18.01.2023 · IWW-Abrufnummer 233292
Arbeitsgericht Berlin: Urteil vom 11.11.2022 – 17 Ca 6085/22
1. Ein Anerkenntnis kann auch noch nach Schluss der mündlichen Verhandlung erklärt werden, ohne dass es zwecks Erlasses eines Anerkenntnisurteils (§ 307 Satz 1 ZPO) der Wiedereröffnung der Verhandlung (§ 156 ZPO) bedarf.
2. Demgegenüber kann über einen nach Schluss der mündlichen Verhandlung gestellten Auflösungsantrag (§ 9 KSchG) nur im Falle einer Wiedereröffnung der Verhandlung entschieden werden.
3. Eine Alleinentscheidung des Vorsitzenden bei Anerkenntnis (§ 55 Absatz 1 Nr. 3 ArbGG) darf nicht ergehen, wenn der Erlass des Anerkenntnisurteils zugleich eine Entscheidung über eine Wiedereröffnung der Verhandlung erfordert und die ehrenamtlichen Richter an der vorangegangenen mündlichen Verhandlung mitgewirkt haben. Ein etwaiges Anerkenntnisurteil muss hier durch die Kammer ergehen.
4. Die einen Auflösungsantrag des Arbeitnehmers rechtfertigende Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses (§ 9 Absatz 1 Satz 1 KSchG) kann in Fällen einer Verdachtskündigung gegeben sein, wenn der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer schwere und ehrenrührige Vorwürfe erhebt, die jedoch mangels objektiv belastbarer Anhaltspunkte oder aufgrund einer rechtlich fehlerhaften Bewertung tatsächlicher Geschehnisse von vornherein nicht haltbar sind. Hat demgegenüber der Arbeitnehmer durch fahrlässiges Handeln selbst bewirkt, dass ein erster Verdacht auf ihn fällt, spricht dies gegen die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses.
In Sachen
Tenor:
II.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Anlagenführer weiter zu beschäftigen.
III.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
IV.
Der Wert des Streitgegenstandes (Beschwerdewert) wird für die Beklagte auf 19.596,20 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 19.02.2011 beschäftigt. Am 27.05.2022 legte er der Beklagten eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Kopie Anlage B 1; Bl. 61a d. A.) vor, die Herrn "H. K." als ausstellenden Arzt auswies.
Nach Anhörung des Klägers und des Betriebsrats sprach die Beklagte mit Schreiben vom 13.06.2022 (Kopie Anlage K 3; Bl. 14 d. A.) die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses und mit Schreiben vom 15.06.2022 (Kopie Anlage K 5; Bl. 17 f. d. A.) hilfsweise die ordentliche Kündigung zum 30.11.2022 aus.
Der Kläger hat mit einem am 24.06.2022 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz eine Kündigungsschutzklage anhängig gemacht. Die Beklagte hat die Kündigungen zunächst jeweils als Verdachts- hilfsweise Tatkündigungen verteidigt und die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2022 streitig verhandelt. Einen in der Verhandlung ebenfalls geschlossenen Vergleich mit Widerrufsfrist bis zum 10.11.2022 hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 27.10.2022 widerrufen. Zugleich hat sie erklärt, die geltend gemachten Forderungen anzuerkennen. Mit Schriftsatz vom 28.10.2022 hat der Kläger beantragt, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung aufzulösen.
Entscheidungsgründe
I. Die Kammer war nicht gehalten, auf Antrag des Klägers nach § 46 Absatz 2 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) in Verbindung mit § 156 Absatz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) die nach § 136 Absatz 4 ZPO bereits geschlossene mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.
1. Eine Wiedereröffnung der Verhandlung wäre dabei notwendig gewesen, um eine Entscheidung über den auf § 9 Absatz 1 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gestützten Auflösungsantrag des Klägers vom 28.10.2022 herbeizuführen. So kann zwar ein Auflösungsantrag nach § 9 Absatz 1 Satz 3 KSchG bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz gestellt werden. Sofern eine erstinstanzliche Antragstellung beabsichtigt ist, muss dies mit Blick auf § 137 Absatz 1, § 297 ZPO aber ebenfalls noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung geschehen (vergleiche auch Linck/Krause/Bayreuther/Linck, 16. Auflage 2019, § 9 KSchG Rn. 29). Diese Antragstellung hat der Kläger hier versäumt.
2. Im Rahmen der hinsichtlich der Wiedereröffnung der Verhandlung zu treffenden Ermessensentscheidung hat die Kammer dabei der in Bestandsstreitigkeiten nach § 61b ArbGG in besonderem Maße gebotenen Verfahrensbeschleunigung (siehe dazu auch § 9 Absatz 1 ArbGG) den Vorrang gegenüber dem Interesse des Klägers an der Durchführung eines weiteren Verhandlungstermins eingeräumt. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass der Kläger keine hinreichende Entschuldigung dafür geliefert hat, warum er seinen Auflösungsantrag nicht noch in der mündlichen Verhandlung angebracht hat. Insbesondere waren dem Kläger die zur Begründung seines Antrags vorgetragenen Tatsachen ebenso bekannt, wie die Möglichkeit eines Widerrufs des geschlossenen Vergleichs durch die Beklagte.
3. Im Übrigen wäre der Auflösungsantrag aber auch unbegründet gewesen.
a) Zwar stünde es einer gestaltenden Auflösungsentscheidung nicht entgegen, wenn dem Kündigungsschutzantrag schon aufgrund des Anerkenntnisses der Beklagten stattzugeben wäre. Denn wenngleich die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitnehmers nach § 9 Absatz 1 Satz 1 KSchG nur erfolgen darf, wenn die streitgegenständliche Kündigung zumindest auch sozial ungerechtfertigt im Sinne von § 1 Absatz 1 und 2 KSchG ist (BAG, Urteil vom 29.01.1981 - 2 AZR 1055/78 -, juris, Rn. 25), kann diese Voraussetzung auch im Falle eines (Teil-)Anerkenntnisurteils gegeben sein. Insoweit genügt es, wenn der Arbeitgeber - wie hier die Beklagte - die fehlende soziale Rechtfertigung durch das Anerkenntnis - rechtlich - außer Streit stellt (vergleiche dazu BAG, a.a.O. sowie Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, § 9 KSchG Rn. 30).
b) Allerdings wäre vorliegend jedenfalls die in § 9 Absatz 1 Satz 1 KSchG genannte Anforderung der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht gegeben.
c) Für die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses genügt dabei nicht allein die Sozialwidrigkeit der Kündigung. Es bedarf vielmehr zusätzlicher, vom Arbeitnehmer darzulegender Umstände. Diese müssen im Zusammenhang mit der Kündigung oder doch dem Kündigungsschutzprozess stehen. Auflösungsgründe können sich demnach aus den Modalitäten der Kündigung als solcher und aus weiteren Handlungen des Arbeitgebers ergeben, die mit der Kündigung einhergehen (BAG, Urteil vom 11.07.2013 - 2 AZR 241/12 -, Rn. 15, juris).
d) Insofern ist dem Kläger hier zwar zuzugestehen, dass die Beklagte gegen ihn im Zusammenhang mit den Kündigungen vom 13.06.2022 und 15.06.2022 erhebliche Vorwürfe erhoben und ihm unterstellt hat, er habe seine Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht und Leistungen der Entgeltfortzahlung erschleichen wollen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (etwa BAG, Urteil vom 02.03.2017 - 2 AZR 698/15 -, juris) kann indes eine Kündigung auch dann gerechtfertigt sein, wenn starke, auf objektive Tatsachen gründende Verdachtsmomente vorliegen, die geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören. Insofern kann der Ausspruch der auf einen - auch im gerichtlichen Verfahren nicht erwiesenen - Verdacht gestützten Kündigung dem Arbeitnehmer aber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für sich genommen noch nicht unzumutbar machen. Eine Unzumutbarkeit kann in diesem Zusammenhang allerdings gegeben sein, wenn der Arbeitgeber schwere und ehrenrührige Vorwürfe gegenüber dem Arbeitnehmer erhebt, die mangels objektiv belastbarer Anhaltspunkte oder aufgrund einer rechtlich fehlerhaften Bewertung tatsächlicher Geschehnisse von vornherein nicht haltbar sind. Hat hingegen der Arbeitnehmer durch fahrlässiges Handeln selbst bewirkt, dass ein erster Verdacht auf ihn fällt, spricht dies gegen die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses. Daran gemessen ist dem Kläger die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses indes zumutbar.
e) Zwar mag zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände kein dringender Verdacht für eine vorsätzliche Täuschungshandlung des Klägers gegeben gewesen sein. Andererseits gab es durchaus Anhaltspunkte, die aus objektiver Sicht eines Arbeitgebers zunächst Zweifel an der Redlichkeit des Klägers wecken und Anlass zu kritischen Nachfragen sowie weiteren Ermittlungen liefern konnten. Denn der Kläger hatte am 27.05.2022 die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Herrn K. bei der Beklagten eingereicht. Dass eine kurze Internetrecherche zu Herrn K. bereits seinerzeit zahlreiche Warnhinweise - darunter einen solchen der Ärztekammer Berlin (Ausdruck Anlage B 2; Bl. 62 d. A.) - zutage gefördert hätte, ist ebenfalls unstreitig. Hätte der Kläger im Zuge der Einholung dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insoweit die gebotene Sorgfalt walten lassen, hätte er damit aber auch die Zweifelhaftigkeit der von ihm eingereichten Bescheinigung erkennen und das Aufkommen erster Verdachtsmomente verhindern können.
II. Auf ihr Anerkenntnis war die Beklagte nach § 307 Satz 1 ZPO demgemäß zu verurteilen. Insofern war keine Wiedereröffnung der Verhandlung, aber eine Entscheidung durch die Kammer erforderlich.
1. Nach überzeugender Ansicht (Kirschbaum, NJOZ 2012, 681; derselbe, NJW 2012, 1329; dagegen ohne weitere Begründung Zöller/Feskorn, Zivilprozessordnung, 34. Auflage, § 307 Rn. 3) spricht nichts gegen den Erlass eines Anerkenntnisurteils auf Grundlage eines erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgten Anerkenntnisses. Denn ein Anerkenntnis ist kein Antrag im Sinne von § 297 ZPO. Zudem stellt es kein Verteidigungsmittel im Sinne von § 296a Satz 1 ZPO dar und ist im Übrigen auch gerade das Gegenteil einer Verteidigung des Beklagten gegen den Klageanspruch.
2. Die Endentscheidung musste dabei allerdings durch die Kammer und nicht durch den Vorsitzenden allein getroffen werden. So sieht § 55 Absatz 1 Nummer 3 ArbGG zwar vor, dass der Vorsitzende außerhalb der streitigen Verhandlung bei Anerkenntnis des geltend gemachten Anspruchs allein entscheidet. Die Möglichkeit der Alleinentscheidung kann aber zumindest dann nicht bestehen, wenn die Entscheidung über den Erlass eines Anerkenntnisurteils - wie hier - zugleich mit der Ermessensentscheidung über eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verbunden ist und die ehrenamtlichen Richter an der bereits für geschlossen erklärten mündlichen Verhandlung mitgewirkt haben.
III. Einer Verkündung des nach § 307 Satz 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung erlassenen Anerkenntnisurteils im Verkündungstermin bedurfte es nach § 310 Absatz 3 Satz 1 ZPO nicht. Von einer weiteren Urteilsbegründung wird nach § 313b Absatz 1 Satz 1 ZPO abgesehen.