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  • · Fachbeitrag · Sexuelle Belästigung

    Wann ist eine Kündigung wegen massiver sexueller Belästigung möglich?

    Die Frage eines langjährigen Beschäftigten nach der Echtheit der Oberweite einer Auszubildenden und die anschließende Berührung der Brust dieser Auszubildenden stellen sexuelle Belästigungen nach § 3 Abs. 4 AGG dar und berechtigen den ArbG ohne vorherige Abmahnung zur fristlosen Kündigung (LAG Niedersachsen 6.12.13, 6 Sa 391/13, Abruf-Nr. 140775).

     

    Sachverhalt

    Der 53-jährige ArbN war seit ca. 30 Jahren als Krankenpfleger beschäftigt. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag war er ordentlich unkündbar. Im Frühstücksraum sprach er eine 18-jährige Schwesternschülerin auf ihre Oberweite an und fragte, ob diese „echt“ sei und er ihre Brüste berühren dürfe.

     

    Am Tag darauf umarmte er die Auszubildende in einem Nebenraum, griff an ihre Brust und versuchte, sie zu küssen. Die Auszubildende flüchtete und informierte die Stationsleitung und die Pflegefachleitung über den Vorfall.

     

    Nach Anhörung des ArbN und folgender Anhörung des Betriebsrats kündigte der ArbG das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage des ArbN war in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Braunschweig erfolgreich (19.2.13, 8 Ca 441/12). Darüber hinaus verlangte der ArbN in einem weiteren Rechtsstreit den Lohn von November 2012 bis Juni 2013 aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Auch der entsprechenden Zahlungsklage wurde in erster Instanz stattgegeben (Arbeitsgericht Braunschweig 15.8.13, 8 Ca 139/13).

     

    Die gegen diese Urteile gerichteten Berufungen des ArbG waren erfolgreich.

     

    Entscheidungsgründe

    Das LAG Niedersachsen hob beide Entscheidungen des Arbeitsgerichts Braunschweig auf und wies jeweils die Klagen ab. Die fristlose Kündigung sei wirksam gewesen, daher hätten auch keine Lohnansprüche für die Zeit nach Ausspruch der Kündigung bestanden.

     

    Eine Abmahnung sei bei dem schwerwiegenden Fehlverhalten des ArbN nicht erforderlich gewesen. Dem ArbN habe auch ohne den vorherigen Ausspruch einer Abmahnung klar sein müssen, dass er mit einem solchen Verhalten den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährde. Danach sei hier entgegen der Einschätzung des Arbeitsgerichts eine Abmahnung entbehrlich gewesen. Insoweit sei hervorzuheben, dass es sich nicht um ein einmaliges Fehlverhalten des ArbN gehandelt habe. Vielmehr habe er an zwei aufeinanderfolgenden Tagen die weibliche Auszubildende zunächst verbal und danach durch Handlungen sexuell belästigt. Zu berücksichtigen sei zudem, dass die Intensität der Belästigung zugenommen habe.

     

    Im Rahmen der Interessenabwägung wertete das LAG die sexuellen Belästigungen als sehr massiv. Die Pflichtverletzung des ArbN wiege außerordentlich schwer. Er habe die Schwesternschülerin an zwei Arbeitstagen hintereinander mehrmals sexuell belästigt. Dabei hätten sich die verbalen Belästigungen nicht generell in einem weniger gravierenden Bereich des durch § 3 Abs. 4 AGG aufgezeigten Spektrums bewegt. Die auf die Brüste der Schwesternschülerin anspielende Frage habe nicht nur einen anzüglichen und bedrängenden, sondern auch einen eindeutig sexuellen Charakter gehabt. Die Belästigung habe sich am Folgetag intensiviert, indem der ArbN die Brust und damit eine offensichtliche Tabuzone berührt habe. Zugleich habe er versucht, die Schülerin auf den Mund zu küssen. Das sei als eine die körperliche Integrität missachtende und sexuell motivierte Handlung zu qualifizieren.

     

    Der ArbN könne sich in diesem Zusammenhang nicht auf einen Irrtum über die Unerwünschtheit seines Verhaltens berufen. Sexuelle Belästigungen im Sinne von § 3 Abs. 4 AGG erforderten tatbestandlich kein vorsätzliches Verhalten. Zwar sei zugunsten des ArbN zu berücksichtigen, wenn er sich nachvollziehbar in einem Irrtum befunden habe. Dafür beständen aber nach der überzeugenden Aussage der Betroffenen aber keinerlei Anhaltspunkte.

     

    Überdies falle zulasten des ArbN ins Gewicht, dass die Belästigungen fortgesetzt verübt worden seien. Das Beendigungsinteresse des ArbG überwiege daher trotz der langen Beschäftigungsdauer und des fortgeschrittenen Alters des ArbN dessen Fortsetzungsinteresse hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses. Bei einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist sei es nicht auszuschließen, dass der betreffende ArbN wieder bei Gelegenheit unbeobachtet weibliche Beschäftigte belästige oder dies versuche.

     

    Praxishinweis

    Nach dem AGG besteht bei entsprechender Kenntnis des ArbG von sexuellen Übergriffen die Pflicht, diese zu unterbinden. Ist eine Versetzung des ArbN in eine Abteilung, in der Kontakt zu weiblichen ArbN ausgeschlossen ist, nicht möglich, kommt zumindest bei schwerwiegenden sexuellen Belästigungen als Reaktionsmöglichkeit des ArbG nur die außerordentliche oder ordentliche Kündigung in Frage.

     

    Auch in solchen Fällen ist dem Prozessvertreter des ArbN anzuraten, einen Weiterbeschäftigungsantrag zu stellen. Die Drohung mit dessen Vollstreckung, die hier angesichts des obsiegenden erstinstanzlichen Urteils möglich gewesen wäre, hätte möglicherweise den ArbG bewogen, einer einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Rahmen eines Vergleichs zuzustimmen.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Öffentliche Äußerungen über Homosexuelle: EuGH in AA 13, 155
    • Kündigung wegen Arbeit während der Krankheit: LAG Rheinland-Pfalz in AA 13, 184
    • Außerordentliche Kündigung nach verbaler sexueller Belästigung ist wirksam: BAG in AA 12, 20
    • Wirksame Kündigung nach Bagatellbetrug: LAG München in AA 12, 38
    Quelle: Ausgabe 04 / 2014 | Seite 58 | ID 42573646