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  • · Fachbeitrag · Sozialversicherung

    Der Einsatz von freien Mitarbeitern in der Zahnarztpraxis ‒ Vorsicht Scheinselbstständigkeit!

    von RAin, FA MedR Dr. Christina Thissen, Münster, voss-medizinrecht.de

    | Das Thema freie Mitarbeiter und Scheinselbstständigkeit beschäftigt die verschiedenen Gerichtszweige (Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit) weiter regelmäßig und auch für Zahnärzte bleibt es weiterhin aktuell. Es kann zu empfindlichen Steuer- und Sozialversicherungsbeitragsnachforderungen, Ordnungswidrigkeits- oder ‒ im schlimmsten Fall ‒ Strafverfahren kommen, wenn der Status eines Mitarbeiters von Ihnen fälschlich als frei eingeschätzt wird, der Mitarbeiter also nur scheinselbstständig ist. Ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 13.08.2021, ist für Zahnärzte besonders aufschlussreich, da es den Voraussetzungskatalog der freien Mitarbeit speziell für Zahnarztpraxen unter die Lupe nimmt und modifiziert (Az. L 4 BA 328/19). |

    Merkmale einer Scheinselbstständigkeit

    Folgende Merkmale können für eine Scheinselbstständigkeit, also ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprechen:

    • Der Auftragnehmer ist ggü. dem Auftraggeber zeitlich, fachlich und örtlich weisungsgebunden, also z. B. in die betrieblichen Abläufe miteinbezogen.
    • Der Auftragnehmer trägt kein Unternehmerrisiko, z. B. insbesondere kein Verlustrisiko.
    • Der Auftragnehmer ist auf Dauer im Wesentlichen nur für einen einzigen Auftraggeber tätig.
    • Der Auftraggeber lässt vergleichbare Tätigkeiten regelmäßig durch bei ihm angestellte Arbeitnehmer durchführen.
    • Für die Leistung des Auftragnehmers wird ein festes Entgelt gezahlt.

     

    Dieser Katalog ist weder abschließend noch kommt es auf einzelne Merkmale an. Vielmehr ist das Gesamtbild entscheidend, was die Prognose für den Einzelfall im Voraus erschwert. Papier ist zudem geduldig. Bei der Einschätzung, ob ein bei Ihnen tätiger Zahnarzt ein selbstständiger, freier Mitarbeiter oder ein abhängig beschäftigter Arbeitnehmer ist, kommt es nicht nur auf die getroffenen vertraglichen Regelungen, sondern auf die tatsächliche Ausgestaltung der jeweiligen Tätigkeit an. Behörden und Gerichte ermitteln daher auch durchaus die konkreten Arbeits- und Abrechnungsabläufe in Ihrer Praxis. Geschickte Vertragsgestaltung allein führt entsprechend nicht zum Ziel, wenn die Organisation des Praxisalltags ein abweichendes Bild zeichnet.

    Das Urteil des LSG Baden-Württemberg

    In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt bestand zwischen einer privatzahnärztlichen Tagesklinik und einem Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen (MKG-Chirurg) ein „Vertrag über die Tätigkeit als freier Mitarbeiter“, in dem u. a. folgende Punkte geregelt waren:

     

    • Der MKG-Chirurg unterliegt nicht der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers, ist örtlich und zeitlich nicht gebunden und ist berechtigt, Aufträge des Arbeitgebers abzulehnen. Der zeitliche Umfang soll im Durchschnitt zwei Tage pro Monat betragen.
    • Der MKG-Chirurg gibt mindestens zwei Monate im Voraus bekannt, an welchen Tagen er plant, in der Tagesklinik Behandlungen durchzuführen. Die Klinik unterbreitet ihm mögliche Auftragsarbeiten mit Behandlungsvorschlägen. Der MKG-Chirurg gibt bis spätestens 14 Tage vor der geplanten Behandlung Rückmeldung an die Klinik, ob er die Arbeit übernimmt.
    • Die daran anschließende Terminvereinbarung mit den Patienten übernimmt der MKG-Chirurg über einen von der Klinik bereitgestellten Online-Terminkalender. Die tatsächliche Therapie legt der MKG-Chirurg in der konkreten Behandlungssituation zusammen mit dem Patienten fest.
    • Der MKG-Chirurg erhält ein Honorar, das sich an seinen Umsätzen ohne Material orientiert. Das Honorar soll die ihm zurechenbaren Kosten nicht überschreiten. Das variable Honorar beträgt 50 Prozent der von ihm erwirtschafteten Umsätze. Das Inkasso gegenüber den Patienten erfolgt durch die Klinik. Das Bonitätsrisiko der Patienten trägt der MKG-Chirurg.
    • Der MKG-Chirurg hat keinen Anspruch auf Urlaub oder Honorarzahlung bei Verhinderung.
    • Der MKG-Chirurg unterliegt einem Wettbewerbsverbot während der Dauer seiner Tätigkeit (Radius 5 km).
    • Der MKG-Chirurg kann eigene Assistenz mitbringen; Haftpflicht, Arbeitskleidung und Arbeitsmittel werden von ihm gestellt; das Abführen von Einkommensteuer und ggf. Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt durch ihn.

     

    Klinik und MKG-Chirurg hatten im Jahr 2017 die Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status beantragt mit dem Ziel, die Tätigkeit als freie Mitarbeit bestätigt zu erhalten. Die involvierte Behörde stellte hingegen ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis fest, wogegen Klinik und MKG-Chirurg gemeinsam erfolglos Klage vor dem Sozialgericht einlegten.

     

    Das LSG Baden-Württemberg bestätigte die Tätigkeit des MKG-Chirurgen im Berufungsverfahren als abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setze eine Beschäftigung eine persönliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber voraus, was bei einer Tätigkeit in einem fremden Betrieb der Fall sei, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert sei und dabei einem nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassendem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliege. Die Weisungsgebundenheit könne bei Diensten höherer Art dabei eingeschränkt und zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinert sein.

     

    Nach Ansicht des LSG konnten Klinik und MKG-Chirurg aus der Tatsache, dass die Patientenübernahme auch abgelehnt werden konnte und keine fachliche Weisungsgebundenheit vorlag, keine Gesichtspunkte herleiten, die für die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit spreche. Es ergebe sich bereits aus den berufsrechtlichen Vorgaben, dass (Zahn-)Ärzte auch im Rahmen eines Anstellungsverhältnisses fachlich nicht weisungsgebunden sind. Entsprechend sei die fachliche Weisungs-(un-)gebundenheit bei einem Zahnarzt kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung.

     

    Aus den o. g. schriftlich getroffenen Vereinbarungen ließ sich erkennbar die Bemühung der Vertragsparteien herauslesen, Merkmale freiberuflicher Tätigkeit in den Vordergrund zu stellen (z. B. örtlich und zeitlich nicht gebunden, Ablehnungsprivileg, Übernahme des Bonitätsrisikos).

    Realität hielt vertraglichen Vereinbarungen nicht stand

    Das LSG hielt aber dagegen, dass die Rechtsbeziehung zwischen den Parteien tatsächlich so bestehe, wie sie praktiziert werde und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig sei. Die tatsächlichen Verhältnisse gäben den Ausschlag, wenn sie von den getroffenen Vereinbarungen abwichen:

     

    • Der MKG-Chirurg habe, anders als in der Vereinbarung angegeben, nicht an zwei, sondern regelhaft an drei Tagen monatlich Behandlungen in der Klinik durchgeführt.
    • Faktisch habe er ca. sechs bis acht Monate im Voraus angegeben, an welchen Daten er tätig sein wollte.
    • Soweit die Klinik dieser Planung nicht widersprach, stellte sie dem MKG-Chirurg für die betreffenden Daten einen Behandlungsraum nebst Verbrauchsmaterialien und Stuhlassistenz zur Verfügung.
    • Der MKG-Chirurg hatte, obwohl er dazu laut Vertrag berechtigt war, nie eigenes Personal zur Unterstützung bei seinen Behandlungen eingesetzt.
    • Die Patienten hatten typischerweise Vorkasse zu leisten, sodass das Honorarausfallrisiko real deutlich reduziert war.
    • Die Terminvereinbarung wurde zwar durch den MKG-Chirurgen selbst mit den Patienten vorgenommen. Dabei wurde aber ein klinikeigenes Online-Terminvergabesystem verwendet und bei den Absprachen mit den Patienten für Folgebehandlungen waren die Belange der Klinik in zeitlicher Hinsicht zu berücksichtigen.

     

    Nach Ansicht des LSG erfahre die (zahn-)ärztliche Tätigkeit des MKG-Chirurgen ihr Gepräge bei dieser Ausgestaltung der Abläufe durch die Ordnung der Klinik und sei damit im Rahmen der Durchführung der Behandlungsaufträge in die Klinikstrukturen eingegliedert. Damit liege ein maßgebliches Indiz für eine abhängige Beschäftigung vor.

     

    FAZIT | Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung kann man jeder Zahnärztin und jedem Zahnarzt nur dringend anraten, von den Neuerungen des Statusfeststellungsverfahrens Gebrauch zu machen und den Status seiner „freien Mitarbeiter“ im Rahmen einer sogenannten Prognoseentscheidung proaktiv feststellen zu lassen, bevor die Tätigkeit aufgenommen wird (möglich seit 01.04.2022, Details unter iww.de/zp > Abruf-Nr. 49301295). Dabei sollte man sich aus den genannten Gründen nicht auf die Vorlage des geschlossenen Kooperations-/Rahmenvertrags beschränken, sondern die voraussichtlichen Umstände der Tätigkeitsausgestaltung detailliert darstellen. Werden relevante Umstände verschwiegen oder ändern sich diese nach der Prüfung, entfällt die Wirkung der Prognoseentscheidung.

     
    Quelle: Ausgabe 04 / 2023 | Seite 2 | ID 49197043