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  • 01.10.2006 | Unfallschadensregulierung

    Besonderheiten beim Motorradunfall

    von VRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf

    Unfälle mit Motorrädern sind „sehr variantenreich und von vielen Parametern beeinflusst“, so der DEKRA-Befund. Auch in haftungsrechtlicher Hinsicht sind vielfältige Besonderheiten zu beachten, vom Haftungsgrund bis hin zur Abrechnung von Einzelpositionen. Einschlägige Informationen, die Sie in Handbüchern und Kommentaren, wenn überhaupt, nur verstreut finden, erhalten Sie hier kurz und knapp auf einen Blick.  

     

    Checkliste I: Sonderfragen der Unfallrekonstruktion
    1. Geschwindigkeitsermittlung: Vom Ansatz her wird die Ausgangsgeschwindigkeit nicht anders als bei einem Pkw ermittelt. Zu beachten sind jedoch folgende Besonderheiten:

     

    • Bremsen/Verzögerung: Die meisten Motorräder verfügen über zwei getrennt voneinander zu betätigende Bremsen. Mit ABS sind nur ca. 5 bis 10 % ausgestattet. Bremsverzögerung: bei trockener Fahrbahn 5,5 bis 7,5 m/s2; Rutschverzögerung bei trockener Fahrbahn 3,5 bis 5,5 m/s2. Informativ zum Bremsverhalten Schal/Meyer, NZV 04, 14.
    • Weitere Parameter: Wurf- und Flugweite, Beschädigungsbild Krad. Näheres dazu findet man in der Spezialliteratur (Nachw. bei Leser in Himmelreich/Halm, Handbuch des Fachanwalts Verkehrsrecht).

     

    2. Vermeidbarkeitsanalyse: Wichtig ist Folgendes:

     

    • Gefahrerkennungspunkt: Wo der Kradfahrer tatsächlich reagiert hat, ist eine Sachverständigenfrage, wo er hat reagieren müssen, ist eine Rechtsfrage. Nur selten wird insoweit eine Vorgabe gemacht. Gutachter legen den Punkt von sich aus fest, was zu überprüfen ist.

     

    • Vollbremsung möglich und auch zumutbar? Häufig wird Kradfahrern angelastet, bei Erkennen der Gefahr nicht voll abgebremst zu haben; bei der gebotenen Vollbremsung sei der Unfall (räumlich) vermeidbar gewesen (z.B. OLG München DAR 90, 340). Richtig ist, bei der Vermeidbarkeitsbetrachtung von einer gerade noch sicher beherrschbaren Abbremsung auszugehen (OLG Düsseldorf VA 02, 56, Abruf-Nr. 020314; Schal/Meyer, NZV 04, 14). Realistisch sind Werte von 5 bis 6 m/s2.

     

    3. Beleuchtung: Nach § 17 Abs. 2a StVO müssen Krafträder auch am Tag mit Abblendlicht fahren. Ob Licht eingeschaltet war, kann durch eine Untersuchung der Glühlampen geprüft werden (gilt auch für Blinklicht).

     

    4. Helmpflicht: Nach § 21a Abs. 2 StVO müssen Fahrer und Beifahrer eines Krads einen „geeigneten Schutzhelm“ (früher: amtlich genehmigter Schutzhelm) tragen. Ob der zur Unfallzeit getragene Schutzhelm vorschriftsmäßig ist (zur Neuregelung ab 1.1.06 s. VA 06, 89) und auch ordnungsgemäß angelegt war, sind Themen für einen Sachverständigen.
     

    Checkliste II: Haftungsgrund/Mithaftung
    1. Gefährdungshaftung: Nach § 7 Abs. 1 StVG haftet der Halter, nach § 18 Abs. 1 StVG der Fahrer für einen Schaden, der „bei dem Betrieb“ des Motorrades entstanden ist. Näheres zum Merkmal „bei dem Betrieb“ in VA 05, 45 ff.; zum Umkippen eines geparkten Krades siehe AG Berlin-Mitte SP 05, 332; zur Fallgruppe „Unfall ohne Berührung“ siehe VA 05, 156 ff.; weitere Motorradfälle OLG Düsseldorf NZV 06, 415; OLG München DAR 90, 340.

     

    2. Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt: Nach § 7 Abs. 2 StVG ist die Ersatzpflicht des Motorrad-Halters gegenüber Fußgängern und Radfahrern nur bei höherer Gewalt ausgeschlossen, praktisch also nie.

     

    3. Haftungsausschluss wegen Unabwendbarkeit: Nach § 17 Abs. 3 StVG ist die Halterhaftung gegenüber einem anderen motorisierten Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde. Aktuell dazu BGH NJW 06, 896; VersR 05, 566; OLG Koblenz NJW-RR 06, 94. Zum „idealen“ Kradfahrer siehe BGH NJW 85, 490; OLG Koblenz 28.4.06, 12 U 61/05, Abruf-Nr. 062623 (Unabwendbarkeit bejaht !). Praktisch gelingt der Entlastungsbeweis höchst selten, weil meist irgendein relevanter Punkt zu Lasten des Kradfahrers ungeklärt bleibt.

     

    4. Entlastungsbeweis des Nur-Fahrers: Nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG kann sich der Fahrer (der kein Halter ist) von seiner Ersatzpflicht befreien, wenn er seine Schuldlosigkeit nachweist. Es gilt der Maßstab des § 276 BGB, nicht der des § 17 Abs. 3 StVG.

     

    5. Erhöhte Betriebsgefahr wegen bauartbedingter Instabilität? Für sich allein nicht, so OLG Saarbrücken MDR 05, 1287; anders i.V.m. mit Geschwindigkeitsüberschreitung (BGH NJW 94, 2829) und/oder Abbremsen mit Sturz (LG Dresden DAR 06, 214).

     

    6. Mithaftung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Zur Ermittlung s. Checkliste I; zur Kausalität grdl. BGH NJW 03, 1929 (sehr wichtiges Urteil). Zum Einwand, auch bei zulässigem Tempo gestürzt zu sein (Berufung auf rechtmäßiges Alternativverhalten), siehe BGH 5.10.04, VI ZR 348/03, Abruf-Nr. 062624, n.v.

     

    7. Mithaftung wegen Verstoßes gegen die Helmpflicht: Ausführlich dazu VA 06, 60 ff.; siehe auch OLG Hamm OLGR 01, 327 – Regentropfen auf Sichtscheibe des Visiers. Bei Unfallverletzungen, die bei Schutzkleidung vermieden worden wären, kommt eine Anspruchskürzung in Frage (AG Hannover zfs 96, 445).

     

    8. Mithaftung wegen Fahrens ohne Licht: Verstöße von Kradfahrern gegen § 17 StVO spielen in der Praxis eine große Rolle. Bei einem Beleuchtungsverstoß spricht der Anschein für eine Unfallursächlichkeit (BGH NJW 05, 1351; auch zur Haftungsverteilung).

     

    9. Mithaftung wegen vorschriftswidriger Ausrüstung: Fehlen des linken Außenspiegels (OLG Hamm NZV 95, 194).

     

    10. Mithaftung wegen Alkohols: zur Berücksichtigung bei Verkehrsunfällen grdl. BGH NJW 95, 1029; siehe auch OLG Düsseldorf 12.12.05, I-1 U 92/05, Abruf-Nr. 062625 (Rollerfahrer mit 1, 32 Vol.-%).
     

    Checkliste III: Haftungsquoten in typischen Fällen

    Unfall im Begegnungsverkehr  

    Quote pro Krad  

    Sachverhalt  

    Fundstelle  

    100 %  

    2 Kräder kamen 2 Pkw entgegen; Pkw 1 überholt vorschriftswidrig, Krad 1 muss ausweichen, Krad 2 (Kl.) kollidiert mit Pkw 2 (Bekl.); Unabwendbarkeit für Kl. bejaht  

    OLG Koblenz 28.4.06, 12 U 61/05, Abruf-Nr. 062623 

    100 %  

    Pkw will innerorts nach li. in eine Grundstückszufahrt einbiegen, entgegenkommender Kradfahrer stürzt ohne vorherigen Kontakt mit Pkw  

    OLG Düsseldorf NZV 06, 415  

    80 %  

    Kollision zw. Krad und in Grundstückseinfahrt abbiegenden Pkw innerorts bei Dunkelheit  

    OLG Hamm r+s 02, 412  

    75 %  

    innerörtliche Kollision zw. Krad (Verstoß gegen Rechtsfahrgebot) und li. abbiegendem Pkw  

    LG Dresden DAR 06, 214  

    70 %  

    Krad und Pkw kollidieren infolge Fahrbahnverengung; Krad war bevorrechtigt, aber Verstoß gegen § 2 II StVO  

    OLG Düsseldorf 22.9.03, 1 U 230/02, Abruf-Nr. 062626 

    2/3  

    Krad fuhr mind. 120 statt 100 km/h; Pkw als Linksabbieger  

    BGH NJW 03, 1929 

    1/3  

    Streifkollision zw. Krad (Überholer) und Pkw  

    OLG Hamm zfs 00, 243  

    30 %  

    Linksabbieger (Pkw) kollidiert mit Krad, das um 60 % zu schnell war  

    AG Jülich SP 05, 118  

    null  

    Krad kollidiert in Rechtskurve frontal mit Pkw; Anstoßstelle ca. 1 m li. der Fahrbahnmitte auf Gegenfahrbahn  

    OLG Düsseldorf 6.3.06, I-1 U 171/05, Abruf-Nr. 062627 

     

     

    Unfall mit Vorfahrtverletzung  

    pro Krad  

    Sachverhalt  

    Fundstelle  

    75 %  

    Krad befährt mit mind. 75 km/h Landstraße (kurvig,Wald); Bekl. fährt nach li. aus Grundstück auf (dem Kl. entgegen); kein Verschulden eines Beteiligten, nur Betriebsgefahren  

    OLG Düsseldorf 14.8.06, I-1 U 224/05, Abruf-Nr. 062628 

    2/3  

    Pkw war von Parkplatz nach li. aufgefahren, Krad kam entgegen, keine Berührung  

    OLG München DAR 90, 340  

    2/3  

    Kollision zw. Grundstücksausfahrer (Pkw) und kolonnenüberholendem Krad  

    KG NZV 96, 365  

    50 %  

    Krad fuhr innerorts mind. 73 km/h (statt 50 km/h); Kollision mit Grundstücksausfahrer (Pkw)  

    OLG Düsseldorf 25.6.01, 1 U 198/00, Abruf-Nr. 062629 

    25 %  

    bevorrechtigter Rollerfahrer fährt mit 1,32 Vol.-%, kein Licht, Kollision mit Pkw; keine nachgewiesene Vorfahrtverletzung  

    OLG Düsseldorf 12.12.05, I-1 U 92/05, Abruf-Nr. 062625 

    0 %  

    Kollision zw. (zu schnellem) Krad und wartepflichtigem Lkw bei Unabwendbarkeit für Lkw-Fahrer  

    LG Darmstadt zfs 03, 540  

     

     

    Unfall beim Überholen  

    pro Krad  

    Sachverhalt  

    Fundstelle  

    100 %  

    Krad war schon auf Überholspur, als vorausfahrender Pkw zum Überholen ausschert  

    OLG Celle 25.4.02, 14 U 183/01, Abruf-Nr. 062630 

    1/3  

    Krad will im Überholverbot (außer Traktor) Gespann überholen, das an Traktor vorbei will  

    OLG Düsseldorf DAR 05, 217  

    20 %  

    Krad überholt auf BAB Lkw unter Verstoß gegen §§ 5 IV, 7 V StVO; Kollision mit nachfolgendem Pkw (190 km/h)  

    OLG Hamm NZV 95, 194  

    0 %  

    Überholen bei unklarer Verkehrslage; Kradfahrer fuhr ohne Fahrerlaubnis, was als haftungserhöhend gewertet wurde (zw.).  

    OLG Koblenz 17.1.05, 12 U 193/04, Abruf-Nr. 052871 

     

     

    Unfall zwischen Abbieger und überholendem Krad  

    pro Krad  

    Sachverhalt  

    Fundstelle  

    100 %  

    Pkw biegt nach li. in Grundstück ab, Kollision mit Krad  

    OLG Hamm OLGR 96, 97  

    100 %  

    Pkw biegt nach li. ab (Verstoß gegen § 9 I StVO), Krad nur reine Betriebsgefahr  

    OLG Nürnberg NZV 03, 89  

    50 %  

    Pkw nach re. in Garageneinfahrt, Roller re. Überholen, beiderseitiges Verschulden  

    OLG Saarbrücken OLGR 03, 108  

    20 %  

    Pkw will nach li. abbiegen, Krad (in Kolonne) überholt bei unklarer Verkehrslage  

    OLG Köln 28.1.03, 3 U 85/02, Abruf-Nr. 052874 

     

     

    Quelle: Ausgabe 10 / 2006 | Seite 170 | ID 91066