08.01.2010
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 14.07.2004 – 13 K 7/03
Ein volljähriges, an einer chronischen paranoiden Schizophrenie leidendes Kind mit einem Grad der Behinderung von 60 v.H. kann unter Berücksichtigung der Gesamtumstände auch dann i. S. von § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG wegen seiner seelischen Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten, wenn es sich im Streitjahr noch der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt und Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bezogen hat (im Streitfall: Erfordernis der Betreuung und wiederholter stationärer psychiatrischer Behandlungen; laut neurologisch-psychiatrischem Gutachten chronische paranoid-halluzinatorische Psychose mit schwerem Persönlichkeitswandel bei schwerster Kontaktstörung, sozialer Isolation, Verwahrlosungstendenzen, Unterernährung und realitätsfernem, von Angst und vermeintlicher Bedrohung bestimmten Verhalten).
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Finanzrechtsstreit
wegen Kindergeld
hat der 13. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg ohne mündliche Verhandlung am 14. Juli 2004 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht …, Richterin am Verwaltungsgericht …, ehrenamtliche Richter … und …
für Recht erkannt:
Der Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 14. Dezember 2001 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2002 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klage betrifft die Frage, ob ein an einer chronischen paranoiden Schizophrenie leidendes Kind mit einem Grad der Behinderung von 60 v.H. im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wegen seiner seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, obwohl es sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt und Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bezogen hat.
Dem Kläger wurde von der Familienkasse der Beklagten ab Januar 2001 für seinen Sohn S, geb. …1977, Kindergeld wiederbewilligt, weil sich S in Ausbildung zum Forstwirt befand. Mit Bescheid vom 14. Dezember 2001 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2002 mit der Begründung auf, das Kind werde im nächsten Jahr Einkünfte und Bezüge erhalten, die den Grenzbetrag überstiegen. Hiergegen erhob der Kläger Einspruch und trug unter Vorlage einer Bescheinigung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 18. Dezember 2001 vor, das Ausbildungsverhältnis seines Sohnes sei mit Wirkung vom 5. Oktober 2001 aufgelöst worden. Sein Sohn sei auf Grund seelischer Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. Er sei seit 20. Oktober 2001 arbeitslos gemeldet und erhalte Lohnersatzleistungen. S habe sich zwar um eine weitere Ausbildung bemüht, er werde aber keine Firma finden, die das Rückfallrisiko trage. In der ärztlichen Bescheinigung heißt es, S habe das Arbeitsverhältnis krankheitsbedingt gekündigt. Auf Grund der Art der Erkrankung sei eine Fortsetzung der Tätigkeit nicht möglich gewesen.
Mit Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2002 wies die Beklagte den Einspruch des Klägers als teilweise unbegründet zurück. Dem Einspruch wurde abgeholfen, soweit die Kindergeldfestsetzung für die Monate bis April 2002 aufgehoben worden war. Insoweit seien eigene Bemühungen des Kindes um eine Ausbildungsplatz nachgewiesen. Über diesem Monat hinaus seien weder eigene Bemühungen zur Erlangung eines Ausbildungsplatzes glaubhaft gemacht worden noch sei eine Meldung bei der Berufsberatung erfolgt. Ob eine Behinderung im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorliege, habe nicht festgestellt werden können. Das Kind sei von ihrem Ärztlichen Dienst untersucht worden. Der erforderlichen Zusatzbegutachtung am 21. November 2002 habe sich das Kind jedoch nicht unterzogen.
Die Krankheitsgeschichte des Sohnes des Klägers S stellt sich nach den Protokollen der Berufsberatung der Beklagten ab 1997 und den im Klageverfahren vorgelegten Unterlagen, insbesondere den psychiatrischen Gutachten, wie folgt dar:
Im Herbst 1996 kam es in der Schule zu einer Psychose, die zu einem Klinikaufenthalt und zu einem Aufenthalt in der Psychiatrie in … bis Dezember 1996 führte. Dort sei zunächst eine sog. Cannabis-Psychose vermutet worden. Da weiterhin Anzeichen für eine psychische Störung vorlagen (Fehlzeiten in der Schule, Psychotherapie, Einnahme von Antidepressiva), veranlasste die Berufsberatung im April 1999 Untersuchungen durch den Ärztlichen und den Psychologischen Dienst. Das Gutachten des Psychologischen Dienstes kam zu dem Schluss, dass eine betriebliche Ausbildung nicht verfolgt werden solle. Es seien beruflich-rehabilitative Maßnahmen angezeigt. Die Begutachtung des Ärztlichen Dienstes ergab eine Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden täglich; S sei für länger als sechs Monate nicht leistungsfähig (Untersuchung vom 9. September 1999). Auf eine erneute ärztliche Untersuchung am 6. Dezember 1999 wurde S Schulungsfähigkeit bescheinigt. Ein Drogenmissbrauch sei nicht mehr nachzuweisen, in der Rehaeinrichtung solle therapeutisch gearbeitet werden. Rehamaßnahmen wurden von S in der Folgezeit jedoch abgelehnt. Auch Termine zu ärztlichen Untersuchungen nahm er nicht wahr.
Im Januar 2003 stellten der Kläger und seine Frau einen Betreuungsantrag für ihren Sohn. Auf Veranlassung des Amtsgerichts – Vormundschaftsgericht – wurde S am 29. April 2003 – zwangsweise – dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. vorgestellt. In seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 2. Mai 2003 bescheinigt er S eine chronische paranoid-halluzinatorische Psychose mit schwerem Persönlichkeitswandel. In der Beurteilung heißt es, bei dem jetzt 25-jährigen, deutlich unterernährten und mietfrei im Haus seiner Eltern wohnenden, sich selbst nur notdürftig versorgenden Patienten mit abgebrochener Gymnasiallaufbahn, abgeschlossener Handelsschule und abgebrochener Forstwirtschaftslehre bestehe seit 1996 eine offenbar prozesshaft verlaufende paranoide und wohl auch halluzinatorische Schizophrenie mit typischem Leistungsknick, schwerster Kontaktstörung, jahrelanger völliger sozialer Isolation, Verwahrlosungstendenzen, deutlicher Unterernährung und völlig realitätsfernem, ausschließlich von Angst und vermeintlicher Bedrohung bestimmtem Verhalten. Typischerweise zeige der Patient auch keinerlei Krankheitseinsicht, sodass keine Behandlungsbereitschaft bestehe. Ohne durchgreifende psychiatrische und psychopharmakologische Behandlung sei es nur eine Frage der Zeit, wann es zu gravierenden Suizid- und/oder fremdaggressiven Handlungen komme. Auf jeden Fall sei der Patient auf Grund seines gesundheits- und sozialruinierenden Verhaltens hochgradig existenziell gefährdet. Abschließend empfiehlt der Gutachter eine Zwangsbetreuung und eine stationäre Unterbringung.
Mit Beschluss des Amtsgerichts – Vormundschaftsgericht – vom 9. Mai 2003 wurde die vorläufige Unterbringung S im Zentrum für Psychiatrie, … bis zum 30. Juni 2003 angeordnet.
In einer ärztlichen Bescheinigung des Zentrums für Psychiatrie, …, vom 22. August 2003 heißt es, der Sohn des Klägers habe sich zur Behandlung einer seit Jahren bekannten paranoiden Schizophrenie mit chronischer Verlaufsform vom 13. Mai 2003 bis zum 13. August 2003 im Zentrum für Psychiatrie, …, aufgehalten. Die vorliegenden Dokumente aus der Zeit vor der Aufnahme, der bekannte Verlauf der Erkrankung, die Aufnahmebefunde sowie der Behandlungsverlauf mit schwerer Beeinflussbarkeit der schizophrenen Symptomatik ließen aus diagnostisch-therapeutischer Sicht den eindeutigen Schluss zu, dass der Patient bereits im Spätjahr 2002 nicht mehr in der Lage gewesen sei, sich selbst zu unterhalten.
Mit Bescheid des Versorgungsamts … vom 17. Oktober 2003 wurde auf Antrag des zwischenzeitlich für S bestellten Betreuers ein Grad der Behinderung von 60 v.H. seit 5. November 2001 und die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt.
Anlässlich eines Arztbesuchs am 14. November 2003 erfolgte eine erneute Einweisung des Sohnes des Klägers in das Zentrum für Psychiatrie, ….
Mit Rentenbescheid der Landesversicherungsanstalt… (LVA) vom 14. April 2004 wurde dem Sohn des Klägers auf Antrag seines Betreuers Rente in Höhe von 473,33 Euro monatlich wegen voller Erwerbsminderung ab 1. August 2003 zuerkannt. Die Anspruchvoraussetzungen seien ab dem 17. September 2001 erfüllt. Die Rente werde vom Antragsmonat an geleistet, weil der Antrag erst nach Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats gestellt worden sei, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt gewesen seien. Die Nachzahlung für die Zeit vom 1. August 2003 bis 31. Mai 2004 werde vorläufig einbehalten, um die zunächst die bekannt gewordenen Ansprüche anderer Stellen, die im Nachzahlungszeitraum bereits Zahlungen geleistet hätten, abschließend zu klären.
Der Sohn des Klägers war nach dem Abbruch der Berufsausbildung zum Forstwirt im Oktober 2001 arbeitslos gemeldet und bezog im Jahr 2002 Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in Höhe von insg. 3.377,55 Euro und im Jahr 2003 Arbeitslosenhilfe und Krankengeld in Höhe von insg. 3.053,96 Euro. Von Januar bis Mai 2004 betrug die Arbeitslosenhilfe maximal 259,47 Euro monatlich. Ab Juni 2004 erhält der Sohn des Klägers Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von 473,33 Euro im Monat. Im Juni 2004 erfolgte zugleich die Rentennachzahlung für den Zeitraum August 2003 bis Juni 2004 in Höhe von 2.497,56 Euro (nach Abzug der Ansprüche der Krankenkasse und der Agentur für Arbeit).
Der Kläger trägt vor, zu der von der Beklagten angeordneten Zusatzuntersuchung am 21. November 2002 habe er seinen Sohn nicht bewegen können. Auf Grund seines krankhaften Zustandes sei es auch nicht denkbar, dass er eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle finden werde. Die vorgelegten Gutachten belegten eine Behinderung seines Sohnes im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dieser sei auch wegen der Behinderung außerstande, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Obwohl er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden habe, könne nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm objektiv möglich sei, sich selbst zu unterhalten. Eine Arbeitsplatzvermittlung sei auch deshalb fraglich, weil er krankheitsbedingt ohne Berufsausbildung dastehe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 14. Dezember 2001 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2002 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Sie trägt vor, auf Grund der im Gerichtsverfahren vorgelegten Gutachten dürfe davon auszugehen sein, dass bei dem Kind S eine Behinderung im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vorliege. Eine Behinderung führe jedoch nur dann zu einer Berücksichtigung bei der Kindergeldgewährung, wenn das Kind nach den Gesamtumständen des Einzelfalls wegen der Behinderung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Das Kind habe im strittigen Zeitraum Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe bezogen. Der Bezug dieser Leistungen setze voraus, dass der Arbeitslose sich in vollem Umfang der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stelle. Stehe ein Kind der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, werde davon ausgegangen, dass es ihm objektiv möglich sei, sich durch Erwerbstätigkeit selbst zu unterhalten. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit könne daher nur auf Grund der Arbeitsmarktlage gescheitert sein.
Der vorstehende Sach- und Streitstand ist den Gerichtsakten und der von der Beklagten vorgelegten Kindergeldakte entnommen.
Gründe
Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten hierauf verzichtet haben (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 14. Dezember 2001 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Dezember 2002 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Denn die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für das Kind S zu Unrecht ab Mai 2002 aufgehoben.
Dabei ist für die gerichtliche Beurteilung, ob der Bescheid, mit dem die Kindergeldfestsetzung ab Mai 2002 aufgehoben wurde, rechtswidrig und daher aufzuheben ist, die Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgebend (vgl. BFH, Urteil vom 18. November 1975 VII R 85/74, BStBl II 1976, 257; Urteil vom 4. November 1977 VI R 24/76, BStBl II 1978, 61; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 100 FGO, Stand: Februar 2002, Rn. 40, m.w.N.), weil es sich bei der Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld ab Mai 2002 um einen sog. Dauerverwaltungsakt handelt (vgl. BFH, Urteil vom 29. Januar 2003 VIII R 60/00, BFH/NV 2003, 927).
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der ab 2002 gültigen Fassung besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, neben weiteren Voraussetzungen nur dann ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Über das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld besteht kein Streit.
Vielmehr ist unstreitig, dass der Sohn des Klägers nach dem Abbruch der Berufsausbildung zum Forstwirt im Oktober 2001 arbeitslos gemeldet war und im Jahr 2002 Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe in Höhe von insg. 3.377,55 Euro und im Jahr 2003 Arbeitslosenhilfe und Krankengeld in Höhe von insg. 3.053,96 Euro bezogen hat. Die dem Sohn des Klägers zur Verfügung stehenden Mittel lagen damit schon unterhalb des Grundbedarfs für diese Jahre in Höhe von 7.188 Euro. Auch die Leistungen aus der Arbeitslosenhilfe und die Rentenbezüge des Sohnes des Klägers bis Juni 2004 liegen unterhalb des monatlichen Grundbedarfs zuzüglich behinderungsbedingtem Mehrbedarf in Höhe von zusammen 770 Euro monatlich ab 2004 (zur Berechnung vgl. BFH, Urteil vom 4. November 2003 VIII R 43/02, BFH/NV 2004, 405; Urteil vom 16. März 2004 VIII R 88/02, veröffentlicht in JURIS). Die noch im Juni 2004 erfolge Rentennachzahlung bleibt außer Betracht. Sie kann sich erst ab Juli 2004 auswirken, weil das Kindergeld gemäß § 66 Abs. 2 EStG bis zum Ende des Monats gezahlt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. Da S das 21. Lebensjahr überschritten hat, stand dem Kläger für seinen zunächst arbeitslos gemeldeten Sohn auch kein Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG zu. Das Bestehen einer Behinderung im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG bezweifelt der Beklagte nach der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft seit November 2001 und auf Grund der durch neurologischpsychiatrisches Gutachten bescheinigten, seit 1996 vorliegenden chronischen paranoidhalluzinatorischen Psychose mit schwerem Persönlichkeitswandel nicht mehr.
Der Sohn des Klägers war auch wegen seiner Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist die Frage, ob ein Kind wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen (st.Rspr., vgl. BFH, Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326; Urteil vom 28. Januar 2004 VIII R 10/03, BFH/NV 2004, 784). Nach den Hinweisen zum Einkommensteuergesetz und der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs (DA-FamEStG) kann die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis oder im Feststellungsbescheid das Merkmal „H” eingetragen ist oder der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, auf Grund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (H 180d, erster Querstrich des Amtlichen Einkommensteuerhandbuchs – EStH – 2003; DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2002, 366, 369, 398). Es handelt sich bei diesen Regelungen um eine im Interesse der Rechtsanwendungsgleichheit vorgenommene Konkretisierung des zuvor beschriebenen Grundsatzes, dass die Frage, ob die Behinderung ursächlich für das Außerstandesein des Kindes zum Selbstunterhalt ist, nach den Gesamtumständen des Einzelfalls zu beurteilen ist (vgl. BFH, Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, a.a.O.).
Danach erscheint dem Senat nicht zweifelhaft, dass der Sohn des Klägers wegen seiner Behinderung zum Selbstunterhalt außerstande war und ist. Er steht unter Betreuung und musste in der Vergangenheit wiederholt stationär psychiatrisch behandelt werden. Der Grad seiner Behinderung beträgt 60 v.H., und die diagnostizierte chronische paranoid-halluzinatorische Psychose mit schwerem Persönlichkeitswandel seit 1996 bei schwerster Kontaktstörung, sozialer Isolation, Verwahrlosungstendenzen, Unterernährung und realitätsfernem, von Angst und vermeintlicher Bedrohung bestimmten Verhalten lassen eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheinen.
Der Schlussfolgerung der Beklagten, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit könne vorliegend nur auf Grund der Arbeitsmarktlage gescheitert sein, weil der Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe voraussetze, dass der Arbeitslose sich in vollem Umfang der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stelle, vermag der Senat nicht zu folgen.
Nach § 117 Abs. 1 und § 190 Abs. 1 Nr. 1, § 198 Satz 2 Nr. 1 des Sozialgesetzbuchs – Drittes Buch – (SGB III) hat Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe nur, wer u.a. arbeitslos ist und sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat. Zu den Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit zählt nach § 118 Abs. 1 Nr. 2 SGB III die Beschäftigungssuche. Eine Beschäftigung sucht nach § 119 Abs. 1 SGB III, wer alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, um seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden und den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht. Merkmale der Verfügbarkeit sind die Arbeitsfähigkeit und die ihr entsprechende Arbeitsbereitschaft (§ 119 Abs. 2 SGB III). Arbeitsfähig ist ein Arbeitsloser u.a. dann, wenn er eine Versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben kann und darf (§ 119 Abs. 3 Nr. 1 SGB III). Diese Anspruchsvoraussetzungen hat die Beklagte im Verfahren der Bewilligung von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe für den Sohn des Klägers geprüft und bejaht.
Daraus ergibt sich für das vorliegende Verfahren jedoch keine Bindungswirkung in dem Sinne, dass aus der festgestellten Arbeitsfähigkeit als Voraussetzung für die Arbeitslosigkeit und den Bezug von Arbeitslosengeld und -hilfe nun nur der Schluss gezogen werden könnte, dass die Erwerbslosigkeit des Sohnes des Klägers zwangsläufig auf die allgemeine Lage auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen ist. Denn eine nachweislich schwerbehinderte Person kann sowohl wegen ihrer Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt arbeitslos und damit außerstande sein, sich selbst zu unterhalten (vgl. BFH, Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, a.a.O.). Für die hier zu entscheidende Frage, ob der Sohn des Klägers wegen seiner Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten, ist § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG seiner Funktion entsprechend, die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern zu bewirken, eigenständig auszulegen und anzuwenden (vgl. BFH, Urteile vom 19. August 2002 VIII R 17/02, VIII R 51/01 und VIII R 66/01, BStBl II 2003, 88 und 91 sowie BFH/NV 2003, 449; Urteile vom 14. Oktober 2002 VIII R 55/01, VIII R 60/01 und VIII R 70/01, BFH/NV 2003, 308, 310 und 311; Urteil vom 26. August 2003 VIII R 58/99, a.a.O.). Dabei kommt der Entscheidung der Beklagten, dem behinderten Kind Arbeitslosengeld und später Arbeitslosenhilfe zu bewilligen zwar Indizwirkung zu. Da aber wie dargelegt das Gesamtbild der Verhältnisse ausschlaggebend ist, sind auch die weiteren bekannt gewordenen Umstände in Betracht zu ziehen. Dazu gehört etwa der Rentenbescheid der LVA vom 14. April 2004, ausweislich dessen beim Sohn des Klägers seit September 2001 die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung erfüllt sind. In der Zusammenschau mit dem gutachterlich geschilderten Krankheitsbild und der dargestellten Krankheitsgeschichte ergibt sich ein Gesamtbild der Verhältnisse, nach dem zur Überzeugung des Senats eine Erwerbstätigkeit des Sohnes des Klägers für den streitigen Zeitraum ab Mai 2002 wegen des Ausmaßes der seelischen Behinderung und den gravierenden Auswirkungen der Erkrankung auf die Handlungs- und Leistungsfähigkeit des Kindes unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).