· Interview
„Wer nicht in die Digitalisierung investiert, gefährdet seine Praxis!“

| Die eAU, das eRezept und die ePA sind erste Schritte zur Digitalisierung in Deutschlands Arztpraxen. Doch es geht noch viel mehr. Heiko Lehmann, Allgemeinmediziner und seit 2021 Inhaber der Praxis Holomedicum in Bad Segeberg (KV-Bezirk Scheswig-Holstein), denkt die Arztpraxis neu. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte ihn, was er anders macht. |
Frage: Auf Ihrer Homepage beschreiben Sie Ihre Praxis mit Herzlichkeit, Ganzheitlichkeit und Fortschrittlichkeit. Dabei betonen Sie den technischen Fortschritt. Warum?
Antwort: Wir nutzen moderne Technik, um mehr Zeit für das Menschliche zu gewinnen. Richtig eingesetzt, befreit sie unser Team von vielen monotonen Routinen. Das schafft Raum für Zuwendung, Eigeninitiative und zeitgemäße Medizin. Technik und Herzlichkeit widersprechen sich nicht ‒ sie ergänzen sich.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die Online-Rezeption?
Antwort: Anfangs wollten wir telefonisch gut erreichbar sein. Doch trotz Telefonistin, modernster Telefonanlage und digitalem Telefonassistenten scheiterten wir an der Vielzahl an Anrufen ‒ in Stoßzeiten bis zu 350 Telefonanrufversuche pro Stunde. Vor eineinhalb Jahren stellten wir deshalb auf die Online-Rezeption um. Seitdem buchen die meisten Patienten Termine, bestellen Rezepte, fordern Überweisungen oder übermitteln Befunde online. Das geht rund um die Uhr. Diese Anfragen werden automatisiert oder teilautomatisiert bearbeitet und nach Priorität kategorisiert. Das hat unsere Telefonzeiten reduziert, die Bearbeitung beschleunigt und die Zufriedenheit bei Patienten und MFAs gesteigert.
Frage: Gibt es in Ihrer Praxis keinen Empfang mehr?
Antwort: Nicht in der gewohnten Form. Wir haben einen kleinen Stehempfang für kurze Anliegen. Für längere Gespräche nutzen wir einen separaten Raum. Telefonate nehmen wir nur im Backoffice an. Das sorgt für die notwendige Diskretion. Bei zu vielen Patienten im Empfangsbereich schalten unsere MFA die Ampel an der Eingangstür auf rot. Weitere Patienten warten dann im Flur, bis die Ampel wieder grün zeigt. Dieses System aus Corona-Zeiten hat sich bewährt. Viele kleine technische Hilfen sorgen für einen reibungslosen Ablauf. Selbst die Versichertenkarte muss keine Fachkraft mehr einlesen.
Frage: Wer liest die Versichertenkarte stattdessen ein?
Antwort: Im Eingangsbereich steht ein Selbstanmeldeterminal mit Touchscreen. Patienten mit Termin werden automatisch erkannt und als anwesend erfasst. Sie stecken ihre Karte ein, prüfen oder aktualisieren ihre Daten, etwa die Handynummer, und nehmen im Wartezimmer Platz. Dort werden sie über einen Bildschirm mit Gong und Computerstimme aufgerufen. Während sie ins Sprech- oder Funktionszimmer gehen, bereitet sich die MFA oder der Arzt auf den Termin vor. Patienten ohne Termin oder solche, die zu früh oder spät kommen, werden automatisch aufgefordert, sich am Empfang zu melden.
Frage: Also sieht der Patient bis zum Sprechzimmer keine MFA?
Antwort: Das hängt vom Termin ab. Meist ruft eine MFA den Patienten auf und bereitet den Termin vor. Sie ergänzt die Anamnese, scannt Dokumente, aktualisiert Medikamentenpläne, bereitet Formulare vor und führt bei Bedarf Funktionsdiagnostik durch ‒ etwa Blutdruck- oder Blutzuckermessungen, EKGs oder Schnelltests. Trotz über 2.000 Patienten pro Quartal bleibt durch die effizienten Abläufe genügend Zeit für persönliche Gespräche. Das schätzen die Patienten. Bei manchen Terminen geht der Patient aber direkt vom Wartezimmer ins Sprechzimmer. Dank der Informationen aus der Online-Rezeption, Telefonaten oder digitalen Fragebögen kommt kein Patient unvorbereitet zum Arzt. Allein der digitale Patientenaufruf spart uns mehrere Stunden pro Woche. Diese Zeit nutze ich in der Regel, um die Patientenakte zu studieren. Die Patienten sind oft erstaunt, wenn ich schon beim Betreten des Sprechzimmers weiß, warum sie da sind.
Frage: Sie haben 2021 die Praxis übernommen und viel in Technik investiert. Lohnt sich das?
Antwort: Definitiv. Viele Praxen finden kaum noch genug Fachkräfte. Wer Technik klug einsetzt, schafft mit einem kleineren Team die gleiche Arbeit. Weniger Hektik und Überstunden steigern die Zufriedenheit, Kündigungen werden seltener. Kürzlich hat sich eine junge Frau wegen unserer ansprechenden Homepage initiativ um einen Ausbildungsplatz als MFA beworben. Sie ist jetzt im Team, und es läuft hervorragend. Investitionen in moderne Software, Homepage, Online-Rezeption, Online-Terminbuchungen, digitale Fragebögen, Selbstanmeldeterminal und digitalen Patientenaufruf kosten zwar, rechnen sich aber nach wenigen Jahren. Das kann überlebenswichtig sein, denn erste Praxen schließen bereits, weil sie kein Personal finden oder unwirtschaftlich arbeiten.
Frage: Warum zögern viele Ihrer Kollegen noch?
Antwort: Digitalisierung ist Chefsache. Wer ein Hotel oder einen Flug bucht, erwartet, das online zu erledigen. Doch viele Praxen bieten immer noch keine Möglichkeit zur Online-Terminbuchung an. Praxisinhaber müssen verstehen, dass Digitalisierung anfangs Zeit, Geld und Nerven kostet ‒ aber Nichtstun kann mit der Zeit erheblich teurer werden oder sogar die Existenz der Praxis gefährden. Wenn Patienten und Mitarbeiter abspringen, wird das schmerzhaft. Ich rate, frühzeitig zu handeln. Vorreiter können wertvolle Tipps geben und gute Berater bei der Umsetzung helfen. Das geht auch in kleinen Schritten.
Frage: Was planen Sie als Nächstes?
Antwort: Wir nutzen Künstliche Intelligenz (KI) bereits für individuelle Ernährungs- und Behandlungspläne. Künftig könnte sie Gespräche in der Sprechstunde automatisch dokumentieren. Auch die ePA steht an. Außerdem prüfen wir gerade den Einsatz smarter, digitaler Fragebögen, die sich flexibel an Patienten anpassen ‒ ob Neupatient, chronisch Kranker oder Akutpatient. Das würde uns weitere Zeit sparen und die Versorgung verbessern. Bei den enormen Möglichkeiten und Fortschritten der KI gilt wahrscheinlich mehr denn je das Schiller-Zitat: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“.
Herr Lehmann, vielen Dank!
Weiterführender Hinweis
- Alle bislang erschienenen Interviews im Rahmen der AAA-Beitragsserie „Digitale Tools für die Arztpraxis“ finden Sie bei AAA online unter iww.de/s13197.