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  • · Fachbeitrag · Rechtsprechung

    Wer bestimmt, was „medizinisch notwendig“ ist?

    von Dr. med. Bernhard Kleinken, Pulheim

    | Manchmal lehnen private Kostenträger die Berechenbarkeit (und Erstattung) von Leistungen ab, weil sie nicht „medizinisch notwendig“ gewesen oder nicht „allgemein wissenschaftlich anerkannt“ seien. In besonderem Maße sind Ärzte betroffen, die sogenannte „komplementärmedizinische“ Verfahren oder Neulandverfahren anwenden. |

    Hintergrund

    Die Begriffe „medizinisch notwendig“ und „wissenschaftlich anerkannt“ spielen sowohl für die Berechenbarkeit, als auch für die Erstattungspflicht einer Leistung eine Rolle: Nach § 1 Abs. 2 GOÄ darf der Arzt nur Leistungen berechnen, die „nach den Regeln der ärztlichen Kunst für eine medizinisch notwendige ärztliche Versorgung erforderlich sind“ (die Verlangensleistung über medizinisch Notwendiges hinaus ist hier nachrangig). In den Musterbedingungen der PKV heißt es im § 1 Abs. 2: „Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung“. Und in § 4 Abs. 6 steht: „Der Versicherer leistet für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind.“ Das wiederum korrespondiert mit den „Regeln der ärztlichen Kunst“ im § 1 GOÄ.

    Was „medizinisch notwendig“ ist, bestimmt der Arzt

    Wer aber bestimmt, was „medizinisch notwendig“ ist? Manchmal verlangen PKVen, die „medizinische Notwendigkeit“ an Kostengesichtspunkten auszurichten. Dem hat der BGH in seinem Urteil vom 12. März 2003 eine Absage erteilt und klar gemacht, dass die Notwendigkeit einer Heilbehandlung allein aus medizinischer Sicht zu beurteilen ist (Az. IV ZR 278/01). Dies gilt laut einem weiteren Urteil des BGH auch für eine Behandlung, deren Erfolg nicht sicher vorhersehbar ist - auch sie kann medizinisch notwendig sein (BGH-Urteil vom 8.2.2006, Az. IV ZR 131/05). Damit ist die Entscheidung, ob eine Behandlungsmethode „medizinisch notwendig“ ist, stets eine des Arztes. Die Beurteilung erfolgt ex ante, nicht ex post. Nicht, ob der Erfolg tatsächlich eintrat, ist entscheidend, sondern ob die Entscheidung zum Zeitpunkt, als sie getroffen wurde, berechtigt war.

     

    Darauf, dass in diesem Kontext nicht nur Maßstäbe der sogenannten Schulmedizin gelten, wies der BGH schon in seinem Urteil vom 10. Juli 1996 hin: „Von der medizinischen Notwendigkeit ist im Allgemeinen auszugehen, wenn eine Behandlungsmethode angewandt worden ist, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen, zu lindern oder ihrer Verschlimmerung entgegenzuwirken“ (Az. IV ZR 133/95). Speziell zu komplementärmedizinischen Verfahren sagte das Oberlandesgericht (OLG) Köln am 14. Januar 2004: „Eine adäquate, geeignete Therapie kann dabei durchaus eine sogenannte ,alternative‘ Heilmethode sein, insbesondere ein Naturheilverfahren“ (Az. 5 U 211/01). Und das Landgericht Münster entschied am 17. November 2008: „ Entscheidend muss vielmehr sein, ob aus naturheilkundlicher Sicht die gewählte Behandlungsmethode anerkannt und nach den für die Naturheilkunde geltenden Grundsätzen als medizinisch notwendig anzusehen ist“ (Az. 15 O 461/07).

    Kein „Freibrief“

    Derart informiert ist klar zu erkennen, dass es letztlich der Arzt ist, der bestimmt, was beim jeweiligen Patienten als Behandlungsverfahren indiziert ist. An die Entscheidung ist allerdings ein objektiver Maßstab anzulegen. Der Arzt hat also keinen „Freibrief“, sondern muss seine Entscheidung aufgrund wissenschaftlicher Kriterien unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls begründen können. Und auch im Bereich „alternativer Heilmethoden“ muss ein wissenschaftlicher Ansatz erkennbar sein. Der aber kann auch aus seriöser Literatur der „alternativen Medizin“ belegt werden.

    Aktuelles BGH-Urteil zu Leitlinien

    Der Vorstellung, dass nur Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden können, trat der BGH aktuell in seinem Urteil vom 15. April 2014 entgegen: „Handlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien ersetzen kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten“ (Az. VI ZR 382/12).

     

    PRAXISHINWEIS | Der BGH führt aus, dass im Streitfall meist Sachverständige den Ausschlag geben. Bei der Anwendung komplementärmedizinischer Verfahren ist deshalb besonders sorgfältig zu prüfen und zu dokumentieren, damit im Streitfall ein Sachverständiger die Indikation für das angewandte Verfahren auch nachvollziehen kann.

     

    Erhöhte Aufklärungspflicht

    Sollen „alternative Heilmethoden“ angewendet werden, ist der Patient darüber und über Behandlungsalternativen aufzuklären. Zur Aufklärung gehört auch, dass der Patient darüber informiert wird, dass eine Erstattung durch seinen Kostenträger nicht (oder nur teilweise) gewährt ist (§ 630c BGB).

     

    Denn auch wenn das „alternative Behandlungsverfahren“ nach den oben dargestellten Kriterien indiziert war, kann der Kostenträger durch explizite Bestimmungen im Versicherungstarif oder Beihilfeverordnung das Verfahren von der Erstattung ausschließen. Dies spätestens nach der erfolgten wirtschaftlichen Aufklärung zu prüfen, ist in erster Linie Sache des Patienten.

    Quelle: Ausgabe 08 / 2014 | Seite 14 | ID 42835094