufung ist eine fortwährende Praxisbesonderheit der Klägerin, wie der Kammer auch aus dem Verfahren betreffend die Quartale II/06 bis IV/07 (Az. S 11 KA 544/07) hinreichend bekannt ist. Dass sich die Überschreitung des Regelleistungsvolumens im Wesentlichen aus dieser Leistungshäufigkeit ergibt, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, da das angeforderte Honorarvolumen in diesem Bereich jeweils mehr als 70 % des angeforderten Regelleistungsvolumens ausmacht. Dass die Klägerin nur auf Überweisung tätig wird, verdeutlicht die besondere Praxiskonstellation. Über diese Praxisbesonderheiten hinaus muss die Beklagte im Rahmen ihrer Einzelfallprüfung auch den besonderen Versorgungsauftrag der Klägerin, der dieser unter Sicherstellungsaspekten zukommt, bei ihrer Prüfung berücksichtigen. Die Klägerin ist eine von zwei Praxen in Hessen, die in den streitgegenständlichen Quartalen die Syndromdiagnostik angeboten haben. Sie hat den gesamten südhessischen Raum versorgt, während die Kollegin Dr. S. in P. den mittel- und nordhessischen Raum bediente. Dass mit dieser Situation ein Sicherstellungsauftrag einhergeht, liegt auf der Hand. Die Beklagte hat dies gegenüber der Klägerin auch schon zum Ausdruck gebracht. Ausdrücklich hat sie dies der Klägerin im Widerspruchsbescheid vom 28.11.2007 (streitgegenständlich im Verfahren S 11 KA 544/07) zugestanden. Die Beklagte hat gegenüber der Klägerin auch ausweislich eines Gesprächsprotokolls aus dem beigezogenen Verfahren S 12 KA 453/07 ER bestätigt, dass sie von einer Sicherstellungsproblematik ausgeht und eine Einzelfalllösung für die Humangenetiker anstrebt. Bei diesem Sicherstellungsauftrag handelt sich keinesfalls um ein vorübergehendes Phänomen, sondern dieser besteht – wie der Kammer aus weiteren Verfahren zu anderen Abrechnungszeiträumen bekannt ist (beispielsweise S 11 KA 544/07) – seit geraumer Zeit und hat in der Vergangenheit auch bereits zur Anerkennung einer Sonderregelung durch die Beklagte geführt (Ausnahmen von der fallzahlabhängigen Quotierung, vom Regelleistungsvolumen sowie Aussetzung 7.5 HVV in den Quartalen II/06 bis IV/07). Der Beklagten kann nicht darin gefolgt werden, dass sich die Sicherstellungsproblematik unter dem Regime neuer Rechtsgrundlagen im HV 2009 geändert habe. Dass sie nunmehr behauptet, es gäbe weder einen besonderen Versorgungsauftrag, noch eine Sicherstellungsproblematik, ist vor dem Hintergrund dieser Verhaltensweisen in der Vergangenheit zumindest widersprüchlich, wenn nicht sogar absurd. Die Beklagte wird im Rahmen der Neubescheidung eine Einzelfallprüfung durchzuführen haben, bei der sie den besonderen Versorgungsauftrag sowie den Sicherstellungsauftrag der Klägerin vordringlich zu berücksichtigen hat. Damit hat eine Prüfung unabhängig von der 30%-Grenze zu erfolgen. Es kann deshalb vorliegend dahinstehen, dass die Beklagte diese Berechnung nach dem Vorstandsbeschluss vom 14.02.2011 trotz Aufforderung des Gerichts nur unvollständig vorgelegt hat. Jedenfalls ist es nach den im Rahmen der mündlichen Verhandlung seitens der Prozessbevollmächtigten der Klägerin dargelegten Berechnungen höchstwahrscheinlich, dass die Klägerin in den streitgegenständlichen Quartalen auch die Voraussetzungen des Vorstandsbeschlusses zur Anerkennung einer Praxisbesonderheit erfüllt. Aufgrund des Sicherstellungs- und besonderen Versorgungsauftrags der Klägerin geht das Gericht davon aus, dass der Klägerin eine Praxisbesonderheit zuzuerkennen ist und eine Ausnahme von der Abstaffelung zu machen ist.
Im Ergebnis war der Klage daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.